Die Aussteigerin. Autobiografie einer ehemaligen Rechtsextremistin
Acabus Verlag
978-3-86282-176-1 (ISBN)
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Dieses Buch berichtet authentisch und mutig über die Irrwege eines jungen Frauenlebens in den 70er Jahren, das gekennzeichnet ist von Gewalt, Hass, Reue, psychischen Wirren, schließlich von Zweifeln und einem bemerkenswerten Wandel. Es stellt eine nüchterne Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Zustände dar, die sich in einem ergreifenden Einzelschicksal spiegeln.
Christine Hewicker wurde 1959 in Lüneburg geboren und geriet in den 70ern mit gerade einmal 14 Jahren in die Fänge westdeutscher neona-zistischer Kreise. Es folgten Verurteilungen wegen Volksverhetzung und Sachbeschädigung. Christine Hewicker rutschte immer mehr in den Rechtsextremismus ab, der den bewaffneten Kampf gegen die BRD zum Ziel hatte. Dann kam es zur Eskalation. Von Frankreich aus wurde eine Bank überfallen. Bei einem zweiten Versuch, dieselbe Bank auszu-rauben, kam es zum Schusswechsel mit der Polizei, bei dem zwei Ter-roristen ums Leben kamen und ein Polizist lebensgefährlich verletzt wurde. Nachdem Hewicker – 23-jährig – 1981 zusammen mit anderen von einer Antiterroreinheit in Belgien gefasst und nach Deutschland ausgeliefert wurde, folgten strenge Isolierhaft, Prozess und sechsjährige Gefängnisstrafe. In den Jahren danach machte die Autorin einen grund-legenden Gesinnungs¬wandel durch und distanzierte sich komplett vom Rechtsextremismus.
Aus 1. KAPITEL: KINDHEIT UND JUGEND Meine Kindheit war aber eigentlich nur sehr selten mit Schatten versehen. Dass ich nach Schulschluss hin und wieder die schwer an Kinderlähmung erkrankte Giesela zu Hause besuchte, war für mich selbstverständlich. Giesela war schon über 20 Jahre alt und an den Rollstuhl gefesselt. Sie konnte kaum sprechen und auch kaum etwas mit den Händen ergreifen. Aber ich mochte sie und ihre Mutter sehr. Manchmal nahm ich meinen Bruder Lars mit zu ihr, und wir verbrachten so manche Zeit bei Giesela in ihrem Zimmer, während ihre Mutter uns mit Saft und Keksen versorgte. Manchmal las ich ihr aus Büchern oder Zeitungen vor oder erzählte ihr einfach nur aus der Schule oder von Freunden. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, ob sich Giesela vielleicht einsam und unglücklich fühlen könnte. Und für mich war sie keine Last, sondern eine Freundin. Ich war wohl gerade 14 Jahre alt, als ein ehemaliger Mitschüler meines ältesten Bruders aus Berlin in unser 2000-Seelen-Dorf in Niedersachsen zurückkehrte und dort die NPD publik machte. Eckhart war nach der Schulzeit für einige Jahre nach Berlin gegangen und kam mit seinen 21 Jahren in unser kleines Dorf zurück als überzeugter NPD-Mann. Meine Brüder ließen sich auch gleich in seinen Bann ziehen wie noch etliche weitere Jugendliche und auch ein paar ältere Leute aus unserem Ort. Von nun an beteiligten sich meine Brüder regelmäßig an den politischen Aktivitäten, und über dem ganzen Dorf lag ein gewisser Hauch rechtspolitischer Ideologie. Die Besatzer: Es war ein ganz normales Bild, wenn sich englische Soldaten in unserem Dorf aufhielten und während der Manöver auch die Grundstücke der Anwohner bevölkerten. Dann mussten die „Belagerten“ den Besatzern Strom und Wasser abtreten und wir Kinder sahen dem Treiben fasziniert zu. Außerhalb der Ortschaft war ein größerer Hügel aufgeschüttet: der „Goldberg“. Auf der Spitze des Goldberges war ein Fahnenmast aufgestellt, auf den wir immer blickten, bevor wir im Wald „Soldat“ oder „Verstecken“ spielten. War die rote Fahne gehisst, durften wir den Wald nicht betreten, weil sich das Militär dort austobte und mit scharfer Munition schoss. Meine Brüder und ihre Freunde sammelten gerne bereits abgeschossene Munition im Wald, wenn die Fahne nicht gehisst war. In Manöverzeiten schossen die britischen Militärs direkt über unser Dorf, weshalb nicht selten aufgrund der Detonationen die Fensterscheiben in den Häusern barsten. Außerhalb der Ortschaft – und zu Manöverzeiten auch innerhalb des Dorfes – zerstörten britische Panzer, an denen mein Schulweg vorbeiführte, fast die gesamte Natur. Ganze Flächen wurden umgepflügt und als Kraterlandschaft hinterlassen. Dass heute noch eine sehr schöne Heidelandschaft die Gegend prägt, hat man nur dem unermüdlichen Einsatz der Anwohner zu verdanken, die immer wieder versuchten, das ursprüngliche Erscheinungsbild zu erhalten oder wiederherzustellen. Wenn ich mit meinen Brüdern zu Fuß die sechs Kilometer zur Schule ging, führte der Weg immer direkt durch das von Militärs besiedelte Gebiet. Die Soldaten kannten uns bereits und winkten uns nicht selten heran, um uns Schokolade und Kekse zu schenken. Die Männer verstanden kein Deutsch und wir Kinder verstanden kein Englisch, aber wir nahmen freudig die Geschenke an. Unser kleines, sehr idyllisch mitten in der Heide gelegenes Dorf hatte für die Jugend der „wilden Siebziger“ nicht viel zu bieten. So waren die neuen Geschehnisse, die die NPD mit sich brachte, bald zum Lebensinhalt mancher Teenager geworden. Die älteren Einwohner des Dorfes hatten an dem neuen Treiben auch nichts auszusetzen. Aus 3. KAPITEL: DER OBERSTAATSANWALT – DER RICHTER – DER PROZESS Und dann erwache ich … Nach einigen Wochen, als mir irgendwie die Bedeutung des Urteils bewusst wurde, befiel mich eine merkwürdige Unruhe. Ich begriff allmählich, dass ich noch viele Jahre meines Lebens hinter Gittern verbringen sollte, und diese Erkenntnis trieb mich auf einmal an den Rand der Verzweiflung. Eigentlich ist es erstaunlich, wie sehr man während einer Haft extremen Stimmungsschwankungen ausgeliefert ist. Manchmal wechselt die Stimmung sogar von Stunde zu Stunde. Manchmal wurde ich sogar von so etwas wie „Glück“ und „Zufriedenheit“ erfasst. Den Grund wusste ich meist gar nicht und wollte ihn auch nicht wissen. Ich hoffte nur, dass dieser Zustand eine Weile anhielte. Aber meistens wurde ich von depressiven Stimmungen erdrückt, gegen die ich mich mit allen Mitteln zu wehren versuchte. Ich drückte meine Gefühle in verschiedenen Briefen, die an den Richter Gleitsmann gerichtet waren, so aus: „… Am liebsten würde ich sofort alle Kontakte zur Außenwelt abbrechen. Mir geht das alles so auf die Nerven – die Menschen, der Zwang, der Druck und alles … Ich beginne, das Leben zu hassen. Abends liege ich im Bett und kann nicht schlafen. Dann kriege ich plötzlich Schweißausbrüche und Herzjagen – und das Schlimmste: ich fange plötzlich an, über Selbstmordmethoden nachzudenken. Ganz nüchtern – als sei dies das Natürlichste der Welt. Das erschreckt mich am meisten und ich kriege Angst vor mir selber. Ich wollte nicht sterben, sondern ich wollte von vorn beginnen. Aber jetzt frage ich mich, wofür? … Wenn jetzt nicht alles so leer und sinnlos wäre. Ich möchte einfach mal ganz laut um Hilfe schreien – den ganzen Tag lang. Aber dann denken die Leute hier, ich sei irre. Ich bin aber nicht verrückt, sondern einfach nur hilflos und allein, verzweifelt … Ich wünschte, ich könnte mich mal so richtig nach Herzenslust ausweinen … Auf einer Insel möchte ich jetzt sein. Fern von jeder Realität, von allen Sorgen und Problemen, von allem, was schlecht ist und mich erdrückt. Ich hasse mich für das, was ich getan habe. Wäre all das ein Märchen, würde ich das wohl so ausdrücken: Da ist eine kleine Maus. Sie stiehlt einen Käse, ohne ihn zu benötigen. Aber als Maus hat sie das Recht auf den Käse. Die Maus hat sich verirrt und wird gefangen – in einem Käfig. Draußen sitzt ein dicker, fetter Kater und lauert … Aber der Käfig ist sicher – es kann niemand raus, aber auch niemand hinein. Die Maus findet sich mit ihrer Situation ab und ist mit sich zufrieden, denn sie hat sich entschieden, den gestohlenen Käse zurückzugeben. Aber draußen versammeln sich immer mehr Katzen. Sie alle warten darauf, dass sich die Tür öffnet und die Maus den Käfig verlässt. Dann wird sie von allen gleichzeitig angegriffen und bei lebendigem Leibe aufgefressen. Die Maus weiß das und fürchtet sich. Sie ist allein und geht vor Angst ein. Sie stirbt einen seelischen, grausamen Tod! … aber so fühle ich mich. Ich wollte jetzt nur noch Gutes tun, aber man lässt mich nicht. Ich habe Angst … Angst … Angst! …“ Herr Gleitsmann versuchte, mich zu beruhigen, indem er mir erklärte, dass ihm die beschriebene depressive Stimmung sehr verständlich erscheine. Meine Gedanken, die mich bewegten, seien ihm von seiner eigenen Gefangenschaft während des Krieges her nicht fremd. Ich müsse aber meine Situation seelisch bewältigen und mich bemühen, Ängste abzubauen. Die Haftzeit ginge schneller vorbei, als ich glaubte. Und dann läge noch ein langes Leben vor mir, dem gerade ich noch viele gute Seiten abgewinnen würde. Daran, dass ich mich momentan in Haft befände, ließe sich nichts ändern. Es wäre daher sinnlose Verschwendung seelischer Kraft, sich dagegen innerlich aufzubäumen. Ich müsse vielmehr versuchen, aus der bestehenden Situation das Beste zu machen. Ich sollte lernen, auch andere zu verstehen. Es gäbe keinen, der nicht „sein Päckchen“ zu tragen hätte. Aber ich kämpfte weiterhin mit mir und meinem „Päckchen“. Und das schrieb ich dem Richter am 20.1.84 in einem fünf Seiten langen Brief. Zunächst betonte ich, dass ich mich nun in die JVA Köln verlegen lassen wollte. Dessen ich mir andererseits auch wieder nicht so sicher war. Ich war von einem ständigen Wechsel meiner Gefühle und Wünsche ergriffen.
Erscheint lt. Verlag | 18.5.2012 |
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Reihe/Serie | ACABUS Biografie |
Sprache | deutsch |
Maße | 140 x 205 mm |
Gewicht | 240 g |
Einbandart | Paperback |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Wirtschaft | |
Schlagworte | ANS • Ausstieg • Bewährung • Gefängnis • Gefängnis; Berichte/Erinnerungen • Gesinnung • Gewalt • Neonazi • Neonazismus; Biografien • NPD • NPD; Berichte/Erinnerungen • Rechtsextremismus • Rechtsradikalismus • Rechtsradikalismus; Biografien • Terrorismus • Wiedereingliederung |
ISBN-10 | 3-86282-176-5 / 3862821765 |
ISBN-13 | 978-3-86282-176-1 / 9783862821761 |
Zustand | Neuware |
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