Schotten dicht (eBook)
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1108-1 (ISBN)
Reiner Luyken, geboren 1951 in Starnberg, schreibt als Auslandskorrespondent für die Zeit. Nach einer Lehre als Cembalo- und Orgelbauer arbeitete er als Zimmerer und Fernfahrer. 1978 wanderte er nach Schottland aus, wo er sich als Lachs- und Langustenfischer verdingte. Für seine Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Mit seiner Frau lebt er im Norden Schottlands in dem kleinen Dorf Achiltibuie.
Reiner Luyken, geboren 1951 in Starnberg, schreibt als Auslandskorrespondent für die Zeit. Nach einer Lehre als Cembalo- und Orgelbauer arbeitete er als Zimmerer und Fernfahrer. 1978 wanderte er nach Schottland aus, wo er sich als Lachs- und Langustenfischer verdingte. Für seine Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet.
Frühzeit
An einem Apriltag des Jahres 1978 wachte ein junger Mann im Schlafwagenbett des Caledonian Sleeper Train von London Euston nach Inverness auf. Er zog den Vorhang auf, blinzelte in die Morgensonne und erblickte auf dem Rücken baumloser Bergrücken mannshohe Schneeverwehungen. Der Zug schaukelte langsam eine Passhöhe hinan. Als er die erreicht hatte, ratterte er über eine schier endlose Hochebene, eine von Bergen besäumte Moorlandschaft. Schnepfen flatterten auf, Hirsche hoben ihre Köpfe und blickten ihm träge kauend hinterher. Jemand klopfte mit einem Schlüssel an die Abteiltür. Als der junge Mann die Tür öffnete, reichte der Schaffner ihm ein Tablett mit Orangensaft, Tee und einem Hörnchen mit Butter und Marmelade.
Als der junge Mann in Inverness aus dem Zug stieg, schlug ihm das wild triumphierende Kreischen sich gegenseitig ihre Beute abjagender Raubmöwen entgegen. Das Gekreische berührte ihn wie ein Schrei der Freiheit. Er blieb kurz stehen und atmete tief die nach dem Salz des nahen Meeres schmeckende Luft ein. Dann kaufte er im Bahnhofskiosk die Northern Times, die seine Neugierde wegen ihrer antiquierten Aufmachung auf sich zog. Er trat ein in das Station Hotel, ließ sich auf einem mit Tartanstoff bezogenen Sessel nieder, bestellte eine Tasse Kaffee und vertiefte sich in die Lektüre des Nachrichtenblattes des nördlichen Hochlands. Er entdeckte, dass die interessantesten Artikel auf einer Seite mit Nachrufen zu finden waren. Hingerissen las er die Würdigung eines Kleinbauern, der den größten Teil seiner achtundsechzig Lebensjahre in einer einsamen Schäferhütte in den Bergen der Grafschaft Sutherland zugebracht hatte. Er hatte, berichtete der Chronist, einen »leidlich rührigen Lebenswandel« geführt, was wohl bedeutete, dass er sich nie ein Bein ausgerissen hatte. Er hatte seinem Vater bei der Bewirtschaftung der Schafherde geholfen, die er nach dessen Ableben geerbt hatte. Vor allem aber, und deshalb erhielt er diesen Nachruf, hatte der Bauer sich durch eine tiefe Hingabe an den Dudelsack und eine umfassende Kenntnis der heimischen Musik ausgezeichnet, »eine in seiner Linie seines Clans tief verwurzelte Tradition«. Sein Enthusiasmus hatte ihn jedes Jahr am Tag der Highland Games von seiner Hütte in den Bergen nach Dornoch pilgern lassen, um den dort um Ehre und Preisgeld spielenden Sackpfeifern zu lauschen.
An dieser Stelle bediente sich der Chronist nach der Wendung des »leidlich rührigen Lebenswandels« eines zweiten Euphemismus. Die unter Dudelsackspielern übliche Gastlichkeit, berichtete er, hatte sich meist als derart überwältigend erwiesen, dass regelmäßig ein alter Freund der Familie zu Hilfe gerufen werden musste, um unseren nun verstorbenen Bekannten wieder auf die Beine zu bringen. Wie lange das dauerte, ob Stunden oder Tage, erwähnte der Bericht nicht. In seinen mittleren Jahren war der Schafbauer dann aus seinem Heimatsprengel verschwunden. Niemand wusste, was sich während seines selbstauferlegten Exils zugetragen hatte. Er war auf jeden Fall als geläuterter Mann zurückgekehrt. Er hatte hinfort gewissenhaft an den Gottesdiensten der Free Church in seiner Gemeinde teilgenommen, Abstechern zu den Highland Games in Dornoch und »ähnlichen Zerstreuungen«, sprich, dem Whisky entsagt. Das, stellte der Chronist fest, habe sich als Segen für jedermann erwiesen. Bei seinem Begräbnisgottesdienst hatten drei Pfarrer gepredigt. Drei Dudelsackspieler hatten ihm das letzte Geleit an sein Grab gegeben. »Wieder einmal«, schloss der Nachruf, »haben wir von einem Grandseigneur unserer Gemeinde Abschied genommen.«
Als er das las, wusste der junge Mann, dass er angekommen war. In Inverness wollte er nicht weiter verweilen. Er begab sich zur nördlichen Ausfallstraße und streckte den Daumen raus. Ein Lieferwagen der Marke Morris hielt an. Auf der Seite stand in schwungvollen roten Lettern: W.W. Brown, und darunter: Qualitätsmetzgerei, Aultbea, Wester Ross.
Der rotgesichtige Schlachtermeister stieß von innen die Beifahrertür auf und fragte den jungen Mann, wohin er unterwegs sei.
»Nach Achiltibuie.«
»Nach Achiltibuie? So, so.«
»Ja.«
Er könne ihn bis zur Abzweigung nach Aultbea mitnehmen, sagte der Schlachtermeister. Von dort sei es nur noch eine Stunde.
»Zu Fuß?«
»Nein, mit dem Auto.«
Auf der Fahrt zur Abzweigung, die ebenfalls eine Stunde dauerte, nahm der Schlachtermeister seinen Passagier in ein sanftes, aber dennoch unerbittliches Verhör. Als er anhielt, um ihn aussteigen zu lassen, wusste er so gut wie alles über den jungen Mann und seine Pläne. Und der junge Mann hatte erfahren, dass Achiltibuie im weiten Umkreis den Ruf einer Ortschaft hatte, in der eher ausgefallene Charaktere den Ton angeben, die sich nie unterordnen wollen, auch nicht untereinander; der Ort – »lass dir das gesagt sein!« – sei alles andere als eine glückliche kleine Gemeinde, in der sich jeder mit jedem verstehe und alle einen gemeinsamen Lebenszweck verfolgten. Vielleicht verstand ich ihn aber nur falsch. Mein Englisch war ziemlich mies.
Aber das war, wie gesagt, nur eine Sichtweise von außen. Von der anderen Seite der großen Bucht, die in das Seegewässer mündet, das die Wikinger das Skotlandsfjörð nannten. Als der kleine Lieferwagen über eine Brücke nach Süden davongetuckert war, stand der junge Mann in einer Stille, die er kaum mit dem Wort »Abzweigung« in Einklang bringen konnte. Niemand zweigte ab. Kein Auto weit und breit. Die Straße, auf der sie gekommen waren, verlor sich in schimmriger Mittagswärme auf einem Hochmoor. Dort, wo er hinwollte, stürzte sie in einen Talabgrund. Von dort glaubte er dann doch, ein Rauschen zu hören, das Rauschen eines Wasserfalls. Hoch oben am blauen Himmel zog ein riesiger Raubvogel seine Kreise. War es ein Adler? Vielleicht. Er hatte noch nie einen Adler gesehen. Ein Windstoß säuselte ihm in den Ohren. Eine tiefe Zufriedenheit ergriff Besitz von seinem Körper, von seinem Geist und seiner Seele.
Nach langer Zeit näherte sich dann doch ein Autogeräusch, ein tief blubbernder V8-Motor. Ein blauer Range Rover. Er hielt auf der anderen Straßenseite. Der Fahrer kurbelte das Seitenfenster herunter. Er sah aus wie ein in die Jahre gekommener Hollywoodstar, das silbrige Haar in Wellen nach hinten gekämmt, ein Hochland-Cary-Grant. Er rief: »Reiner!«
Der Range-Rover-Fahrer war einer der Gründe, warum ich nach Achiltibuie zog. Ein zweiter Grund war, dass ich in meiner Jugend zu viel Hemingway gelesen hatte; der Mythos vom einsamen Mann und der See hatte sich tief in mein Bewusstsein gegraben, der Traum vom Fischen und von unberührter Natur, in der ein Mann sich bewährt. Doch ohne Willie Muir, so hieß der Cary Grant der Highlands, hätte sich der Traum nicht verwirklicht. Im Krieg war er Luftwaffenoffizier gewesen. Nach dem Krieg bezirzte er im besetzten Deutschland mit seinen gefälligen Gesichtszügen ein deutsches Mädchen. Sie wurde seine Frau, sie kam nach Achiltibuie. Zwei Söhne, eine Tochter und zehn Ehejahre später entzweiten sie sich. Die Frau kehrte mit den Kindern nach Deutschland zurück. Die Tochter wurde die beste Freundin meiner ersten Freundin. Durch sie lernte ich Achiltibuie kennen.
Sechzehn Jahre nach meiner Ankunft an diesem strahlenden Apriltag war es an mir, einen Nachruf in unserer Grafschaftszeitung zu schreiben. Der lautete so: »Am 4. August erlag Willie Muir, Lachsfischer in Achiltibuie, einem plötzlich in seine Lunge eingedrungenen Embolus. Er war 69 Jahre alt. Er hinterlässt eine große Leere, und seine Familie und viele seiner Freunde waren tagelang in Schock und Benommenheit befangen. Als ich ihn das letzte Mal sah, saß er in seinem Schnellboot und reparierte den Motor, um mit seinem Enkel zum Fischen hinauszufahren. Er winkte mir zu, ich winkte zurück, aber ich blieb nicht stehen, um mich mit ihm zu unterhalten. Warum bin ich nicht stehengeblieben?
Selbstbezogenheit und Mangel an Rücksicht. Sich mit Willie zu unterhalten, war immer ein zeitaufwendiges Geschäft. Aber es war auch unterhaltsam – und zwang gelegentlich auf unbequeme Art, sich selbsterzieherisch unter die Lupe zu nehmen. Dennoch war er immer, so beschrieb ihn der Kolumnist der West Highland Free Press, Aimsir Eachainn, das Inbild eines Gentleman. Er war das, und er war mehr, ein Mann mit der Fähigkeit, in allem, was ihn umgab, das Wesentliche zu erblicken.
Seine Liebe für sein heimatliches Hochland war kein Provinzpatriotismus. Seine Umgebung war für ihn ein Labor des Lebens, das ihn ständig zu neuen Ideen und Theorien inspirierte. Ich habe sonst nie jemanden kennengelernt, bei dem die Rückkehr arktischer Seeschwalben im Mai oder die Entdeckung einer Veränderung der Kiesablagerungen am Strand von Badentarbet ähnlich tiefe Gefühle auslöste und den Anstoß für oft hochoriginelle intellektuelle Betrachtungen gab, Begebenheiten, die kaum die Aufmerksamkeit anderer Menschen auf sich zogen.
Willie Muir wurde 1924 geboren. Sein Vater war der wohlgelittene Sohn eines von den Orkneyinseln stammenden Mannes, der sich in Achiltibuie niedergelassen hatte. Seine Mutter war Abigail, eine der Frasers von Achiltibuie. In ihren späten Jahren war sie die Nabe im Zentrum der Gemeinde. Sie saß, mittlerweile behindert durch zwei Schlaganfälle, im Verandazimmer ihres Hauses in Badentarbet und überblickte alles, was in der Bucht und in Achiltibuie selber vor sich ging.
Sie sah alles, und sie wusste alles. Einmal ankerte die königliche Yacht Britannia in der Bucht. Ein Bote der Königin kam an Land und wollte Fisch einkaufen. Abigail sagte, ›Es tut mir leid, ich kann Ihnen keinen verkaufen, es ist...
Erscheint lt. Verlag | 7.8.2015 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Comic / Humor / Manga | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Sachbuch/Ratgeber | |
Schlagworte | Achiltibuie • Atlantikküste • Haggis • Referendum • Schotte • Schottenrock • Schottland • Unabhängigkeit • Whiskey |
ISBN-10 | 3-8437-1108-9 / 3843711089 |
ISBN-13 | 978-3-8437-1108-1 / 9783843711081 |
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Größe: 6,3 MB
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