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Kindheit im Schatten (eBook)

Wenn Eltern krank sind und Kinder stark sein müssen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
220 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-329-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kindheit im Schatten - Maja Roedenbeck
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Vera, 48, kann es nicht ertragen, sich ausgeschlossen zu fühlen. Uli, 27, bekommt Angst, wenn sich ihre Freunde nicht täglich bei ihr melden. Fridolin, 46, konnte sich lange nicht selbst im Spiegel anschauen. Jeanette, 18, wollte ihren ersten Freund sieben Monate lang nicht küssen.
Menschen, die als Kind einen kranken Elternteil hatten - körperlich, psychisch oder suchtkrank -, machen ihre schwierige Kindheit meist erst im Erwachsenenalter zum Thema. Wenn die Partnersuche erfolglos verläuft, sie auf Schwierigkeiten in Beziehungen stoßen oder beim Gründen der eigenen Familie überfordert sind. Sie schotten sich ab. Schuldgefühle, Verlustängste, Probleme im Miteinander oder Depressionen beeinträchtigen ihr Leben. Maja Roedenbeck erzählt nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern versammelt Stimmen von Betroffenen, Psychologen und Experten. Ihr Buch macht Mut, das eigene Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen.

Jahrgang 1976; Studium der Anglistik, Publizistik und Philosophie; ausgebildete Hörfunkredakteurin und -moderatorin; freie Autorin und Journalistin unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung"; verheiratet, zwei Kinder, lebt in Berlin. Bisherige Bücher: "Geschichten von der Quarterlife Crisis" (Berlin 2003) und "Du bist nicht meine erste Liebe" (Berlin 2004).

Papa braucht
ein neues Herz


Nick, damals sechs, und Luke, damals vier Jahre alt, saßen mit geputzten Zähnen an Oma gekuschelt im Bett und hörten ihre Gutenachtgeschichte, als ich aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Bis zu diesem Tag im Frühjahr 2011 hatten wir das Ausmaß der angeborenen Herzkrankheit ihres Vaters so gut es ging von ihnen ferngehalten – obwohl sie schon viel darüber wussten, das hatte sich nicht vermeiden lassen. Nun aber musste ich offen zu ihnen sein, musste sie vorbereiten auf das, was kommen könnte. »Die Engelchen sitzen auf Papas Schultern«, sagte ich einer Eingebung folgend, »und überlegen, ob sie ihn mit in den Himmel nehmen sollen.«

Ich bedauerte die Worte, sobald sie meine Lippen verlassen hatten. Bisher hatten wir großen Wert darauf gelegt, den Jungs alles ganz sachlich und detailliert zu erklären, was Papas Gesundheit anging. Aber Eltern können nicht alles richtig machen, schon gar nicht in solchen Ausnahmesituationen. Und irgendwie wirkte das Pathos beruhigend. Wenn wir schon eine so beängstigende Erfahrung machen mussten, dann hatten wir auch ein Anrecht auf Drama wie im Film. Meine Söhne schauten mich an. Schwiegen. Und dann erwiderte einer von beiden: »Und wieso dürfen eigentlich die Engelchen entscheiden, ob sie Papa mit in den Himmel nehmen, und nicht wir?« Während ich mit den Tränen und um angemessene Worte rang, verlangten sie lautstark, dass Oma die Gutenachtgeschichte weiterlese. In ihren kleinen, schlauen Köpfen war ihnen in Sekundenschnelle klar geworden, dass sie die Antwort lieber nicht hören wollten.

Heute, vier Jahre später, erinnern sie sich nicht mehr an diesen Moment. Sagen sie. Tief in ihren Herzen wird er seine Spuren hinterlassen haben. Ihr Vater ist heute 43 Jahre alt. Im Sommer 2011 schaffte er es nach einer Woche im künstlichen Koma, zwei Monaten im Krankenhaus und drei Wochen Kur noch einmal nach Hause. Wir verbrachten ein friedliches Dreivierteljahr ohne einen der akuten Notfälle zusammen, die uns in den Jahren zuvor an die Grenzen unserer Kräfte gebracht hatten. Für diese glücklichen Monate werde ich immer dankbar sein. Im Nachhinein betrachtet, waren sie der Abschied von uns als Familie und für die Jungs der Abschied von ihrer halbwegs sorglosen Kindheit.

Im März 2012, zwei Tage nach seinem 40. Geburtstag, wurde mein damaliger Mann im Deutschen Herzzentrum Berlin aufgenommen. Dort wartete er vierzehn Monate lang auf ein Spenderorgan. Nach der Transplantation im Frühjahr 2013 schwebte er lange zwischen Leben und Tod. Erst zum nächsten Jahreswechsel fing sich sein Körper und es ging aufwärts, herunter von der Intensivstation.

Himmelfahrt 2014 erkannten wir, dass unsere Ehe diese Prüfung nicht bestanden hatte. Er hatte alles gegeben, um am Leben zu bleiben. Ich hatte alles gegeben, um die Kinder und mich finanziell und emotional durchzubringen und am Krankenbett zu wachen. Am Ende war von einem »Wir« nichts mehr übrig. Der eine wollte Wiederbelebungsversuche für unsere Ehe starten, der andere nicht. Und das war’s dann. Man trennt sich nicht auf der Intensivstation, munkelt man unter Schicksalsgenossen, aber danach.

Als Erwachsene konnten wir uns den Lauf der Dinge bei aller seelischen Verletzung doch erklären, die Kinder waren wie vor den Kopf gestoßen. All die Zeit hatten wir ihnen erzählt, dass wir diese Erfahrung gemeinsam durchstehen, Geduld haben müssten, um am Ende als Familie wiedervereint zu sein. Ein so gut wie gesunder Papa, der vielleicht sogar wieder Fußball spielen könnte, würde ihre Belohnung sein. Nun war ihre Belohnung die Scheidung. Was war bloß in uns gefahren? Wie konnten wir die Hoffnung in ihnen derart übertrieben nähren? Man weiß doch aus den Erziehungsratgebern, dass man Kindern nichts verspricht oder androht, was man nicht halten kann! Ja. Aber wir hatten ja selbst an das große Glück der Zukunft glauben wollen, das uns bevorstand. In Zeiten der Verzweiflung braucht man auch als Erwachsener eine handfeste Hoffnung, an die man sich klammern kann. Und keiner sagt einem vorher, dass viele Beziehungen von Transplantationspatienten an der Belastung zerbrechen – erst nach und nach haben wir das im Krankenhaus mitbekommen. Niemand erzählt im Detail von den Komplikationen, die warten, und die Medien berichten nur von Menschen mit neuen Herzen, die wieder Marathons laufen.

Mein inzwischen ehemaliger Mann wurde im November 2014 aus dem Krankenhaus und der Reha entlassen. Er ist jetzt Dialysepatient und steht auf der Warteliste für eine neue Niere. Seine Krankengeschichte geht weiter. Nicks und Lukes Kindheit als Söhne eines körperlich schwerkranken Elternteils auch.

Dabei haben sie noch Glück. Viele Probleme, auf die andere Kinder kranker Eltern in diesem Buch zu sprechen kommen, haben sie nicht. Sie mussten ihren Vater nie pflegen, nicht mehr im Haushalt helfen als andere Kinder alleinerziehender Elternteile auch. Sie sind mit ihren Sorgen nicht allein, sondern haben liebevolle Ansprechpartner in unserer großen Familie, auch den einen oder anderen Lehrer und Erzieher. Sie haben ihren Handball-Leistungssport, der schon seit ihrer Kindergartenzeit eine feste Säule in ihrem Leben bildet. Sie haben Klassenkameraden, deren Väter oder Mütter im Rollstuhl sitzen oder während der Grundschulzeit starben, sind also keine Außenseiter mit ihrer Geschichte. Auch waren wir zu keinem Zeitpunkt von Armut bedroht.

Schon vor der Arbeit an diesem Buch habe ich meinen Kindern gesagt, dass wir bei allem Recht, traurig und wütend über das zu sein, was wir als Familie aushalten müssen, trotzdem ein gutes Leben haben. Ich möchte unter allen Umständen vermeiden, dass sie sich in eine Opferrolle hineinsteigern. Oder dass sie lernen, sich Vorteile zu verschaffen, indem sie sich als »die Kinder mit dem herzkranken Vater« inszenieren. Andererseits muss ich vorsichtig sein, was ich zu ihnen sage. Denn natürlich ist ihr Leben schwer. Sie müssen immerzu Verständnis haben. Verständnis für ihren schwachen Vater und ihre emotional angeschlagene, körperlich ausgelaugte Mutter. Verständnis dafür, dass ihre eigenen Sorgen manchmal warten müssen, manche Wünsche nicht erfüllt werden können.

Beunruhigt frage ich mich, was aus ihnen werden wird. Haben sie durch ihre Erfahrungen Kompetenzen entwickelt, die ihnen später im Leben helfen werden? Oder ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie unter der Last einknicken? Nick hat sich mit einem herzkranken Jungen aus seiner Klasse angefreundet. Bewundernswert selbstständig für seine elf Jahre bewegt er sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch Berlin und verfolgt konsequent seinen Kindheitstraum, Profihandballer zu werden. Die Grundschule und den Wechsel aufs Gymnasium hat er ohne meine Hilfe beim Lernen und Freundefinden solide geschafft. Erst jetzt in der siebten Klasse lassen die Leistungen nach und wir müssen Zeit finden, uns um ihn zu kümmern. Spricht man mit ihm über seinen kranken Vater, scheint er alles gut wegzustecken. Aber vielleicht hat seine Seele die Erfahrungen nur erfolgreich verdrängt und wird sie zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Leben wieder freigeben? Meine Angst, dass Nick Trost in Drogen und Halt in schlechten Freundschaften suchen wird, ist groß.

Ganz anders sein kleiner Bruder. Luke hatte keine Zeit, eine stabile Bindung zu seinem Vater aufzubauen, bevor die Krankheit vollends Besitz von ihm ergriff. Er kann sich so gut wie gar nicht an die Zeit erinnern, als Papa noch zu Hause war, und musste sich das letzte Stück Kraft, das dieser aufbringen konnte, von Anfang an mit seinem Bruder teilen. Luke hat schon immer viel wegen unserer Situation geweint. Anfangs fiel es ihm schwer, über seine Sorgen zu reden. Nachdem ich ihm eindrücklich erklärt hatte, dass die Seele genauso krank werden kann wie der Körper, wenn man Dinge in sich hineinfrisst, und nachdem ich selbst viel geweint und geredet habe, öffnete er sich gelegentlich. Dennoch bekam er Probleme in der Schule, geriet ständig in Konflikte. In der vierten Klasse fielen die Noten ab, die Klassenlehrerin zog eine Rückversetzung in Erwägung. Luke formulierte selbst, dass er so viele Gedanken im Kopf habe, dass er nur noch aus dem Fenster schauen und dem Unterricht nicht mehr folgen könne. Die einzigen Kontakte, die er aufbaute, waren jene zu den Querulanten unter den Schülern, von denen er sich provoziert fühlte. Chronische Magenschmerzen und der ständige Wunsch, wegen undefinierbarer Wehwehchen zu Hause zu bleiben, waren die Folge. Die einzige Person, der es zu gelingen schien, sein Vertrauen zu gewinnen, war sein Religionslehrer. Ich konsultierte Kinderärzte, Fachärzte, Lehrer, Psychologen und das Jugendamt. Alle betonten, dass Lukes Symptome und Verhaltensweisen noch viel schlimmer sein könnten und Abwarten und Beobachten das Gebot der Stunde sei. Mich beruhigte das ganz und gar nicht. Ich wollte doch nicht zusehen, wie mein Kind ins Verderben rannte.

Aus unerklärlichen Gründen fing sich Luke im zweiten Halbjahr der vierten Klasse wieder. Seine Noten wurden besser, seine Lehrerin sprach vom Gymnasium. Luke ging wieder gern zur Schule und erzählte mit Begeisterung von neuen Freunden, von »seiner Gang«. Die Magenschmerzen wurden weniger und die Tage, an denen er bat, zu Hause bleiben zu dürfen, auch. Heute gönne ich ihm diese kleinen Erholungspausen. Sie scheinen ihm gut zu tun.

Trotzdem, noch längst ist nicht alles gut. Während ich an meinem Laptop sitze und diese Zeilen schreibe, kommt Luke ins Wohnzimmer und fragt, was ich da mache. »Ich schreibe ein Buch über das, was wir mit Papa erlebt haben«, erkläre ich....

Erscheint lt. Verlag 20.4.2016
Reihe/Serie Lebenswelten & Lebenshilfe
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Krankheiten / Heilverfahren
Schlagworte Alkoholiker • Depressionen • Eltern • Familie • Kindheit • kranke Eltern • Prägung • Psychisch kranke Eltern • Rabeneltern • Rabenmutter • Schamgefühle • Schuldgefühle • Transplantation • Verlustängste
ISBN-10 3-86284-329-7 / 3862843297
ISBN-13 978-3-86284-329-9 / 9783862843299
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