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Das Sex-ABC (eBook)

Notizen eines Sexualforschers
eBook Download: PDF | EPUB
2016 | 1. Auflage
317 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43513-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Sex-ABC -  Volkmar Sigusch
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Volkmar Sigusch, der Begründer und Doyen der deutschen Sexualmedizin, wird fast täglich um Rat gefragt: von deutschsprachigen und internationalen Medien, für die er einer der 'deutungsmächtigsten' Zeitgenossen und begehrter Gesprächspartner ist, von Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt, von Patientinnen und Patienten, Studierenden und Doktoranden. In der Form eines Lexikons bündelt dieses unkonventionelle 'Sex-ABC' Siguschs Antworten auf häufig gestellte, aber auch abgelegene Fragen zu Sexualität, Lust und Begierde. Dabei bietet es eine kurzweilige Bestandsaufnahme des Wissens über den Sex und überraschende Einblicke in die aktuelle Welt der Neosexualitäten. Ein Vademekum für anspruchsvolle Zeitgenossinnen und Zeitgenossen - wahlweise für Jackentasche oder Nachttisch. 'Sigusch gilt als einer der international wichtigsten Sexualforscher.' Der Spiegel 'Volkmar Sigusch - ein brillanter Essayist.' Süddeutsche Zeitung 'Sigusch zeigt, wie der zwischen Mystifikation und Sensation eingeklemmten Sexualwissenschaft ein Weg ins Freie geöffnet werden kann.' FAZ

Volkmar Sigusch (1940-2023), Arzt und Soziologe, war einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er - insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main (1973-2006) - national und international eine außerordentliche Wirkung. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft, außerdem war er ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch »Sexuelle Störungen und ihre Behandlung« gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie. Sigusch gehörte dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an, war einer der Gründer der International Academy of Sex Research (IASR), wurde von den führenden Fachblätter The Journal of Sex Research und Archives of Sexual Behavior als Co-Editor für Europa berufen, von der Society for the Scientific Study of Sex, New York, zum Fellow und von der Harry Benjamin Gender Dysphoria Association zum Charter Member ernannt. Nicht zuletzt war Volkmar Sigusch ein brillanter Autor und Essayist. Publikationen der letzten Jahre unter anderem: »Neosexualitäten« (2005), »Geschichte der Sexualwissenschaft« (2008), »Personenlexikon der Sexualforschung« (2009, zusammen mit Günter Grau), »Die Suche nach der sexuellen Freiheit« (2011), »Sexualitäten« (2013) und »Kritische Sexualwissenschaft« (2019).

Volkmar Sigusch (1940–2023), Arzt und Soziologe, war einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er – insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main (1973–2006) – national und international eine außerordentliche Wirkung. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft, außerdem war er ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch »Sexuelle Störungen und ihre Behandlung« gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie. Sigusch gehörte dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an, war einer der Gründer der International Academy of Sex Research (IASR), wurde von den führenden Fachblätter The Journal of Sex Research und Archives of Sexual Behavior als Co-Editor für Europa berufen, von der Society for the Scientific Study of Sex, New York, zum Fellow und von der Harry Benjamin Gender Dysphoria Association zum Charter Member ernannt. Nicht zuletzt war Volkmar Sigusch ein brillanter Autor und Essayist. Publikationen der letzten Jahre unter anderem: »Neosexualitäten« (2005), »Geschichte der Sexualwissenschaft« (2008), »Personenlexikon der Sexualforschung« (2009, zusammen mit Günter Grau), »Die Suche nach der sexuellen Freiheit« (2011), »Sexualitäten« (2013) und »Kritische Sexualwissenschaft« (2019).

VORWORT 6
A 8
B 34
C 39
D 46
E 56
F 63
G 74
H 87
I 100
J 105
K 115
L 140
M 153
N 179
O 191
P 196
Q 225
R 226
S 228
T 274
U 287
V 289
W 301
Y 307
Z 308
LITERATUR 309

Vorwort



Beinahe jeden Tag werde ich um Rat gefragt. Einmal sind es die Medien, die mich ansprechen, weltweit von Brasilien bis zur Mongolei, dann wieder Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Neue Zürcher Zeitung oder BBC, WDR, Profil und Spiegel, andermal liebe Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt, Hilfe und Therapie Suchende mit eher sehr seltenen Begierden oder Störungen und natürlich Studierende und Promovierende, die auf das Sexuelle mit vielen Fragen gestoßen sind. Natürlich habe ich selbst auch sehr viel durch die Fragen und die Vorträge der Ratsuchenden gelernt - bis ich eines Tages auf die Idee kam, meine Antworten in der Form eines ABC zusammen zu fassen.
Durch die genannten Prozesse ergab sich eine Mischung aus bereits von mir niedergelegten Forschungsergebnissen einerseits und ganz aktuellen Überlegungen zu Ereignissen wie Love-Scammer, Cougars, Sapiosexuelle, Coolidge-Effekt oder NoFap-Bewegung andererseits, nach denen mich die Kollegen oder Medien gefragt haben. Wenn mir ein Wort, ein Ereignis oder ein Phänomen interessant oder sogar wichtig schien, ließ ich mich treiben, auch wenn ich dabei manchmal das engere Gebiet der Sexualforschung verließ. So kam es zu kurzen Bemerkungen oder Definitionen oder zu etwas längeren Ergüssen. Antworte ich, wenn es sehr komplex wird, in 'Splittersätzen', dann zeigt das, dass eigentlich noch viel mehr dazu zu sagen wäre ...
Schwierig ist es, nach fünfzig Jahren Forschung, Lehre und Therapie für ein breites Publikum über das Sexuelle zu schreiben, ohne an Reflexion nachzulassen. Ich habe es versucht und hoffe sehr, Sie wird es anregen.
Nach vielen Jahren der Zusammenarbeit bin ich wieder Dr.?Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag ganz besonders dankbar für die vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Frankfurt am Main, im Sommer 2016
Volkmar Sigusch
AB
Diese Abkürzung steht bei Experten für Adult-Baby oder Adultes Babysyndrom, sexualwissenschaftlich auch Autonepiophilie genannt. Worum es geht? Ein Erwachsener ist erregt und glücklich, wenn er von seinem Partner wie ein Baby oder Kleinkind behandelt wird, also gefüttert, gewaschen, gepudert, gewickelt usw. wird, umgeben von seinen Lieblingsspielzeugen. Dem, der sich in diese Lage begibt, geht es vor allem um Gefühle wie Geborgenheit. Bei seinem Partner stehen Gefühle im Vordergrund wie sie glückliche Kleinkindeltern haben. Nicht zu verwechseln sind diese Autonepiophilen mit den Windelfetischisten, die durch das Tragen von Windeln sexuell erregt werden (? Chronophilie; Nepiophilie).
Abattage
Das Wort bedeutet im Französischen Schlachten oder Fällen und meint in der ? BDSM-Szene 'ein Sklave wird zur Verfügung gestellt'. Andere Abkürzungen und Bezeichnungen in dieser Szene sind zum Beispiel: Abduction für Entführung; AC/DC für bisexuell; AF für Algier Französisch, das meint Anilingus und das meint Analverkehr mit der Zunge; AFF für Analen Faustfick; AHF für Achsenhöhlenfick; AO für alles ohne, das heißt ohne Kondom; AT für a tergo, das heißt von hinten, oder AV für Analverkehr.

Abolitionismus
In sexualwissenschaftlichen Zusammenhängen wird von Abolitionismus (engl. abolition Abschaffung) gesprochen, wenn eine soziale Bewegung gemeint ist, die als Teil einer Frauenbewegung verlangt, die staatliche Kontrolle der ? Prostitution abzuschaffen. Ein überzeugendes Argument war bisher zum Beispiel, dass Frauen kontrolliert werden, ob sie eine Geschlechtskrankheit haben, Männer aber nicht. Dass nach dem Rückzug des Staates ein freies Hetären­wesen entstehen könnte wie im antiken Griechenland, blieb ein Traum.
Ursprünglich bezeichnete das Wort die sozialen Bewegungen in Europa, Süd- und Nordamerika, die die Abschaffung der Sklaverei verlangten. Heute werden auch Aktivitäten von Veganern, Tierschützern oder Kriminologen, die das staatliche Strafrecht samt der Gefängnisse abschaffen möchten, als abolitionistisch bezeichnet.
Abortfetischismus
Sexueller Drang von Männern, Frauen auf der Toilette beim Verrichten der Notdurft zu beobachten. Um diese Möglichkeit zu haben, verkleiden sie sich zum Beispiel als Handwerker, die etwas auf der Toilette reparieren müssen, und verschwinden dann bei passender Gelegenheit in einer Toilette, aus der heraus sie eine Frau beobachten können.
Abtreibungen
Seit 2004 sinkt die Zahl der Schwangerschaftsabtreibungen in Deutschland. Auch im Jahr 2015 sank die Zahl um 0,5 Prozent auf insgesamt rund 99200 Abbrüche laut Statistischem Bundesamt. Mit der Absaugmethode bzw. Vakuum­aspiration wurden fast zwei Drittel der Schwangerschaften beendet. Das Mittel Mifegyne wurde in knapp einem Fünftel der Fälle angewandt. Regine Wlassitschau vom Pro Familia Bundesverband wies darauf hin, dass Hilfen zur Familienplanung aus der Sozialhilfe gestrichen worden seien, was arme Frauen in heikle Lagen versetze (dpa, 10.3.2016).
Acucullus
Als Acucullus (lat. a weg und cucullus Tüte, Kapuze) wird ein Penis bezeichnet, der beschnitten ist.
Affektorgasmus
Wenn Paare dazu neigen, sich immer wieder zunächst heftig zu streiten, um dann in der Versöhnungsphase einen besonders erregenden und befriedigenden sexuellen Höhepunkt zu erreichen, wird von Affektorgasmus gesprochen.
Agalmatophilie
Agalmatophile (gr. agalma Statue sowie philie Leidenschaft) werden durch unbelebte Darstellungen von Menschen sexuell erregt, also durch Statuen, Puppen oder Gemälde. Verwandte ältere Bezeichnungen für diese Vorliebe sind Statuophilie und Pygmalionismus (? Objektophile und Pygmalionkomplex).
Agape
Die Agape (gr. Liebesmahl) meint frühchristlich eine geistliche Liebe, konkret ein Liebesmahl in Verbindung mit dem Abendmahl. Arme, Schwache und Sünder wurden eingeladen, ja sogar Feinde. Agape entspricht der römischen Caritas, soll selbstlos sein, keineswegs sinnlich wie Eros und aus moderner Sicht natürlich unsexuell. Ob das möglich ist, steht heute auf einem anderen Blatt, wenn nur daran gedacht wird, wie sehr die Hilfsbereitschaft und das Dankeschön der Armseeligen das Selbstwertgefühl verbessern kann.
Agender
Von Agender spreche ich, wenn sich eine Person keinem der in der Kultur anerkannten Geschlechter zuzuordnen vermag, insbesondere nicht weiblich oder männlich, aber auch nicht transgender oder intergender.
AIDS
Als die Erkrankung in den 1980er Jahren bei uns ausbrach, war sie in unserer Kultur beides: eine schwere Erkrankung und nichts als Blendwerk. 'Sie war ein kultureller und politischer Volltreffer, in dem sich die einzelnen Gräuel mit dem Grauen des Ganzen lärmend vermählten. In dem Phänomen AIDS sind zusammengeschossen: die latente Untergangsstimmung mit bestens bedienten Geschäftsinteressen, das Sicherheitsdenken mit dem ökologischen, der Präventivschlag mit dem Mythos vom Blut, das heidnische Aug-um-Auge der Geißeln Gottes mit der Charité, der Hass auf das Abweichende mit dem Neid auf den Glamour der Perversion, die Angst vor dem sexuell Triebhaften mit dem Liberalisierungshorror, der Rassismus mit der Sozialhygiene, der Schrecken der Verseuchung mit der momentanen Ruhe des Tests, das Selbsthilfegruppengesamttreffen mit der Ohnmacht der Medizin, die eigenen homosexuellen Regungen mit der praktizierten Homosexualität, die Schuldangst der Libertinen und Randständigen mit der Rage der Verfolger: AIDS für alle, alle für AIDS. Die doppelte Wirklichkeit von AIDS ließ die sexuelle Metaphysik stürzen. Doch es war in dieser Kultur immer ein Wagnis auf Leben und Tod, sich fallen zu lassen, die Kontrolle zu verlieren, die Normen zu brechen' (Sigusch 2005, S.?173). Alle Sexualsubjekte ahnten auch vor dem Einbruch von AIDS die riskante Nähe von Sexus und Tod, nahmen sie aber als nicht ganz von dieser Welt. Dann ist sie unverstellt Realität geworden.
Vor zehn Jahren (Sigusch 2006) habe ich in meiner damaligen Kolumne in der Frankfurter Rundschau geschrieben: 'Was mir 25 Jahre nach dem Einbruch der Krankheit Aids durch den Kopf geht? In jüngster Zeit vor allem, dass in Westdeutschland die historisch erst kurz zuvor errungene kulturelle Liberalität im Umgang mit Minderheiten und Kranken einem enormen Ansturm widerstanden hat. Das ist mir bis heute eine Freude. Unsere noch gar nicht in einem Ernstfall erprobte Liberalität hat in den achtziger Jahren standgehalten, obgleich damals von politischer Seite gegen die besonders Riskierten rassistisch gehetzt und von großen Presseorganen angstmachende Dramatisierungen aufgetischt worden sind. Trotz dieser Aufpeitschung und einer allgemeinen Hysterisierung hat die damalige Bundesregierung mehr oder weniger vernünftig reagiert. Vom Bundesgesundheitsamt könnte ich das aber nicht sagen, und zwar aus folgendem, auch persönlichem Grund.
Im Herbst 1982 starben in Frankfurt am Main drei homosexuelle Männer im Alter von 33 bis 39 Jahren. Jetzt war nicht mehr zu übersehen, dass homosexuelle Männer besonders gefährdet sind. Deshalb stellten Martin Dannecker und ich beim damaligen Bundesgesundheitsamt den Antrag, ein Forschungsprojekt des Instituts für Sexualwissenschaft zu finanzieren, dessen Ziel es war, Zusammenhänge zwischen Lebensstil, Sexualpraktiken und Ausbruch der Erkrankung aufzufinden. Damals war noch nicht bekannt, dass es sich bei Aids um eine Infektionskrankheit handelt.
Nebenbei gesagt, aber alles andere als unwichtig, vielmehr kennzeichnend für unsere nach wie vor arrogante Männerkultur: Das HI-Virus, das Aids auslöst, hat eine Frau entdeckt. Sie heißt Françoise Barré-Sinoussi und arbeitete am Pariser Pasteur-Institut. Nachzulesen in der entscheidenden Fachpublikation in Science (220, 868, 1983): Barré-Sinoussi et al., Isolation of a T-lymphotropic retrovirus from a patient at risk for Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS). Doch viele 'Experten' behaupten bis heute, der von Anfang an medial aufgeblasene US-Amerikaner Robert Gallo habe diese große Entdeckung gemacht. Als ich in den 1980er Jahren in einem Vortrag die Wahrheit erwähnte, waren alle Zuhörerinnen entsetzt. Ich musste den Namen der Entdeckerin an die Tafel schreiben, worüber die FR am nächsten Tag berichtete.
Doch zurück zu unserem Forschungsantrag. Die Antwort des Bundesgesundheitsamtes lautete: kein Bedarf. Offenbar sahen die 'Experten' keinen Zusammenhang zwischen Sexualpraktiken und dem Ausbruch der Erkrankung. Einige kluge Leute im Gesundheitsministerium haben später diesen gravierenden Fehlschluss korrigiert und uns ein Forschungsprojekt finanziert. Die Ergebnisse sind nachzulesen in Danneckers Buch Homosexuelle Männer und AIDS von 1990.
Konservative bis rechte Politiker waren inzwischen in Westdeutschland dabei, ein neues Kapitel der Homosexuellenverfolgung aufzuschlagen. Während sie den riskierten Hämophilen, den sogenannten Blutern, ihr ungeteiltes Mitleid schenkten, richteten sie ihre Ängste und ihren Hass gegen die Schwulen und die Fixer. Die seien nicht Opfer einer schrecklichen Infektionskrankheit, sondern selber schuld, ja durch ihre Lebensweise seien sie sogar die Produzenten dieser Krankheit - eine Wahnidee, die nur noch ein Gottes­urteil auffangen konnte. Gott muss also das HI-Virus vor vielen Generationen in die Erbsubstanz afrikanischer Dorfbewohner eingeschrieben haben, um es an jenem Tag auf US-amerikanische Flugbegleiter zu übertragen, an dem sie die Geduld des HERRN in Sachen Fleischeslust endgültig erschöpft hatten.
Indem Politiker damals, mit Gott oder ohne, gefangenen Drogenabhängigen Einmalspritzen verweigerten und junge Homosexuelle davon abhielten, sich beraten zu lassen und nach einem riskanten Sexualkontakt gegenüber Amtspersonen als Homosexuelle zu bekennen, nahmen sie bewusst deren Tod in Kauf. Das gilt natürlich auch für den Vatikan, der bis heute um die zahllosen Aids-Toten in Afrika trauert, das entscheidende Präventionsmittel Kondom aber verdammt. Und es gilt nach wie vor für die Pharma-Industrie und die Regierungen der reichen westlichen Länder, die für die Armen der Welt beschämend wenig tun. Bei uns besteht heute die paradoxe Gefahr, dass die Krankheit Aids übermäßig normalisiert wird. Gleichzeitig wird in den armen Ländern nach wie vor massenhaft an Aids gestorben, obwohl wir das verhindern könnten.
In Deutschland hat mich in den achtziger Jahren eine öffentliche Äußerung des bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair besonders empört. Er sagte, gegen Homosexuelle gerichtet: 'Diese Randgruppe muß ausgedünnt werden, weil sie naturwidrig ist' (SZ, 7.4.1987). Nach öffentlichen Protesten versuchte er, seine Äußerung zu ?differenzieren?. Diese ?Differenzierung? ist ein Dokument der sprachlichen Verdrehung, der intellektuellen Verknödelung und der moralischen Verkommenheit. Zehetmaier, der heute wegen seines feinen Sprachgefühls für die Rechtschreibreform zuständig ist, erläuterte schriftlich: 'daß man für Homosexualität Verständnis aufzubringen hat, auch wenn man sie, wie ich persönlich, als naturwidrig und ein im Grunde krankhaftes Verhalten ansieht. Meine Aufgabe kann und darf es nicht sein, um Verständnis für Homosexualität und damit für Randgruppen unserer Gesellschaft zu werben. Sondern sie muß vielmehr in erster Linie darin bestehen, dafür Sorge zu tragen, daß möglichst wenig junge Leute in diesen durch Aids besonders gefährdeten Randbereich hineingeraten. Wir müssen den Schutz der Vielen in der Bevölkerung als zentrales Ziel im Auge sehen und uns nicht nur darum bewegen, wer am Rand noch besser verstanden werden kann. Dieser Rand muß durch Aufklärung dünner gemacht bzw. ausgedünnt werden, denn er stellt für die Jugend keine Zukunftsperspektive dar. Nur zur Ergänzung darf ich Sie auf die Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Höffner, [...] hinweisen. Darin heißt es, daß homosexuelle Verbindungen nicht mit der Lebensform Ehe und Familie gleichzustellen seien. Sie verstießen nicht nur gegen das Grundgesetz, sondern leisteten damit auch der Verbreitung der Immunschwäche-Krankheit Aids Vorschub.' (SZ, 4.4.1987)
Folglich beschloss die bayerische Staatsregierung drakonische Maßnahmen und beschimpfte die Bundesregierung wegen ihrer ?verfehlten? Politik. Ihr Sprachrohr war längere Zeit ein gewisser Peter Gauweiler, der seine Hasstiraden 1989 unter dem Titel 'Was tun gegen Aids?' als Buch zusammenfasste. Als Oswald Kolle dieses Buch rezensierte (taz, 15.4.1989), hatte er eine deutsche Erinnerung. Er schrieb, Gauweilers Buch müsste nicht 'Was tun gegen Aids?' heißen, sondern 'Mein Kampf gegen Aids'. Dazu passen unsägliche Äußerungen eines gewissen Carl-Dieter Spranger, damals Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesinnenminister, später sieben Jahre lang Bundesminister. 'Frieden und Freiheit' seien auch im Inneren wichtig, aber da in erster Linie für die Normalen, nicht für 'perverse Minderheiten, Terroristen, Verbrecher und Randgruppen' (Erdinger Neueste Nachrichten, 20.1.1983). Solche Sätze machen aus dem, der sie sagt, noch keinen Nazi. Hellhörig aber muss man werden. Denn das Kontinuum der Barbarei endete nicht in Auschwitz.
Umso erfreulicher, dass die Verfolger ihre Politik der verbrannten Erde nicht realisieren konnten. Sie wollten Riskierte und Infizierte ein Leben lang überwachen, einsperren, 'absondern'. Sie wollten Zwangstests und Zwangstätowierungen. Sie trieben aidskranke Menschen aus dem Land, gingen über Leichen. Gegen diese Menschenverachtung sind damals vor allem die liberale Presse, die Aids-Hilfen und die Sexualforscher angetreten. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung war die erste wissenschaftliche Vereinigung, die deutlich widersprochen hat. Und die FR (7.12.1984) war die erste, die unsere Erklärung vom November 1984 'Über den allgemeinen Umgang mit AIDS' gedruckt hat. Das verbindet (vgl. auch Dannecker 1991, 2007, Sigusch und Gremliza 1986, Sigusch 1987, 1989a und b).
Zurzeit sollen weltweit 37 Millionen Männer und Frauen mit HIV infiziert sein, 65 Prozent davon seien homosexuell. Jedes Jahr sollen sich 2 Millionen neu infizieren. In Deutschland leben nach offiziösen Angaben etwa 83.400 Männer und Frauen mit HIV und AIDS. Geschätzt wird, dass 13.000 bis 14.000 nicht wüssten, dass sie infiziert sind. Für Frankfurt am Main teilte der Stadtrat Christian Setzepfand (FR, 20.11.2015, S. F5) kurz vor dem Welt-Aids-Tag, dem 1. Dezember, mit, dass in den vergangenen zwölf Monaten 60 bis 70 Einwohner an AIDS gestorben sind, darunter viele Drogenabhängige, sicher auch wegen ihres geschwächten Körpers. Die medizinische Versorgung sei aber sehr gut. Zurzeit würden etwa 6.000 Patienten betreut. Im Bundesland Hessen hätten sich im vergangenen Jahr 280 Menschen neu infiziert. In Deutschland insgesamt sollen sich 2014 etwa 3.200 Männer und Frauen neu infiziert haben, und etwa 480 sollen an AIDS gestorben sein.
Einen legalen Selbsttest auf HIV, den manfrau zu Hause durchführen kann, gibt es in den USA und jetzt auch in Frankreich und Großbritannien, nicht aber bei uns. Wer sich einen Heimtest im Internet bestellt, sollte wissen, dass der Test erst sechs bis acht Wochen nach einem ungeschützten Sexualverkehr anspricht.
Dass der Einfall des AIDS-Virus nicht zu der kulturellen und massenhaft individuellen Katastrophe geführt hat, die in den ersten Jahren zu befürchten war, verdanken wir in erster Linie nicht der Politik, sondern den Betroffenen selbst, insbesondere den Schwulen und ihren Helfern, die die AIDS-Hilfen und deren Dachverband Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) landesweit aufgebaut haben und seit Jahr und Tag den Kranken und Besorgten zur Seite stehen - ohne finanzielle, juristische oder moralinsaure Hintergedanken. Wer also wissen möchte, wann mit der HIV-Therapie begonnen werden sollte, wie wirksam die bisher in den USA mögliche Behandlung mit einem Medikament namens Truvada? ist, dass ähnlich wirksam wie Kondome eine Ansteckung mit HIV verhindern soll, was die gerade gegründete Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS e. V.) beabsichtigt, sollte sich an die AIDS-Hilfen wenden, inzwischen auch online unter aidshilfe-beratung.de sowie auf Facebook und über Twitter, wenn es um die DAH geht. Ansonsten bleibt nur der Wunsch, dass endlich begriffen wird, wie wichtig und positiv wirksam es ist, Drogenabhängigen und Prostituierten nicht mit Zwang und Verfolgung zu begegnen, sondern mit Respekt, Angeboten und Hilfe.
Alterssexualität
Seit der ? neosexuellen Revolution der letzten Jahrzehnte beginnt die Alterssexualität, heute charmant auch Silver Sex genannt, nicht mehr mit 50 oder 60 Jahren, sondern ein oder zwei Jahrzehnte später. Heute gilt sogar die Großeltern­generation nicht mehr als asexuell und wird auch nicht mehr durchgängig ihrer Erotik beraubt. Senioren und Sexualität, das passt heute zusammen. Zur Zeit der ? Sexuellen Revolution um 1968 war für die Heranwachsenden die Sexualität ihrer Eltern noch ein Tabu. Heute dagegen wird so getan, als könnten und sollten alle Omas und Opas ein üppiges Sexualleben haben, als ginge das Altwerden nicht mit Einschränkungen, Krankheiten und Verlusten einher. Doch die Scheide ist nicht mehr so geschmeidig, und der Penis ist nicht mehr so scharf wie eine Rasierklinge, sondern eher stumpf wie ein altes Küchenmesser. In einer Talkshow aber berichtete eine 79-Jährige, sie habe gerade ihr sexuelles Begehren entdeckt und ihren ersten Orgasmus erlebt. Tatsächlich ist die Scheide älterer Frauen oft trocken, doch ein Orgasmus kann sehr viel leichter erreicht werden.
Es gibt im Alter keine Sexualpause wie es bei der Frau eine Menopause gibt. Mit anderen Worten: Körperlich werden bei Mann wie Frau weder das sexuelle Verlangen noch die sexuellen Reaktionen durch den Alterungsprozess beendet. Außerdem kann eine sexuelle Betätigung ohne Stress für Körper und Seele ein Gewinn sein (? Gesundheits­gewinn). Abträglich für das Liebes- und Sexualleben der Alten sind die kulturellen Ungerechtigkeiten. Männer seien bei uns als Knaben und als graumelierte Herren schön, Frauen dagegen nur, wenn sie jung sind. Ungerecht ist auch die kulturelle Norm, nach der Frauen in Beziehungen jünger sind als Männer. Doch die ? Cougars genannten Frauen nehmen zurzeit zu, Frauen, die sich einen mindestens zehn Jahre jüngeren Partner suchen.
Empirisch gibt es nicht die Alterssexualität. Gesagt werden kann angesichts des Forschungsstandes nur, dass es bei Männern wie Frauen einen erheblichen Prozentsatz gibt, der sich mit 70 Jahren oder älter sexuell betätigt. Alles ist möglich und findet statt: Abnahme, Gleichbleiben und Zunahme der Häufigkeit sexueller Aktivitäten, Zunahme und Abnahme der sexuellen Zufriedenheit, Aufnahme neuer Praktiken oder Vorlieben wie Homosexualität, Aufgeben jeder sexuellen Betätigung usw. Empirisch belegt ist, dass die Beziehungsdauer die Koitusfrequenz stärker beeinflusst als das Alter. In allen Altersgruppen sinkt die Koitusfrequenz mit der Dauer der Beziehung. So sind alte Partner in neuen Beziehungen nicht selten sexuell aktiver als junge Partner in alten Beziehungen. Da Frauen gegenwärtig um etwa sieben Jahre älter werden als Männer, gibt es im hohen Alter einen Männermangel. Bei denen, die 70 bis 79 Jahre alt sind, kommen drei Frauen auf zwei Männer, bei denen, die 80 bis 89 Jahre alt sind, drei Frauen auf eineinhalb Männer.
Amaurophilie
Davon wird gesprochen, wenn der Partner beim Sexualverkehr blind sein muss oder wenigstens die Augen verbunden hat.
Amelos
So nennen sich die Männer und Frauen, hetero- oder homosexuell, die erregt werden durch das Fehlen (gr. a) eines Gliedes (gr. melos), also durch Stümpfe bzw. amputierte Partner. Die, die das insinuieren, werden in der Szene Pretender genannt, die, die gerne amputiert wären, heißen Wannabe. Die heutige Medizin spricht in diesen Zusammenhängen etwas kompliziert von BIID, das meint Body Integrity Identity Disorder, das heißt übersetzt Körperintegritätsidentitätsstörung.

Erscheint lt. Verlag 11.8.2016
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Geschlecht • Geschlechterforschung • Liebe • Lust • Sex • Sexualforschung • Sexualität
ISBN-10 3-593-43513-6 / 3593435136
ISBN-13 978-3-593-43513-8 / 9783593435138
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