Bhagavadgita (eBook)
256 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-13522-5 (ISBN)
Vorwort
Zeitlose, reine Wahrheit
»Sie müssen die Gita mit dem Herzen lesen.«
Die Bhagavadgita zu lesen heißt, sanft hin- und herzupendeln zwischen dem Kopf und dem Herzen, zwischen dem Weltlichen und dem Spirituellen, und dabei eine Brücke zu schlagen zwischen dem Erlangen von Erkenntnissen und deren Anwendung in der heutigen wirklichen Welt. In diesem Pendeln von der menschlichen zur göttlichen Dimension unserer selbst liegt die geheime, durchdringende Kraft der Gita, ihre Fähigkeit, uns zu erheben und zu bewegen.
Es ist das Jahr 3141 vor unserer Zeitrechnung. Arjuna, ein geachteter heldenhafter Prinz auf der Höhe seiner Kräfte, der größte Mann der Tat zu jener Zeit, macht sich bereit, in die Schlacht zu ziehen. Es ist ein gerechtfertigter Kampf zur Wiedergewinnung eines Königreichs, das rechtmäßig ihm gehört. Sein ganzes bisheriges Leben lang war er ein mutiger, siegreicher Tatmensch, berühmt für seinen Heldenmut im Gefecht. Aber jetzt, unmittelbar vor der größten kriegerischen Auseinandersetzung in seiner Laufbahn, geschieht etwas Sonderbares. Seine Hände beginnen zu zittern.
Arjuna befindet sich in seinem prächtigen, von vier weißen Streitrössern gezogenen Kriegswagen. Der Wagenlenker, Arjunas bester Freund von Jugend an, ist Krishna, ein Avatar, eine Inkarnation Gottes auf Erden. Arjuna, der sich über Krishnas Göttlichkeit nicht wirklich im Klaren ist, hat ihn angewiesen, den Wagen in die Mitte der Ebene zu lenken, wo die große Schlacht alsbald beginnen soll. Die gegnerischen Heere haben sich auf beiden Seiten versammelt.
Es ist eine epische Szene: zwei einzelne Figuren, die innehalten zwischen den Mächten von Gut und Böse; Soldatengetümmel, Zelte, Kochfeuer, wiehernde Pferde, im leichten Wind des frühen Nachmittags flatternde Fahnen; die Geschäftigkeit, die Geräusche und Gerüche des Schlachtvorspiels erfüllen die Luft.
Arjunas Blick mustert die gegnerischen Streitkräfte und verweilt Mal für Mal bei ehemaligen Freunden, verehrten Onkeln, Lehrern, die ihm seine Kriegsfertigkeiten beibrachten. Alle machen sich tapfer bereit zum gegenseitigen Niedermetzeln. Er sinkt in sich zusammen, seufzt und sieht Krishna sonderbar an.
Beim Lesen der Gita lernen wir das Leben besser verstehen – als eine innere Schlacht, einen für Körper, Sinn und Geist unumgänglichen Kampf. Und der ist, ohne jeden Zweifel, ein Kampf bis aufs Messer.
Wir erfahren, dass unsere wirklichen Feinde nicht draußen, sondern im Inneren sind: unser Verlangen, unser Zorn und unsere Habgier. Ebendies macht die Sache so schwierig. Diese Erzfeinde haben ihre Streitkräfte so wirkungsvoll miteinander verbunden, dass sie fast unschlagbar sind. Wir verlieren.
Die Gita verkündet kühn, dass Spiritualität die einzige zum Sieg führende Lösung ist. Wendet euch nach innen, weist sie uns an, und nach oben. Behaltet das wahre innere Selbst im Auge.
Mitten auf dem Schlachtfeld in seinem Streitwagen sitzend, fragt der kleinlaute Prinz Arjuna mit kaum hörbarer Stimme: »Weshalb tue ich das, Krishna? Das Leben ist so hart und stellt so hohe Anforderungen. Ich weiß nicht, ob ich noch den Mut zum Kampf habe.« Die Tränen steigen ihm in die Augen, seine Knie werden weich, und er sinkt tiefer in den Wagensitz. »Geliebter Freund«, sagt er, »bitte sag mir – was soll das Ganze eigentlich?«
Wie Wasser, das langsam durch den Erdboden hinabsickert und frisch und rein herauskommt, werden bedeutsame Ideen, die durch die Sandmassen der Zeit hinabwandern, schließlich sauber gescheuert und tauchen als reine Wahrheit auf. Obwohl diese Wahrheiten auf verschiedene Weise, zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Völkern der Welt dargelegt wurden, sind sie den Menschen seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden bekannt. Alle Nationen und Zeitalter mögen zwar ihre jeweils eigene Gottesvorstellung haben, und doch gibt es für sie alle Gott und die Wahrheit und das Gute. Alle höher entwickelten Religionen und philosophischen Systeme stimmen hinsichtlich dieser Grundelemente fast vollständig überein.
Die Bhagavadgita ist eine der frühesten, klarsten und verständlichsten Darlegungen dieser immer währenden Wahrheiten. In der Gita kommt Gott mitten in einem scheußlichen Krieg zu seinem Freund, dem Menschen, und erläutert sorgfältig die Gesetze und Prinzipien, die das menschliche Leben bestimmen.
Wir sehen Arjuna auf dem Schlachtfeld, diesen beeindruckenden Krieger, wie er – gebeugt, mutlos, mit nass glänzenden Augen – inständig die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt. Krishna, völlig ruhig, erwidert: »Oh, möchtest du das wirklich wissen?« Und dann verwendet er die nächsten 20 Minuten darauf, die Antwort zu liefern – direkt aus der höchsten Quelle!
Die 18 Kapitel der Gita lassen sich in drei Gruppen einteilen. Die ersten sechs Kapitel konzentrieren sich hauptsächlich auf das Erkennen, Erfassen des wahren Selbst und gleichzeitig auf die dringende Notwendigkeit, die eigenen weltlichen Pflichten erfolgreich zum Wohl der Gesellschaft zu erfüllen. Die nächsten sechs befassen sich mit der wahren Natur Gottes und der großen Liebe zu ihm, die daraus entspringt, dass man ihn genau, zuinnerst erfasst und kennt. Die abschließenden sechs Kapitel stellen spezielle Erkenntnisse und Weisheiten für die Erlangung des wahren Daseinszwecks bereit, der darin besteht, dass wir uns von dem unvermeidlichen Schmerz und Kummer befreien, die das Leben uns zuteilt, und letztendlich in jener Gottheit, in Gott selbst, aufgehen.
Das sind alles außergewöhnlich bedeutsame und kraftvolle Ideen, die zahlreiche Feinheiten und Nuancen des Denkens aufweisen. Krishna stellt jede einzelne dieser gewaltigen Ideen nach und nach, Stück für Stück, Kapitel um Kapitel dar, bis das ganze Bild hell erstrahlt.
Man stelle sich das vor! Ein Mann, mit dem wir uns alle identifizieren können, ist in einer ernsten Notlage, an einem Scheideweg, von den großen Bedrängnissen und komplexen Sachlagen des Lebens in die Knie gezwungen, und streckt zitternd die Arme aus. Und sein bester Freund, eine Inkarnation Gottes, nimmt ihn bei der Hand und führt ihn zur rettenden Antwort – indem er Schritt für Schritt die tiefgründigsten Geheimnisse aller Zeiten erläutert.
Das Durchwandern der Gita ist möglicherweise nicht hindernisfrei. Manche Wörter sind unaussprechbar und manche von den Ideen sind so neu für uns oder so verschieden von unserer westlichen Kultur, dass man sie eventuell nicht begreift oder, im schlimmeren Fall, sie ablehnt. Die Idee vom Atman beispielsweise, der das göttliche Wesen in uns ist, kann auf einen Menschen aus dem Westen befremdlich wirken (»Ich soll Gott sein?«), bis man erfährt, dass der Atman ein anderes Wort für Seele ist. Der Gedanke des Nichtanhaftens wie auch des Sichunterwerfens, Hingebens sind den meisten Menschen aus dem Westen ein Gräuel. Für manche ist der Gedanke vom Avatar (einem verkörperten Gott) undenkbar; für andere ist er nur akzeptabel, wenn es zufällig der ihrer Vorstellung entsprechende Gott ist, der einen Körper bewohnt.
Ganz zu Anfang der Geschichte gehen die meisten Leser mit Arjunas Antikriegsgesinnung konform, sind dann jedoch bestürzt, wenn Krishna, der Krieg faktisch zu rechtfertigen scheint, ihm sagt, er solle sich aufraffen und kämpfen! Der Schock verringert sich, während wir nach und nach lernen, dass nicht das Eintreten für oder gegen Krieg zur Debatte steht oder gar die Entscheidung für das Töten oder das Getötetwerden, sondern dass es sich vor allem darum dreht, der eigenen inneren Wahrheit gemäß zu leben und seine Pflicht zu tun. Wir müssen uns ständig daran erinnern, dass die Schlacht metaphorische Bedeutung hat, dass der Krieg im Innern eines jeden von uns geführt wird und unser ganzes Leben hindurch andauert.
Es gibt zwangsläufig noch weitere Hindernisse. Viele von den Wörtern in Sanskrit, der Originalsprache, haben mehrere Bedeutungen (Karma zum Beispiel), und manche von den Begriffen mögen einem in unserer Zeit eher antiquiert vorkommen (Opferdienst, Pflichterfüllung und Reinheit sind Beispiele dafür). Wahrscheinlich gibt es noch andere.
Es kommt darauf an zu versuchen, bei der Lektüre der Gita nicht gleich wegen irgendwelcher Ungewohnheiten die Lust zu verlieren oder vorschnell irgendetwas abzulehnen. Diese Wahrheiten haben den Strom der Zeit überdauert; das übrig Gebliebene ist erstaunlich rein und brauchbar. Dies ist ein gewaltiges Werk, erfüllt von einer Wahrheit, die jenseits aller intellektuellen Betrachtung liegt.
Sie müssen die Gita mit dem Herzen lesen. Es ist Ihre eigene Grundstimmung beim Lesen, die Ihnen den Weg durch diese uralte Schrift ebnet. Seien Sie so aufnahmebereit wie irgend möglich. Legen Sie Ihr Unbehagen und Ihre Skepsis eine Zeit lang auf Eis. Versuchen Sie, übereilte Urteile aufzuschieben, und haben Sie mehr Geduld mit der unvertrauten Verwendung vertrauter Wörter. Lassen Sie zu, dass neue Vorstellungen von Einheit und Göttlichkeit in Sie eindringen und bei Ihnen eine Weiterentwicklung zu neuen Denkweisen und Seinsweisen bewirken. Lesen Sie die Gita achtsam und seien Sie bereit, unterwegs Kontemplationspausen zu machen. Lassen Sie sich von ihr...
Erscheint lt. Verlag | 19.12.2013 |
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Übersetzer | Peter Kobbe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Bhagavad Gita |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Östliche Weisheit / Alte Kulturen | |
Geisteswissenschaften | |
Schlagworte | Brahma • eBooks • Einheit • Hinduismus • Indische Philosophie • spirituelle Bücher • Upanishaden • Veden |
ISBN-10 | 3-641-13522-2 / 3641135222 |
ISBN-13 | 978-3-641-13522-5 / 9783641135225 |
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Größe: 4,2 MB
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