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Deutschboden (eBook)

Eine teilnehmende Beobachtung
eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
384 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30066-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Deutschboden -  Moritz von Uslar
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Willkommen in jenem unbekannten Land, das Deutschland heißt. Moritz von Uslar geht in eine Kleinstadt im Osten Deutschlands, er bleibt drei Monate und kehrt mit dieser großen Erzählung, einer Geschichte der Gegenwart, die gleichzeitig Reportage und Abenteuerroman ist, zurück. Draußen, vor der Großstadt, wo Hartz IV, Alkoholismus, Abwanderung und Rechtsradikalismus angeblich zu Hause sind: Hier beginnt diese Geschichte. Der Reporter sucht nach einem Ort mit Boxclub und Kneipe und findet ihn im Landkreis Oberhavel, gut eine Autostunde nördlich vor Berlin. Pension Heimat, Franky's Place, Gaststätte Schröder: Pils am Tresen, Diktiergerät am Mann. Der Reporter hört zu, guckt zu, trinkt mit, trainiert mit, labert mit, und am nächsten Morgen steht er wieder da. Es erscheinen der Kneipenchef Heiko, der Geschichtenerzähler Blocky, der tätowierte Punk Raoul, und damit ist der Zugang eröffnet: zu den Proben der Band »5 Teeth Less«, zu Grillfesten mit Deutschlandfahne, zum Abhängen am Kaiser's-Parkplatz und an der Aral-Tankstelle - und zum Alltag junger Männer, die vielleicht keine großartige Zukunft haben, aber einen ziemlich guten Humor. Die präzisen Beobachtungen, im Wortlaut mitgezeichneten Gespräche, die Gags, Sprüche, Märchen und Blödeleien und die Fülle absurder, rührender und furchterregender Alltäglichkeiten entwickeln einen Sog, der den Leser hineinzieht in das Leben in der ostdeutschen Kleinstadt. Das ist klassisches und das ist modernes Reportertum. Moritz von Uslar besitzt den Mut, die Ausdauer und das Einfühlungsvermögen, um zu zeigen, dass Wirklichkeit immer jener Ort ist, der jenseits der Erwartung liegt. In diesem Buch ist Platz für allerhand Abstrusitäten, bloß für keine Trostlosigkeit. Deutschboden leuchtet - es ist das Licht der Tankstelle an der Ausfallstraße nachts um halb eins.

Moritz von Uslar, geboren 1970 in Köln, war Redakteur beim Süddeutsche-Zeitung-Magazin und beim SPIEGEL und arbeitet heute als Reporter und Interviewer bei der Zeit. Ausgewählte Veröffentlichungen: Theaterstücke »Freunde« (2000), »Freunde II« (2001), »Lulu« (2004), gesammelte Interviews »100 Fragen an ...« (KiWi 829, 2004) und »99 Fragen an ...« (KiWi 1381, 2014), Roman »Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005« (2006, Kiepenheuer & Witsch), gesammelte Kolumnen »Auf ein Frühstücksei mit ...« (KiWi 1579, 2017). Der Reportageroman »Deutschboden. Eine Teilnehmende Beobachtung« (2010, Kiepenheuer & Witsch) wurde mit dem Fontane-Preis der Stadt Neuruppin ausgezeichnet und von André Schäfer fürs Kino verfilmt (2014).

Moritz von Uslar, geboren 1970 in Köln, war Redakteur beim Süddeutsche-Zeitung-Magazin und beim SPIEGEL und arbeitet heute als Reporter und Interviewer bei der Zeit. Ausgewählte Veröffentlichungen: Theaterstücke »Freunde« (2000), »Freunde II« (2001), »Lulu« (2004), gesammelte Interviews »100 Fragen an …« (KiWi 829, 2004) und »99 Fragen an …« (KiWi 1381, 2014), Roman »Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005« (2006, Kiepenheuer & Witsch), gesammelte Kolumnen »Auf ein Frühstücksei mit …« (KiWi 1579, 2017). Der Reportageroman »Deutschboden. Eine Teilnehmende Beobachtung« (2010, Kiepenheuer & Witsch) wurde mit dem Fontane-Preis der Stadt Neuruppin ausgezeichnet und von André Schäfer fürs Kino verfilmt (2014).

Inhaltsverzeichnis

2 Plattenbau-Quartett


Dann musste ich echt los.

Es wollte nicht. Es sperrte sich alles. Ich hatte so was von null Bock.

Normal.

Ich fuhr, um warm zu werden, gleich mal ein paar Hundert Kilometer am Stück durch Deutschland.

 

Fahren. Fahren. Fahren auf der Autobahn. Fahren mit dem Fiat 500 (eierschalenfarben), den die Firma Fiat mir für die Dauer meiner Reisen zur Verfügung gestellt hatte. Ich hatte der PR-Firma, die den Deal eingefädelt hatte, versprochen, dass ich das Auto in meinem Text, der noch zu schreibenden Reportage, lobend erwähnen würde. (Lobende Erwähnung wie folgt: Das ist ein gutes Auto, echt. Fährt sich voll gut, vor allem und komischerweise besonders auf der Autobahn. Kann ich voll empfehlen. Echt. Toll.)

Von Berlin kommend fuhr ich sternförmig in die vier Himmelsrichtungen hinein, die Baedeker-Autokarte Deutschland Osten und eine Liste der Amateurboxclubs in den östlichen Bundesländern auf dem Beifahrersitz. Ich fuhr und verschätzte mich mit den Entfernungen.

 

Fürstenwalde (Ost).

Müllrose (Ost).

Luckenwalde, Jüterbog (Süd).

Schwarzheide, Senftenberg und Spremberg (Süd-Ost).

Rathenow (West).

Schönow (Nord).

Teterow (Nord-Nord-Ost).

Krakow am See (Nord-Nord-Ost).

Wittenberg, Perleberg, Ludwigslust (Nord-West).

Prenzlau (Nord-Ost).

Neubrandenburg (Nord).

Altentreptow, Demmin (Nord-Nord).

 

Ein Problem war sicher auch, dass man im Auto, hinterm Lenkrad sitzend, immer nicht so richtig viel sieht.

So vergingen Wochen.

 

Der Hauswart hinter dem Eisenzaun in Luckenwalde.

Die Paintball-Halle in Schönow.

Die Stadtbefestigungsanlage in Altentreptow.

Das Ruderboot in Krakow.

Das Union-Lichtspielhaus in Prenzlau.

 

Achtung!

Hier kommt die rasende Reporter-Sau mit dem gesponserten Fiat 500!

Die Ausgedachtheit und Abgehobenheit des Projekts, eine möglichst beschissene Kleinstadt mit intaktem Boxclub in erreichbarer Entfernung von Berlin zu finden, war maximal kräfteraubend, verwirrend, zermürbend.

 

Was war im Einzelnen zu meiner Boxfertigkeit zu sagen?

Ich hatte zehn Jahre lang in einem Kneipenverein mit Schriftstellern, Journalisten, Grafikern und Fotografen trainiert. Ich war ein ausdauernder Seilspringer. Meine erste Führhand (Linke) war okay, aber schon die zweite kam nicht schnell genug. Ich war insgesamt nicht schnell. Meine Muskulatur in den Schultern war zu ausgeprägt, um eine schnelle Gerade zu schlagen, und in den Beinen nicht ausgeprägt genug, um drei Minuten Sparring ohne Wadenkrämpfe durchzustehen. Über eine Schritttechnik verfügte ich kaum. Immerhin, ich hielt die Ellbogen nah am Körper, und bei Partnerübungen konnte ich die Deckung so oben halten, dass ich ohne Blessuren davonkam. Am Sandsack konnte ich einige Kombinationen aus Geraden, Seitwärts- und Aufwärtshaken so anbringen, dass es für den laienhaften Zuschauer hübsch anzusehen war. Im Vergleich zu meinem Können war meine Erfahrung groß: Ich hatte mich oft erfolgreich aus der Affäre gezogen. Ich wusste, dass es im Ring vor allem auf zwei Dinge ankam: einen Mundschutz zu tragen und das Atmen nicht zu vergessen. Ich wusste – das war meine Stärke –, dass ich kein Boxer war.

 

Nach Eisenhüttenstadt fuhr ich nicht. Auf einer halbseitigen Fotoreportage der Bild-Zeitung hatte die Stadt so sagenhaft wüst, tot, leer, verseucht und von giftigen Winden durchweht ausgesehen: was für ein Aufschrei, was für eine Anklage (wie die Brecht-Inszenierung eines Brecht-Stücks aus den Fünfzigerjahren, bei der Brecht selber einen Lachkrampf bekommen hätte).

 

Dann kam ich, in der dritten Woche, nach Schwedt (35 000 Einwohner, am deutsch-polnischen Grenzfluss Oder gelegen), der Stadt, die der stets zu Fuß reisende Reporter Wolfgang Büscher einmal als die amerikanischste Stadt des deutschen Ostens bezeichnet hatte.

In der Oder-Stadt Schwedt blieb ich fünf Tage und fünf Nächte lang. Ich wollte es echt wissen.

 

In der Altstadt: alles auffällig neu. Neues Kopfsteinpflaster; neue, nach dem historischen Vorbild von 1890 gefertigte Straßenlaternen; schöne neue Mülleimer.

Da latschte ein Glatzkopf durch die Gasse, zog an der Linken einen Fiffi, an der Rechten ein blondes Mädchen hinter sich her. Die Band Boykott würde am Wochenende ihre CD Blut in eurer Hand im Suboptimal vorstellen.

Ich fuhr gleich wieder aus der Altstadt raus, vorbei am Schild, das Richtung Bundesgrenze zeigte, über Wiesen, in denen das Wasser stand, und zwei Flüsse, die beide die Oder sein konnten. Am Deich stieg ich aus und lief – Grüße an den wandernden Märchenreporter – weit oben in die wilden Winde und die für die Jahreszeit zu heiße und verrückt helle und gleißende Aprilsonne hinein.

 

Das Land der Plattenbauten: weites Land unter weitem Himmel. Ich glaubte, die Erdkrümmung zwischen den Plattenbauten zu sehen.

Die Plattenbauten waren rötlich, bläulich, gelblich, grau und beige. Die Straße zwischen den Bauten wirkte so breit wie eine Flugschneise. Längs der Straße standen Birken, auf dem Mittelstreifen der Straße wuchs ein silbrig glänzendes Kraut. Die Rasenflächen waren graubraun. Die renovierten Plattenbauten am Waldrand hatten bunte Balkone.

Es gab wenig, dachte ich, das so widersinnig und gemein aussah wie ein renovierter und mit Geranienblumentöpfen verzierter Plattenbau, weil dem Plattenbau so das Einzige, was ihn je ausgezeichnet hatte, nämlich seine Trostlosigkeit, genommen war.

 

Flackernde Fahnenreihen.

Obi.

Real.

Dreißig Jahre Mediamarkt.

Im Camp Hotel kostete eine Übernachtung inklusive Frühstück 22Euro.

Zur PCK-Raffinerie bitte rechts einordnen.

Viele Sackgassen. Man verfuhr sich komischerweise dauernd.

 

Im Burger King im Oder-Center hieß die Frage wieder: Maxi oder Spar?

Die Kingdeals kosteten 1,99 und 2,99Euro. Auf dem zentralen Platz der Stadt, dem Platz der Befreiung, war der Polenmarkt aufgebaut. Und der Reporter las an diesem Tag zum ersten Mal den in den Kategorien Häme, Bosheit und sozialer Kälte noch mal eine ganz neue Dimension erreichenden Namen des Discount-Marktes »Mäc-Geiz«.

Schwedter Poesie, als Leuchtschrift über dem Oder-Center angebracht, lautete: »Zum Glück gibt’s Qualität zum Discount Billigpreis: Kaufland«.

Aber echt: zum Glück, ey. Da haben wir ja alle noch mal richtig Glück gehabt.

 

Der Boxverein »UBV 1948 Schwedt« lag in einem gelb gestrichenen Würfel mit der Aufschrift »Boxsporthalle Günther Jähnke«. Adidas-Fahne, Deutschland-Fahne, Brandenburg-Fahne. Vor der Halle war ein astreiner schwarzer 5er-BMW geparkt.

Vor der Glastür am Eingang, am großen Stehaschenbecher, trieben sich die Gestalten der Gegenwart herum: schmale Köpfe, die mit den seitlich wegrasierten Haaren, enge Jacken, weite Hosen, dicke Schuhe, Kapuzen über dem Kopf, Sporttasche über den Schultern.

Die Jungs guckten. Die Jungs taten selbstverständlich so, als ob sie nicht guckten, während sie guckten. Es sah vollkommen normal und harmlos aus, und es wirkte gleichzeitig supergefährlich. Die Jungs waren gut im Rauchen, Nichtgucken und Brandgefährlich-Aussehen.

Und nun geschah es, und ich erlebte die erste von vielen Spuckefaden-Theateraufführungen, auf die ich mich bei Antritt meiner Reise so gefreut hatte.

Es war ein schmales Kerlchen mit einer unglücklich langen Nase, die weit aus dem kleinen Gesicht herausstand, und einem kleinen, fliehenden Kinn. Der Junge trug einen Anzug von Adidas, der nicht für Auftritte in Diskotheken, sondern zur Ausübung echter Sportarten gemacht war. Er blieb im Kreis seiner Kumpels stehen, trat aber innerhalb des Kreises zwei kurze Schritte zurück, nahm den Oberkörper nach vorne und ließ, wie es das Spuckefaden-Schauspiel verlangte, den Spucketropfen erst auf der Unterlippe auftauchen, den Tropfen einen Faden bilden und den Faden sich so lange dehnen, bis er riss und sein unteres Ende auf dem Boden aufkam. Der Spucker blieb dann so, den Kopf nach vorne gebeugt und Mund geöffnet, noch einen Moment lang stehen, als überlegte er, einen zweiten Faden fallen zu lassen. Es kam dann aber nichts mehr.

Ich war begeistert.

Ich hatte gleich eine derartig geile Angst.

 

Trainer Bernd Bohley, eine Koryphäe unter den Boxtrainern Ostdeutschlands, gut fünfzig Jahre alt, Schnauzbartträger, von zäher und austrainierter Figur (dieser Bohley hatte seine Schützlinge über viele Jahre immer wieder in die Bundesliga und in internationale Kämpfe geführt), saß vor der Halle und rauchte eine.

Bohley sagte, er könne ein bisschen was erzählen, er tät’s nicht gerne, aber er könne es schon machen, sofern man denn eine vernünftige Frage an ihn habe, und dann sprach der Trainer gleich eine Verteidigungsrede, obwohl ihn niemand angegriffen hatte: Das mit den Nazis in Schwedt, so Bohley, das sei doch alles Pillepalle. Der Integrationsbeauftragte bei ihnen im Verein sei ein Schwarzer, gebürtig aus Mosambik, Isidor mit Vornamen, im Verein würde er aber nur Schneeball genannt. Ein feiner Kerl sei der Schneeball, und dass der Club einen Integrationsbeauftragten vorzuweisen habe, das sei ja wohl ein Zeichen.

Als Schneeball gerade, während Bohley erzählte, um die Ecke kam, forderte ihn der Trainer auf, sein Hemd zu heben und seine...

Erscheint lt. Verlag 22.9.2010
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bericht • Film • Gesellschaft • Kleinstadt-Bewohner • Langzeit-Reportage • Leben • Motitz von Uslar • Ostdeutschland • Provinz-Alltag • Stadt-Porträt
ISBN-10 3-462-30066-0 / 3462300660
ISBN-13 978-3-462-30066-6 / 9783462300666
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