Unterwegs in Potsdam
Potsdams historisches Herz
Tour 1
Willkommen im umstrittensten Stadtteil Potsdams! Die einen wünschen sich ein würdevoll-historisches Zentrum zurück. Die anderen fürchten sich vor der unaufhörlich fortschreitenden Disneylandisierung der Altstadt.
Nikolaikirche, nicht verpassen: den Aufstieg zur Aussichtsplattform Stadtschloss, hier darf man nicht nur reingehen, sondern sollte sogar Wiederauferstandene Altstadt
Rund um den Alten Markt
Wohl kein Viertel der Stadt hat in den vergangenen Jahren so sein Gesicht verändert wie das Eck um den Alten Markt. Friedrich der Große hatte den Platz einst nach dem Vorbild einer römischen Piazza anlegen lassen. Dann kamen Krieg und Zerstörung, Abriss und Wiederaufbau. „Zurück zu den Wurzeln“ heißt die Devise seit dem Mauerfall. Aus der Ödnis zu DDR-Zeiten wurde wieder ein Ort, der staunen lässt.
Rund um den Alten Markt versammelt sich auch so ziemlich alles, um das Potsdam in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten diskutiert und gestritten hat. Das Stadtschloss ist wieder da. Das Palais Barberini wurde rekonstruiert - seitdem bekommt Potsdam wieder einen regen Strom an Kunst-Nerds aus der nahen Hauptstadt und ganz Deutschland ab. Die Fachhochschule aus den 1970er-Jahren wurde abgerissen, zum Unmut derer, die in dem Nebeneinander aus DDR-Bauten und (pseudo-)barockem Protz eine spannende Melange sahen. Ein neues Wohn- und Geschäftsviertel ist auf dem ehemaligen Hochschulareal im Entstehen. Ein Häuserblock ist bereits fertig, die Eckgebäude sind nach historischen Vorbildern gestaltet (Fertigstellung aller Blöcke nicht vor 2026). Etwas weiter wurde der Turm der Garnisonkirche wieder aufgebaut (Fertigstellung voraussichtlich 2025) - so mancher wünscht sich, dass nun auch das Kirchenschiff folgt. Die Liste der Neu- und Wiederaufbauprojekte ließe sich fortsetzen. Die „Disneylandisierung der Potsdamer Innenstadt“, wie Kritiker meinen, ist noch längst nicht abgeschlossen. Sei es, wie es will: Potsdam-Touristen erwartet rund um den Alten Markt viel Spannendes. Und eine enorme Diskrepanz: Zwischen klassizistischer Pracht und klassischem Bauzaun liegen oft nur ein paar Meter. Spaziergang
Länge ca. 2 km, Dauer ca. 1:40 Std., → Karte. Wir beginnen unseren Spaziergang am Alten Markt, dem heute wieder schönsten Platz der Stadt. Auf Fotos aus den 1950er-Jahren sieht er noch wie ein Gebiss des Grauens aus: das Schloss in Ruinen, die Nikolaikirche und das Alte Rathaus ebenso. Noch leerer wurde der Alte Markt, als das Stadtschloss 1960 abgerissen wurde. Der Platz mutierte zu einer öden, weiten Fläche, über die der Wind pfiff, wie geschaffen für Großkundgebungen. Heute, nach den Rekonstruktionen, kann man dem Alten Markt eine gewisse Grandezza wahrlich nicht absprechen. Urbane Lebendigkeit will sich aber nicht einstellen. Trotz der vielen Touristen, die hier auf- und abmarschieren. Schauen wir uns um.
Rund um den Alten Markt
Dominiert wird der Platz von der Nikolaikirche mit ihrer mächtigen Kuppel. Unterhalb der Kuppel gibt es eine Aussichtsplattform. Gen Süden blickt man von dort auf Stuck und Gold rund um den Alten Markt, gen Norden auf eine Baustelle, gen Osten auf renovierte Modularbauten aus sozialistischer Zeit. Vor der Kirche steht seit Mitte des 18. Jh. ein 25 m hoher, von barbusigen Sphingen bewachter Obelisk, den der Bildhauer Benjamin Giese ursprünglich mit den Bildmedaillons preußischer Kurfürsten und Könige verziert hatte. Zu DDR-Zeiten wurde der Obelisk wegen Baufälligkeit bis auf den Sockel abgetragen und mit Marmor aus der Sowjetunion und Jugoslawien wieder aufgebaut. Seitdem schmücken ihn keine preußischen Herrscher mehr, sondern die Reliefs berühmter preußischer Architekten. Die Figuren an den Ecken stellen antike Redner dar.
Der Bau rechts neben der Nikolaikirche mit dem vergoldeten Atlas auf dem Dach ist das Alte Rathaus, heute ein Teil des Potsdam Museums. An der Südostseite, zur Alten Fahrt hin, folgt das Palais Barberini, der Promi unter den Potsdamer Palästen. Im Inneren wird hochkarätige Kunst gezeigt. Seinen würdigen Abschluss erhält der Alte Markt gen Süden durch das lachsrosafarbene Stadtschloss, dessen Rekonstruktion 150 Mio. Euro kostete. Im Schloss hat heute der Landtag seinen Sitz. An der Westseite des Schlosses, zur Friedrich-Ebert-Straße hin, erblickt man den goldenen Schriftzug „Ceci n’est pas un château“. Man kann diesen Satz, der von der Potsdamer Restauratorin Annette Paul stammt, auf unterschiedliche Weise lesen, die simpelste ist: „Das ist kein Schloss (mehr), sondern der Sitz einer demokratisch legitimierten republikanischen Institution.“ Davor steht die Ringerkolonnade, eine Kolonnade mit korinthischen Säulen. Sie war einst doppelt so lang, nur zwei der einst zwölf namengebenden Ringerskulpturen sind noch zu sehen. Potsdam im Kasten
Westlich der Nikolaikirche stand bis 2018 ein dreigeschossiger Bau der DDR-Moderne, der zuletzt die Fachbereiche Sozial- und Informationswesen der Fachhochschule Potsdam beherbergte. Das FH-Gebäude verschwand zwar. Gerettet aber wurde sein Fassadenschmuck, wabenartig miteinander vernetzte Sterne aus weiß lackiertem Aluminium, einem Origami-Kunstwerk ähnlich. Die Gegner des FH-Abrisses wählten die Sterne zum Zeichen des Protests gegen die politische Kultur in der Stadt. Selbst auf Stofftaschen wurden sie gedruckt. Heute lassen sich alte FH-Sterne an verschiedenen Orten in der Stadt entdecken. Zum Beispiel in der Bibliothek auf dem FH-Campus an der Kiepenheuerallee. Oder an dem abgerockten Gebäude der Bibliothek konte◊ :x◊ t an der Ecke Hermann-Elflein-Straße/Gutenbergstraße (der Stern hängt hofseitig zur Gutenbergstraße hin). Viel Spaß beim Sternegucken!
Entlang der Breiten Straße
Früher verband die Kolonnade das Stadtschloss mit dem Marstall auf der anderen Seite der Straßenbahnschienen. In dem imposanten Gebäuderiegel - länger als ein Fußballplatz, aber nicht mal so breit wie ein Tennisplatz - ist heute das Filmmuseum untergebracht. Wir umrunden den Marstall mit seinen zwei prächtigen Portalen samt wiehernden Pferden entlang der Breiten Straße. Auf der Rückseite des Marstalls, bei der Statue von General Steuben, biegen wir nach links in den Neuen Markt ein. Apropos Steuben. Friedrich Wilhelm von Steuben (1730-1794) war ein preußischer Offizier. Als seine Homosexualität bekannt wurde, flüchtete er nach Amerika und machte im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Karriere. Er sprach bestes Denglisch, angeblich mit „oll korrekt“ statt mit „all correct“ zeichnete er seine Papiere ab - Kurzform: „o.k.“.
Neuer Markt
Gebäude in Potsdam-Gelb, Prinzessinnenrosa und Mintgrün. Historische Straßenlaternen, die das Kopfsteinpflaster bescheinen. Der Neue Markt ist eine der charmantesten Ecken der Stadt. Gleich rechter Hand steht dort das Kabinetthaus (Hausnr. 1). Hier tagte einst das königlich-preußische Kabinett, daher der Name. Zuvor schon, genau genommen 1770, wurde darin der spätere König Friedrich Wilhelm III. geboren.
Die Häuser am Platz sind größtenteils Originale. Die Bomben des Zweiten Weltkriegs verschonten den Neuen Markt, der bereits seit 1722 so heißt. Heute sind hier Wissenschaft und Forschung zu Hause: Am Neuen Markt sitzen u. a. das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, das Moses Mendelssohn Zentrum und das Einstein Forum.
In der Mitte des Platzes steht die ehemalige städtische Ratswaage, die noch zu DDR-Zeiten in Betrieb war. Heute befindet sich darin ein italienisches Restaurant namens Waage. In der historischen Gaststätte zur Ratswaage in der Nachbarschaft hingegen serviert heute das Kochzimmer sternegekrönte Küche - also nicht den falschen Tisch im falschen Lokal buchen (mehr dazu → Essen & Trinken). Ein Durchgang - über dem Portal eine Quadriga mit Kutschern und Stallburschen - führt vom Neuen Markt in den Hof des Kutschstall-Ensembles mit dem Brandenburg Museum. Verlässt man den Hof auf der gegenüberliegenden Seite, gelangt man ins Kreativ Quartier Potsdam, einen nagelneuen Ort für die Potsdamer Kreativwirtschaft. Zum Zeitpunkt der letzten Recherche wurde hier noch mächtig gebaut, bis zu Ihrem Besuch sollten die ersten Gebäude schon eröffnet haben. Die...