Retroland (eBook)
224 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490693-5 (ISBN)
Valentin Groebner, geboren 1962 in Wien, lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Er war u.a. Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg sowie am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und Professeur invité an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er ist der Autor zahlreicher Bücher zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte; seit 2017 ist er Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschienen von ihm die Bände ?Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine? und ?Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach den Authentischen?.
Valentin Groebner, geboren 1962 in Wien, lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Er war u.a. Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg sowie am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und Professeur invité an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er ist der Autor zahlreicher Bücher zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte; seit 2017 ist er Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschienen von ihm die Bände ›Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine‹ und ›Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach den Authentischen‹.
Valentin Groebner weiß, warum wir auf Reisen verlorene Paradiese suchen, warum das nie funktionieren kann und was Geranien damit zu tun haben.
ein so klug wie anschaulich erzählter Essay über eine epidemische Verwirbelung von Zeit und Raum.
Valentin Groebner zeigt anhand eigener Reisen, wie der Tourismus funktioniert, wie er uns Authentizität vorgaukelt. Seine Berichte durchaus persönlich gefärbt und mit witzigen Anekdoten unterlegt.
In ›Retroland‹ verändert Valentin Groebner auf luzide Weise die Perspektive auf das, was uns historisch umgibt.
Groebners ›Retroland‹ punktet, weil er sich in seiner anekdotischen Anschaulichkeit nicht von dem ausnimmt, was er analysiert - und weil er Klugheit mit Witz paart
scharfsinnig und stilistisch ein Genuss.
ein ungemein ehrliches Buch
Mit scharfzüngigem Sprachwitz, persönlichen Anekdoten und viel fundiertem historischen Wissen gibt Groebner etliche Beispiele [...] eine vergnügliche Lektüre
Erinnerungsorte des Gefühls
Goltzstraße, Berlin-Schöneberg: Hier findet man Geschäfte für besonders feine Schokolade, für besonders feinen Biowein und besonders geschmackvolle Secondhand-Kleider. Ein paar Schritte weiter: »Das Alte Büro« (Adjektiv großgeschrieben – ein Laden für Büroeinrichtungen aus den 1930ern bis 1970ern), und die »Berliner Geschichtswerkstatt e.V.« – für besonders authentische und bodenständige Geschichte? Direkt nebenan befindet sich ein Reisebüro: Es bietet offensichtlich besonders empfindsame und literarisch wirkungsstarke Reisen an, denn es ist nach dem britischen Schriftsteller Bruce Chatwin benannt.
Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde den Historikern klar, dass sich die Art, wie Bilder, Ursprungserzählungen und Monumente aus der Vergangenheit in der Gegenwart praktisch genutzt wurden, zu verändern begonnen hatte – langsam, aber unwiderruflich. Wenn von Geschichte – oder noch stärker: »unserer Geschichte« – die Rede war, ging es nicht mehr um die alten nationalstaatlichen, parteipolitischen und religiösen Identifikationen, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts das Reden über Herkunft dominiert hatten, sondern um neue Dienstleistungssektoren. Geschichte war immer weniger ein moralisches Pflichtenheft und Exempel für kollektive Zugehörigkeit, sondern ein Materialreservoir für mitreißende Geschichten und private Erlebnisse.[11] Damit erschienen neue Formen von Identifikationsangeboten und emotional aufgeladenen Inszenierungen der Welten von früher. Historische Erinnerung und soziales Gedächtnis, so wurde deutlich, waren höchst bewegliche Aggregate und dauernd im Umbau.
Diese Diagnose wurde von manchen Wissenschaftlern in Deutschland mit optimistischen Einschätzungen verbunden. Von der »Pluralisierung« und der Vielsprachigkeit der Geschichtserzählungen war viel die Rede, von der Überwindung der engen nationalen und konfessionellen Zugehörigkeiten. Andere sahen das düsterer. Die kritische wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit, warnten deswegen die Autoren der bereits erwähnten »Manifestos for History«, drohe, von der Unterhaltungsindustrie, die das historische Material für ihre Zwecke plündere und verkitsche, und den Simulationen digitaler Welten aufgelöst zu werden.[12] Sehr viel pragmatischer (»Was sollen wir tun, um unsere Besucher bei Laune zu halten?«) wurden diese Phänomene in der Literatur zur Geschichtsvermittlung und zur Präsentation von Geschichte in Museen und Gedenkstätten diskutiert, gewöhnlich unter den Schlagworten der »living history« und des Re-enactments.[13]
Die akademische Geschichtswissenschaft im deutschen Sprachraum hat die vielfältigen Formen, in denen Geschichte für ein breites Publikum aufbereitet und ausgeschlachtet wurde, lange ignoriert. Das änderte sich an der Wende zum 21. Jahrhundert gründlich: Opern, Filme und Kinderbücher wurden jetzt auf ihre Beziehungen zu Erinnerungspolitik und Geschichtsbildern hin ebenso befragt und untersucht wie TV-Serien, Comics und Computerspiele. Vom Tourismus wollte die Erinnerungsgeschichte lange nichts wissen. In den großen Synthesen zur Geschichtskultur sucht man Hinweise auf Tourismus in seinen verschiedenen Formen vergeblich.[14] Bei den Theoretikern historischen Erzählens erschienen Romane und Träume, Fotografie und Kinofilme als Medien der Vorstellung und Darstellung von Geschichte, aber keine Touristen, obwohl die Geschichte des Reisens von der »Grand Tour« bis zum Pauschaltourismus der 1970er Jahre eingehend erforscht worden war. Auch in den kritischen Analysen nationaler Vergangenheitskonstruktionen kam der Fremdenverkehr nicht vor.[15] Wenn sich Historiker mit der Vergegenwärtigung der Vergangenheit beschäftigten, war Tourismus sehr lange kein Thema – zu alltäglich, kommerziell und banal.
Auf den zweiten Blick aber ist der Tourismus in der gelehrten Analyse der Geschichtskultur nicht völlig abwesend, sondern durchaus präsent: als unscharfe, aber negative Kontrastfolie. In seinem Essay über den Erinnerungsort Oberammergau zitiert etwa Etienne François einen 1980 erschienenen Zeitungsartikel als Beleg für die jahrhundertealte Identifikation der Bevölkerung mit dem Passionsspiel: »Wäre dieses Passionsspiel nur ein Produkt des Zynismus und der touristischen Interessen«, so der Journalist, »und nicht auch ein vielleicht absonderliches Dokument des Glaubens – so kämen bald auch keine Touristen mehr.« Und im Artikel über Verdun in der französischen Ausgabe der »Lieux de mémoire« dient die halbe Million Touristen, die heute jährlich die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs besuche, dem Autor als Beleg dafür, dass nach dem Versterben der überlebenden Veteranen das Gedächtnis nun kommerziell organisiert werden müsse. »Und so tritt die Historie an die Stelle eines intensiven Gefühls.«[16]
Haben Touristen keine intensiven Gefühle? Der französische Historiker Marc Bloch hat am Beginn der 1940er Jahre in seiner »Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers« geschildert, wie er Jahrzehnte zuvor seinen berühmten Mediävistenkollegen Henri Pirenne auf eine Tagung nach Stockholm begleitete. Kaum angekommen, habe Pirenne gefragt: »Was sehen wir uns als erstes an? Angeblich gibt es hier ein sehenswertes neu erbautes Rathaus. Fangen wir damit an.« Und als wolle er dem Erstaunen seines Freundes zuvorkommen, so Bloch, habe er hinzugefügt: »Wenn ich Antiquitätenhändler wäre, hätte ich nur Augen für die alten Sachen. Aber ich bin Historiker. Deswegen liebe ich das Leben.«[17]
Das Stockholmer Rathaus, das die beiden Mediävisten besichtigen wollten, ist auch heute eine Touristenattraktion. Es wurde 1923 fertiggestellt; ein monumentales Backsteingebäude mit großem Turm im Stil der funktionalistischen Moderne. Das Gebäude sollte an ein 1697 zerstörtes königliches Schloss erinnern und mit seinem überwölbten Bürgerhof und den mit Mosaiken geschmückten Hallen gleichzeitig an Venedig, schrieb sein Architekt Ragner Östberg. Der »Goldene Saal« wurde ausdrücklich nach byzantinischen Vorbildern dekoriert. Eine besondere Attraktion ist bis heute eines der Tore, das Huvudportal: Die schwarzen Eichenbalken, aus denen es besteht, stammen vom Wrack des im 17. Jahrhundert gesunkenen Flaggschiffs »Riksäpplet« (Reichsapfel), das dafür 1921 in 15 Metern Tiefe gesprengt worden war.
Die Gegenwärtigkeit, die diese Sehenswürdigkeit für Henri Pirenne verkörpert hat, war sehr modern, aber aus ehrwürdig alten Versatzstücken zusammengesetzt. Dazu kann man natürlich »Leben« sagen, wie Pirenne es in Blochs Erinnerung tut, aber »Wiederbelebung« wäre mindestens ebenso passend. Wenn ein Ort zum Erinnerungsort wird, geht es immer um eine solche Verwandlung. Er wird damit ins Futur II verschoben: Er muss nicht nur von der Vergangenheit künden, sondern auch Informationen darüber enthalten, was ihn in Zukunft zum historischen Ort gemacht haben wird.
Das Monument kündet also von etwas, das einmal da war, dann verschwunden, aber jetzt für den Betrachter wieder sichtbar gemacht worden ist. In Anlehnung an Walter Benjamins Bild vom Strudel des Historischen könnte man hier von einem kleinen Zeitstrudel sprechen – aber Strudel nicht verstanden als Wirbel, in dem die Strömung sich um sich selbst dreht und fortwährend einsaugt und ausspeit, sondern als Süßspeise: übereinandergelegte Vergangenheiten verschiedener Herkunft, aufgerollt und dann in einem einzigen gut dekorierten Objekt konzentriert. Mit Puderzucker.
Solche Zeitstrudel sind relativ häufig. In Heidelberg kann man deswegen heute ein 1976 erbautes Parkhaus besichtigen, auf dem eine Tafel verkündet, hier habe sich die Wohnung des Philosophieprofessors Georg Wilhelm Friedrich Hegel befunden. Neben der Lieferanteneinfahrt eines Einkaufszentrums in der Münchner Innenstadt informiert eine ähnliche Bronzetafel, dass hier 1864 der Komponist Richard Strauss geboren worden sei. In der Furrengasse in Luzern, einer schmalen Gasse mit Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert, verspricht ein chinesisches Restaurant »exclusive Asian dining«. Daneben ist in Stuck an der Fassade die Jahreszahl 1734 sichtbar. Über dem Eingang prangt eine große Messingtafel: »Stammlokal Richard Wagners« – der wohnte von 1866 an fünf Jahre bei Luzern.
Besichtigt werden können so mehrere Zeitebenen gleichzeitig: Das macht die Konzentration, denn das süße Dessert Strudel ist ja nie sehr groß. Die Vergangenheit, das unübersichtliche, weitläufige und auf immer unbetretbare Land, kann auf diese Weise an einem Ort als Geschichtsextrakt präsentiert werden. Wie das Stockholmer Rathaus 1923 seinen Besuchern die Retroaktivierung von abgebrannten Schlössern und untergegangenen Flaggschiffen ermöglicht (wohl nicht zufällig aus verschiedenen Epochen schwedischer Großmachtspolitik), so lässt sich die Präsenz, oder genauer: das einmal Dagewesen-, dann Verschwunden-, dann wieder Sichtbar-gemacht-worden-Sein berühmter Philosophen und Komponisten problemlos in urbanen Betonkisten und pittoresken Chinarestaurants beschwören....
Erscheint lt. Verlag | 22.8.2018 |
---|---|
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber |
Reisen ► Reiseberichte | |
Schlagworte | Alpen • Altstadt • Bildungs-Reisen • Erinnerung • Fremdenverkehr • Grand Hotel • Identität • Italien • Mittelalter • Notre Dame • Sacri Monti • Schweiz • Sri Lanka • Tourismus • Ursprung • Vergangenheit • Wiederaufbau Notre Dame |
ISBN-10 | 3-10-490693-9 / 3104906939 |
ISBN-13 | 978-3-10-490693-5 / 9783104906935 |
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Größe: 1,9 MB
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