Der Ruf der Lemuren (eBook)
320 Seiten
Reisedepeschen (Verlag)
978-3-96348-036-2 (ISBN)
Rebecca Gehrig ist am liebsten weit weg und draußen anzutreffen, meist mit Notizbuch und Kamera, gerne im Zelt und nie ohne Schlafsack und Kakaopulver. Sie studierte Fotografie, Biologie und Deutsch und war in Stuttgart als Lehrerin tätig. Sabbaticals nutzte sie für ausgedehnte Reisen, sehr gerne in Regenwälder. Unterwegs liebt sie das Unerwartete, die Begegnungen und die Chance, ihren Blick auf die Welt immer wieder zu erneuern.
Antananarivo
Ankommen
1
Ein paar Wochen zuvor, Ankunft in Antananarivo, aus La Réunion kommend. Ich freue mich, endlich hier zu sein und bin aufgeregt, was auf mich zukommt. Endloses Warten an der Gepäckausgabe, dann geht plötzlich alles ganz schnell. Ehe ich mich orientieren kann, stehe ich in der Flughafenhalle und werde von zwei Seiten gleichzeitig angesprochen, auf Französisch.
»Taxi?« – »Geld?«
»Nein, Danke.«
Ich soll abgeholt werden. Also raus aus der Halle, in die Mittagssonne. Überall Menschen, Lärm, Schilder. Nur keines für mich. Zurück in die Halle. Was zum Teufel will ich hier nochmal? Ausbrechen aus meinem bequemen geregelten Leben. Mich lebendig fühlen. Und endlich Lemuren in den letzten Regenwäldern Madagaskars sehen. Die koboldartigen Wesen, die mich schon als Kind fasziniert haben. Die Liebe hat gehalten. Sie ist der Antrieb zu dieser Reise. Ich werde zwei Monate in Andasibe bei der Association Mitsinjo hineinschnuppern, vielleicht Forschern über die Schulter schauen, dann die Ostküste entlang in Richtung Norden bis Masoala reisen. Also muss ich wohl wieder raus aus dem Schutz der Flughafenhalle, hinein ins Gebrodel.
Noch immer ist niemand für mich da.
Dann eben erst Geld tauschen und die Bündel auf der Toilette im Gepäck verteilen. Anschließend eine madagassische Sim-Card fürs Handy kaufen und wieder raus aus der Halle.
Noch immer sucht mich keiner. Wurzeln möchte ich hier nicht schlagen – telefonisch ist bei Mitsinjo keiner zu erreichen. Ich komme heute wohl nicht mehr nach Andasibe. Mittlerweile bin ich überzeugt, dass eine Verwechslung vorliegt, mich jemand am nächsten Tag abholen kommt. Ich suche eine Hosteladresse heraus und gebe genervt einem der jungen Männer nach, die mir seit meiner Ankunft nicht von der Seite weichen, mich zu einem Taxi zu bringen.
Der Wagen schleicht in endlosen Blechkolonnen in Richtung Stadtzentrum. An mir ziehen saftig grüne Reisfelder vorbei, dazwischen sehe ich das erste Mal rote Erde. Ich lehne mich zurück und blicke ins Gewimmel vor und neben dem Taxi. Autos, Menschen, Hunde, Verkaufsstände. Bretterbuden und nach wie vor endlose Blechkolonnen. Der schmächtige, ältere Fahrer erklärt mir den Begriff »embouteillage« – Stau. Dann klingelt sein Handy.
Nach wenigen Sätzen reicht er es an mich weiter und sagt: »Für dich.« Ich bin seit drei Stunden in Madagaskar. Wer soll mich hier jetzt sprechen wollen?
Bevor ich den Gedanken zu Ende führen kann, begrüßt mich eine Stimme mit den Worten: »Ich bin jetzt da.«
»Aha?«
Wer ist jetzt bitte wo? Nach und nach verstehe ich. Joro, der Fahrer aus Andasibe, ist eingetroffen und sucht mich am Flughafen. Dort bin ich drei Stunden nach meiner Ankunft nicht mehr anzutreffen. Also fragte er die Taxifahrer, ob mich jemand gesehen habe, telefonierte dann die Taxis ab. Letztlich landete er im richtigen Wagen und bekam mich an die Strippe.
»Fährst du jetzt mit diesem Taxi nach Andasibe?«
»Nein, nur ins Hostel.«
»Dann kannst du ja den Wagen wechseln und mit mir nach Andasibe fahren.«
Die weiteren Verhandlungen über einen geeigneten Ort zum Umsteigen überlasse ich den Fahrern.
Das Taxi biegt nach beendetem Gespräch kurzerhand ab, der Fahrer erklärt mir, er fahre außen herum, um den Blechlawinen zu entkommen. Wir bewegen uns auf schmalen Wegen. Erst zwischen Reisfeldern, dann entlang eines Flusses, an dem Menschen Ziegel herstellen. Mittlerweile türmen sich neben unserem Auto brennende Müllkippen. Auf den Müllbergen suchen barfüßige Kinder nach brauchbaren Abfällen. Ich werde im Autositz immer kleiner. Der Taxifahrer verkündet so ungerührt, wie er mir zuvor erklärt hat, dass das neben dem Autofenster Reisfelder seien: »Wir fahren durch ein ärmeres Wohngebiet.« Ja, so viel habe ich selbst auch schon verstanden. Ich hatte im Vorfeld davon gelesen, dass es in Antananarivo Familien gäbe, die auf dem Müll lebten. Doch zwischen dem Wissen und dem Sehen und Begreifen besteht ein großer Unterschied. Plötzlich bekommen die abstrakten Vorstellungen von Armut und Elend Gesichter. Der beißende Rauch des brennenden Mülls lässt mich husten und meine Augen tränen. Ich kurble das Fenster zu und schäme mich gleichzeitig für mein Verhalten. Und dafür, hier mit dem Taxi durchzufahren. Nein, ich hatte keine Stadtrundfahrt wollen. Nie dem Taxifahrer gesagt, er solle mich durch die Müllkippen fahren. Und trotzdem schäme ich mich. Kann nicht länger übersehen, dass es eine Verbindung gibt zwischen meinem Wohlstand und ihrem Mangel.
Schließlich ist der Treffpunkt erreicht, ich kann die Taxis wechseln. Der Wagen reiht sich wieder ein in die Kolonnen, wir schieben uns Meter für Meter in Richtung Osten, aus der Stadt heraus.
Bevor wir Tana, die von Madagassen gerne verwendete Abkürzung für Antananarivo, hinter uns lassen, legt Joro einen ersten Zwischenstopp ein. Kauft eine Pizza für »seine Mädels« – seine zwei Töchter. Kurze Zeit später ein zweiter Stopp an einem Supermarkt, zwei Halbliterdosen Bier – für uns. Meine erste Begegnung mit THB, Three Horses Beer – der bekanntesten Biermarke Madagaskars. Dann, mit Bier und endlich erreichter Stadtgrenze, gibt er ordentlich Gas. Ich lasse mich in den Beifahrersitz zurücksinken und blicke nach draußen.
Aus dem CD-Laufwerk tönt Céline Dion mit »Hero«. Eigentlich hatte ich mir den Soundtrack meiner ersten langen Fahrt durch Madagaskar anders vorgestellt. Weniger süßlich. Doch gut, mit Bier in der Hand und Blick nach draußen. Reisfelder, dann rote Erde und grüne Hügel, es wird bergiger, das Licht schwindet, die Nacht beginnt. Ich freunde mich mit Céline Dion an.
Nächster Zwischenstopp: Moramanga, eine lebhafte kleine Stadt. »Kauf hier etwas zu essen, in Andasibe gibt es nachher nichts mehr«, rät mir Joro. Stimmt, mein Magen ist leer. Seit dem Frühstück nichts als etwas Wasser und das Bier. Ich bin so mit dem Verdauen der Eindrücke beschäftigt, dass in meinem Magen kein Platz für Essen ist. Trotzdem kaufe ich Bananen, zwei Hörnchen und zwei Schneckennudeln. So ist auch fürs Frühstück gesorgt.
Joros Bruder steigt zu, um jetzt, abends, schnell bis Andasibe mitzufahren. Ich sehne mich danach anzukommen und schlafen zu dürfen, habe Kopfschmerzen. Kann mich kaum noch zur Unterhaltung aufraffen. Wenn ich müde bin, fehlen mir auf Französisch die Worte.
Endlich in Andasibe angekommen, ist Etienne, der Betreiber des Guesthouses, in dem ich für die nächsten zwei Monate ein Zimmer habe, nicht zuhause. Warten … Die Zeit überbrücken wir mit einer Rundfahrt durchs schlafende Dorf. Joro zeigt mir sein Haus und fährt einen Hügel hinauf zu seinem Laster, der dort bewacht wird. Ja, er fährt nicht nur Personen, sondern mit seiner Zugmaschine alles Mögliche kreuz und quer durch Madagaskar.
Nach einer Weile ist auch Etienne da, ich bekomme mein Zimmer und sinke ins Bett.
Am nächsten Morgen nehme ich mein Zimmer genauer in Augenschein. Ich hatte drei zur Auswahl, entschied mich für ein gelb gestrichenes, mit hellen Holztüren. Das sah im Dunkeln sehr hübsch aus. Dass das kleine Fenster des Zimmers eher der Verschönerung als der Beleuchtung dient, wird jetzt deutlich. Es geht auf den überdachten Innenhof hinaus. So bin ich die nächsten Wochen immer bestens informiert, wer ins Haus hineingeht und herauskommt, Tageslicht ist dagegen Mangelware.
An Licht an sich mangelt es hingegen nicht. Eine Neonröhre befindet sich im Hof, bei den Treppen. Direkt vor meinem Fenster. Sie geht per Bewegungsmelder an, sobald jemand die Stufen verwendet. Die nächsten Tage hänge ich mir nachts ein Tuch ins Fenster, um nicht jedes Mal aufzuwachen, wenn jemand die Treppe betritt. Das Zimmer wechseln möchte ich nicht, denn die anderen Zimmer teilen sich ein Bad auf dem Gang.
2
»Bonjour Rebecca!« Als ich am nächsten Morgen den Aufenthaltsraum betrete, erhebt sich ein junger Mann am Tisch, tritt feierlich auf mich zu und schüttelt mir die Hand.
»Ich bin Serge, ich möchte dich im Namen von Mitsinjo herzlich willkommen heißen. Ich hoffe, du hattest eine angenehme Anreise?«
»Bonjour, Serge! Danke, ich bin gut angekommen.«
Wir lassen uns am Tisch nieder. Ich kann mich nur mühsam bremsen. Möchte gerne sofort loslegen. »Serge, wo soll ich denn mitarbeiten? Kann ich gleich mitkommen?«
Serge lässt sich von meiner Unruhe nicht beeindrucken. Er sieht mich an und antwortet gelassen: »Nun ist erstmal Wochenende. Komm’ in Ruhe an. Vielleicht möchtest du nachher eine Runde durchs Dorf laufen. Am Montag lernst du dann den Präsidenten der Association Mitsinjo kennen. Er kümmert sich darum, was du tun kannst.«
Irgendjemand muss Serge von meinem Fehlstart am Flughafen berichtet haben, denn er fügt kryptisch hinzu: »Hier läuft manches anders ab als bei dir zuhause«. Doch er lächelt dabei. Dann verabschiedet er sich von mir und geht.
Ich widme mich etwas enttäuscht meinem Frühstück. Nun sitze ich also zwei Tage hier fest. Dabei hätte ich mir gewünscht, dass es endlich los geht. Ich erfahre, was ich machen kann, wo ich eingesetzt werde. Nun das. Ich wollte so schnell wie möglich in den Wald. Lieber gestern als morgen. Fiebere diesem Moment seit Jahren entgegen. Und nun soll ich wieder warten.
Gut – Ungeduld zu zeigen gilt in Madagaskar als unhöflich. Wahrscheinlich war ich gestern schon unhöflich genug, als...
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen |
ISBN-10 | 3-96348-036-X / 396348036X |
ISBN-13 | 978-3-96348-036-2 / 9783963480362 |
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