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Die Angst vor den anderen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Ein Essay über Migration und Panikmache
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
140 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74888-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Angst vor den anderen -  Zygmunt Bauman
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Wenn in kurzer Zeit Hunderttausende Menschen ins Land kommen, stellt das für jede Nation eine gewaltige Herausforderung dar. Und dennoch wirkt es befremdlich, dass Migration praktisch alle anderen Themen von den Titelseiten verdrängt. Den Klimawandel. Die Ungleichheit. Zerfallende Staaten. Also die eigentlichen Ursachen der Migration. Zygmunt Bauman spricht angesichts der emotionalen Debatte von einer moralischen Panik. Und er stellt die Frage, wer von dieser Panik (oder Panikmache?) profitiert. Nicht zuletzt, so der Soziologe, populistische Politiker, die endlich klare Kante zeigen können - zumindest solange sie nicht in der Verantwortung stehen.

Inmitten der Hysterie und der zunehmenden Xenophobie plädiert Bauman für Gelassenheit und Empathie. In einer Welt, in der Geld, Bilder und Waren frei zirkulieren und ob deren Kugelform sich die Menschen »nicht ins Unendliche zerstreuen können« (Kant), werden wir lernen müssen, mit den anderen zusammenzuleben.



<p>Zygmunt Bauman, geboren 1925 in Posen, gestorben 2017 in Leeds, lehrte zuletzt an der University of Leeds. Er gilt als einer der bedeutendsten Soziologen der Gegenwart und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Theodor- W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main (1998) und den Prinz-von-Asturien-Preis (2013).</p>

Zygmunt Bauman, geboren 1925 in Posen, gestorben 2017 in Leeds, lehrte zuletzt an der University of Leeds. Er gilt als einer der bedeutendsten Soziologen der Gegenwart und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Theodor- W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main (1998) und den Prinz-von-Asturien-Preis (2013).

2. Frei flottierende Unsicherheit auf der Suche nach einem Anker


Das Shorter Oxford English Dictionary definiert »security« (Sicherheit) als einen Zustand, in dem man »vor Gefahr geschützt oder keiner Gefahr ausgesetzt ist«, zugleich aber auch als »etwas, das sicher macht; eine Schutzeinrichtung, eine Wache, eine Wehr«. Damit gehört »security« zu jenen nicht gerade häufigen (aber auch nicht seltenen) Ausdrücken, welche eine organische – und damit ein für alle Mal besiegelte – Wahlverwandtschaft voraussetzen/andeuten/suggerieren/implizieren, die den Zustand mit den zu seiner Herstellung nötigen Mitteln verbindet (eine Einheit ähnlich jener, wie sie zum Beispiel der Ausdruck »nobility«, Adel, nahelegt). Der Zustand, auf den dieser Ausdruck verweist, wird zweifellos von den meisten Sprechern hochgradig geschätzt und zutiefst ersehnt; die positive Bewertung dieses Zustands und sein Ansehen in der Öffentlichkeit färben daher ab auf seine anerkannten Hüter oder Hersteller, auf die sich der Ausdruck gleichfalls bezieht. Die Mittel sonnen sich im Ruhm des betreffenden Zustands und teilen mit ihm den unbestreitbar wünschenswerten Charakter. Ist dies erst einmal erreicht, folgt nahezu automatisch ein völlig vorhersehbares Verhaltensmuster, auf eine Art, wie sie typisch ist für konditionierte Reflexe. Fühlen Sie sich unsicher? Dann fordern Sie mehr staatliche Sicherheitsdienste, die Sie beschützen sollen, und/oder kaufen Sie mehr Sicherheitstechnik, mit der Gefahren sich angeblich abwenden lassen. Fühlen die Menschen, von denen Sie in Ihr Amt gewählt wurden, sich nicht hinreichend sicher? Dann stellen Sie mehr Sicherheitskräfte ein und geben ihnen größere Freiheit, so vorzugehen, wie sie es für notwendig halten – so unappetitlich, abstoßend oder gar abscheulich das von ihnen gewählte Vorgehen letztlich auch sein mag. Und machen Sie überall bekannt, was Sie getan haben!

Kürzlich tauchte im öffentlichen Sprachgebrauch ein bislang unbekannter – und in gedruckten Wörterbüchern noch nicht zu findender – Ausdruck auf, der rasch Eingang in den Wortschatz von Politikern und Journalisten gefunden hat: securitization – »Versicherheitlichung«. Was dieser Neologismus erfassen und bezeichnen soll, ist die immer häufigere Subsumption von etwas, das bislang einer anderen Gruppe von Phänomenen zugeordnet wurde, unter die Kategorie der insecurity, der Unsicherheit. Nach dieser Neuklassifizierung fällt das betreffende Etwas geradezu automatisch in den Zuständigkeitsbereich und unter die Aufsicht der Sicherheitsorgane. Die beschriebene semantische Mehrdeutigkeit ist natürlich nicht die Ursache dieses Automatismus, aber sie erleichtert ihn. Konditionierte Reflexe kommen ohne langatmige Argumente und anstrengende Überzeugungarbeit aus. Die Autorität des heideggerschen »Man« oder des sartreschen »l’on« (»So macht man das, oder?«) verleiht ihnen solch eine Selbstverständlichkeit und Selbstevidenz, dass man sie praktisch nicht wahrnimmt oder gar infrage zu stellen vermag. Der konditionierte Reflex selbst entzieht sich der Reflexion – und hält sich in sicherer Distanz zu den Suchscheinwerfern der Logik. Deshalb nutzen Politiker nur zu gern die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks. Sie erleichtert ihnen ihre Aufgabe, sichert ihren Aktionen schon im Voraus verbreitete Zustimmung (wenn auch nicht die versprochenen Wirkungen) und hilft ihnen, die Wähler zu überzeugen, dass sie deren Beschwerden ernst nehmen und unverzüglich dem Mandat gemäß handeln werden, das aus diesen Beschwerden vermeintlich folgt.

Hier nur ein paar zufällig herausgegriffene Meldungen aus der letzten Zeit. Die Huffington Post berichtete kurz nach den Pariser Terroranschlägen vom November 2015:

Präsident François Hollande rief nach den Anschlägen von Paris am Freitagabend für ganz Frankreich den Ausnahmezustand aus und kündigte an, die Grenzen würden geschlossen […]. »Es ist schrecklich«, sagte er in einer kurzen Fernsehansprache nach einer von ihm einberufenen Kabinettssitzung. […] »Wir müssen sicherstellen, dass niemand hereinkommt, um Verbrechen jeglicher Art zu begehen, und wir müssen sicherstellen, dass jene, die solche Verbrechen begangen haben, festgenommen werden, falls sie versuchen, das Land zu verlassen.«12

Foreign Policy berichtete unter der nicht gerade dezenten Schlagzeile »Nach den Anschlägen von Paris: Hollande greift nach der Macht«:

Präsident François Hollande rief unmittelbar nach den Anschlägen vom 13. November den Ausnahmezustand aus. Er erlaubt es der Polizei, ohne richterlichen Beschluss Türen gewaltsam zu öffnen und Wohnungen zu durchsuchen, Versammlungen und Zusammenkünfte aufzulösen und Ausgangssperren zu verhängen. Der Erlass eröffnet auch die Möglichkeit, Soldaten auf französischen Straßen einzusetzen.13

Eingetretene Wohnungstüren; Schwärme uniformierter Polizisten, die Versammlungen auflösen und ohne Zustimmung der Bewohner in Wohnungen eindringen; Soldaten, die am helllichten Tag auf den Straßen patrouillieren – all diese und ähnliche Szenen sind ausgesprochen eindrucksvoll, wo es darum geht zu demonstrieren, dass der Staat entschlossen ist, keine halben Sachen zu machen, »die Probleme bei der Wurzel zu packen« und die Schmerzen der Unsicherheit, welche die Untertanen quälen, zu lindern oder gänzlich zu zerstreuen.

Die Demonstration des Willens zu entschlossenem Handeln ist – um es mit Robert Mertons denkwürdiger begrifflichen Unterscheidung zu sagen – die manifeste Funktion solcher Szenen. Ihre latente Funktion ist indessen das genaue Gegenteil, nämlich die Förderung und Glättung des Prozesses der Versicherheitlichung jener vielfältigen ökonomischen und sozialen Beschwernisse und Sorgen, die in der Atmosphäre der Unsicherheit wachsen, welche ihrerseits aus der Schwäche und Gespaltenheit der aktuellen existenziellen Lage hervorgeht. Schließlich garantieren die oben beschriebenen Bilder eine Atmosphäre des Staatsnotstands, des vor den Toren stehenden Feindes, der Komplotte und der Verschwörungen – insgesamt also das Gefühl, das Land und damit auch unser Zuhause schwebten in tödlicher Gefahr. Die Bilder sollen »die da oben« fest in ihrer Rolle als (dem einzigen, unersetzlichen?) Schutzschild etablieren, welches das Land wie das Heim vor fürchterlichen Katastrophen zu bewahren vermag.

Die Frage, ob diese Szenen ihre manifeste Funktion realisieren konnten, ist, gelinde gesagt, müßig. Dass die Bilder ihre latente Funktion hingegen geradezu brillant erfüllt haben, steht außer Zweifel. Die Wirkung dieser Machtdemonstration des Staatsoberhaupts (und der unter seinem Kommando stehenden Sicherheitsorgane) stellte sich unverzüglich ein, die Zustimmungswerte des Amtsinhabers, der bis dahin in den Meinungsumfragen als der unbeliebteste französische Staatspräsident seit 1945 gegolten hatte, gingen steil nach oben. Kaum zwei Wochen später konnte Natalie Ilsley diesen Effekt in einer Schlagzeile unmissverständlich auf den Punkt bringen: »Nach Paris schnellt Hollandes Popularität auf den höchsten Stand seit drei Jahren«:

Am Dienstag enthüllte eine Meinungsumfrage einen »beispiellosen« Anstieg der Vertrauenswerte des Präsidenten um 20 Prozent auf derzeit 35 Prozent – den höchsten Wert seit Dezember 2012. Wie die französische Tageszeitung Le Figaro berichtet, erklärten 35 Prozent der befragten Franzosen in einer Umfrage der Meinungsforschungsagentur TNS Sofres, sie hätten Vertrauen in Hollande im Hinblick auf dessen Umgang mit den Folgen der Anschläge, zu denen der Islamische Staat sich bekannt hat, ein Zuwachs um 13 Prozent gegenüber der Befragung im August […]. Auch eine weitere, von Ifop-Fiducial im Auftrag der französischen Wochenzeitschrift Paris Match und Radio Sue durchgeführte und gleichfalls am Dienstag veröffentlichte Umfrage zeigte einen dramatischen Anstieg in der Unterstützung für Hollande. In der unter 983 französischen Bürgern durchgeführten Umfrage schoss die Zustimmung für Hollande von 28 Prozent im November auf 50 Prozent im Dezember.14

Das verbreitete Gefühl existenzieller Unsicherheit ist eine harte Tatsache: ein wahrer Fluch auf unserer Gesellschaft, die sich rühmt – zumindest tun dies die politischen Führer –, den Arbeitsmarkt zunehmend zu deregulieren und die Arbeit zu »flexibilisieren« und die deshalb dafür berüchtigt ist, die wachsende Fragilität der sozialen Positionen und die Instabilität der sozial anerkannten Identitäten zu befördern und das Prekariat (eine neue soziale Kategorie, die nach Guy Standings Definition vor allem durch den Treibsand charakterisiert ist, auf dem deren Mitglieder sich notgedrungen bewegen) unaufhaltsam zu vergrößern. Anders als viele meinen, ist diese Unsicherheit nicht nur das Produkt der Politiker, die auf Stimmenfang gehen, oder der Medien, die von der Panikmache in ihren Beiträgen profitieren. Wahr ist allerdings, dass die reale, ja allzu reale Unsicherheit, die sich in der existenziellen Situation eines immer weiter wachsenden Teils der Bevölkerung verfestigt hat, Wasser auf die Mühlen der Politiker ist. Diese Labilität steht im Begriff, zu einem wichtigen – und vielleicht sogar zum wichtigsten – Material zu werden, aus dem die heutige Regierungstechnik geformt wird.

Regierungen haben kein Interesse daran, die Ängste ihrer Bürger zu besänftigen. Ihnen liegt vielmehr daran, die Angst zu schüren, die aus der Ungewissheit der Zukunft und dem ständigen, allgegenwärtigen Unsicherheitsgefühl erwächst –...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2016
Übersetzer Michael Bischoff
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Strangers at Our Door
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 1984 • AfD • Amalfi-Preis 1989 • Angela Merkel • Asyl • Balkanroute • Bürgerkrieg • CSU • Donald Trump • Europa • Flüchtlinge • Flüchtlingskrise • Frontex • Integration • Merkel • Migration • Obergrenze • Prinz-von-Asturien-Preis 2010 • Recep Tayyip Erdogan • Recep Tayyip Erdoğan • Seehofer • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • Strangers at Our Door deutsch • Syrien • Theodor-W.-Adorno-Preis 1998 • Türkei
ISBN-10 3-518-74888-2 / 3518748882
ISBN-13 978-3-518-74888-6 / 9783518748886
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