Der blaue Lampion (eBook)
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02138-9 (ISBN)
Dennis Gastmann, geboren 1978 in Osnabrück, hat alle Kontinente bereist - als Schriftsteller, Filmemacher und «Guerilla-Korrespondent» der ARD-Auslandsmagazine. Er reiste «Mit 80.000 Fragen um die Welt» (2011), begegnete Heiligen und Hexern, Asketen und Oligarchen, und wanderte zu Fuß über die Alpen, um seine Sünden zu büßen («Gang nach Canossa», 2012). Seine Reportagen wurden mehrfach preisgekrönt und dreimal für den Grimme-Preis nominiert. Für den «Atlas der unentdeckten Länder» (2016) besuchte er die letzten unbekannten Orte der Erde, für «Der vorletzte Samurai» (2018) erkundete er Japan. Zuletzt erschien «Dalee», sein erster Roman. Dennis Gastmann lebt in Hamburg und arbeitet in der ganzen Welt.
Dennis Gastmann, geboren 1978 in Osnabrück, hat alle Kontinente bereist – als Schriftsteller, Filmemacher und «Guerilla-Korrespondent» der ARD-Auslandsmagazine. Er reiste «Mit 80.000 Fragen um die Welt» (2011), begegnete Heiligen und Hexern, Asketen und Oligarchen, und wanderte zu Fuß über die Alpen, um seine Sünden zu büßen («Gang nach Canossa», 2012). Seine Reportagen wurden mehrfach preisgekrönt und dreimal für den Grimme-Preis nominiert. Für den «Atlas der unentdeckten Länder» (2016) besuchte er die letzten unbekannten Orte der Erde, für «Der vorletzte Samurai» (2018) erkundete er Japan. Zuletzt erschien «Dalee», sein erster Roman. Dennis Gastmann lebt in Hamburg und arbeitet in der ganzen Welt.
Die Göttin im Sari
An den Ufern des Ganges
Sie hatte die Anmut einer Tänzerin, das Kreuz einer Athletin und die Aura eines Tigers. Ihre Hände waren Klauen, schwer von Juwelenringen, ihre Finger dabei so feingliedrig und zart, dass sie beinahe fleischlos wirkten. «Ich habe sie als Kind in die Zuckerrohrmaschine gesteckt, um den Saft herauszupressen», sagte sie mit einem Lächeln, das im Nu auf ihren bemalten Lippen erstarb. Laxmi Narayan Tripathi lehnte auf einer Thronbank, rührte lasziv in einer Schale voll Münzen und ließ sich die Zehen von den Männern küssen, die auf Teppichen zu ihren Füßen knieten. Sie galt als göttliches Wesen, geweiht von Rama, dem Quell aller Freude. Wohlgelaunt war sie jedoch nicht.
«Wer wagt es?», rief die Göttin und bäumte sich urplötzlich über den Köpfen der Kauernden auf. Sie musste sich nicht in voller Gestalt erheben, um größer zu erscheinen als die Gläubigen in ihrem goldenen Zelt. Laxmi reckte lediglich den Hals, an dem Gebetsketten schwangen, und straffte den majestätischen Bauch, der sanft unter ihren Gewändern wogte. Schon verstummte jedes Wort, und nur mehr die Nacht war zu hören, die Tempelglocken, die mantrischen Gesänge und das Hundegebell, während ihr suchender Blick durch die Reihen schweifte. So weich ihre Züge waren, wenn sie göttliche Antworten auf irdische Fragen gab, so scharf konnte ihre Zunge sein, wenn sich ein Sterblicher in ihrer Gegenwart ruchlos benahm. Und dieser Jemand war dummerweise ich.
«Wer hat dir erlaubt, meine Seele zu rauben?», sagte Laxmi und richtete ihren Zorn auf mich. Während sie aus der Höhe ihres Throns auf mich herabsah, schien das dritte Auge auf ihrer Stirn zu leuchten, das Zeichen Shivas aus verstrichener Asche und Sandelholzpaste. Die Göttin trug so viel Farbe auf den Wangen, als wollte sie ihr Antlitz hinter Purpur, Safran und flammendem Orange verbergen. Perlen zierten ihre Nasenflügel, wilde Locken wallten ihre Schultern hinab bis zu den Hüften, und es war ein Wunder, dass sie nicht unter dem Gewicht ihrer Goldarmreife zusammenbrach. Mit all dem Schmuck, der Ring an Ring von den Handgelenken bis zu den Ellenbogen reichte, kaschierte sie die Male ihres früheren Lebens, Tätowierungen, kräftige blaue Adern unter der Haut und so manches störrische Haar. Welcher Reporter aus dem Abendland wäre da nicht in Versuchung geraten? Wer hätte nicht in dieser Nacht am Ganges zur Spiegelreflex gegriffen und ausgelöst, nur ein einziges Mal, so laut der Apparat auch schnappte?
«Wenn ich wollte, könnte ich dich ins Gefängnis werfen», raunte die Göttliche mit einer Stimme, die unheilvoll zwischen hell und dunkel schwankte, während ich die Fotokamera unter meinem Arm verschwinden ließ. «Ich kann ein gutes Mädchen sein, hörst du? Aber auch ein sehr, sehr böses Mädchen. All das dient meinem Zweck.»
Ranjit war schuld. Wer sonst? Ranjit Kumar Pandey, der neben mir kniete und zu den geweihten Füßen der Furie demütig die Augen niederschlug. Ich liebte den Kerl. Ranjit war der beste Kundschafter, dem ich je in Indien begegnet bin. Gleichzeitig wünschte ich ihn zum Mond, weil er mich immer wieder, höflich gesagt, in Misslichkeiten verstrickte. Und diesmal hatte mich mein Freund so tief in die Scheiße geritten wie noch nie.
Ranjit war Ranjit, mit all seinen Vorzügen und Fehlern. «Go on, take pictures!», hatte er mir geraten und freundlich den Kopf hin und her gewiegt. «No problem, Mister Denish.» Er sei der Göttin im Sari schon häufiger begegnet und wisse, mit welchem Genuss sie vor der Linse eines Fotografen posiere. Nun aber hieß es aus seinem Mund, er habe Laxmi im Leben noch nicht gesehen. «Nur im Fernsehen», flüsterte er mir zu und schaute mich dabei mit so großen, runden, kindlichen Augen an, dass ich ihm ebenso gerne einen Kuss auf die Wange gegeben hätte, wie ihm links und rechts eine zu verpassen. Ranjit, der Gauner, hatte mich in das goldene Zelt gelockt. Und wie um Himmels willen brachte er uns wieder heraus?
Beginnen wir die Story mit Philosophie. Und mit ein wenig Zynismus. Zwei Dinge, die in diesem Teil der Welt denkbar eng miteinander verflochten sind. «Ich lebe nicht in Indien», sinnierte Ranjit, wenn wir durch die Gassen seines Landes streiften, von guten und bösen Gerüchen umgeben. «Meine wahre Heimat ist der Kosmos.» Und so unbegreiflich das Universum für uns Menschen schien, die auf dem blauen Lampion wandelten, so verschlungen konnten auch die Wege an seiner Seite sein.
Ich lernte Ranjit in Varanasi kennen, der «City of Learning and Burning», wie er den Ort seines kurzen irdischen Daseins nannte. Die wichtigste Lehre der heiligen Stadt schien das Loslassen zu sein. Jeden Morgen sahen wir Familien aus den Dörfern kommen, die ihre Toten auf den Schultern trugen. Sie brachten den Leichnam, in weißes Tuch gehüllt, zu den ascheschwarzen Treppen des Ganges und übergaben ihn dort den Flammen. War das Feuer heruntergebrannt, schlugen sie dem Verstorbenen den Schädel ein, um seine Seele zu befreien. Danach verlor sich ihr Blick in der Glut, während den Betrachtern ein seltsamer Barbecue-Geruch in die Nase stieg. Das Leben ist eine Brücke, heißt es in Indien. Überquere sie, aber baue keine Häuser darauf.
Varanasi war die Stadt von Licht und Schatten, und Ranjit war ihr Prophet. Als ich ihn einmal traf, um die Ghats und Tempeltürme in der schwindenden Sonne über Mutter Ganga zu fotografieren, entführte er mich lieber in ein Museum. «Denish, stell dir vor», sagte er und deutete auf verstaubte Steintafeln im Neonlicht, «Krishna hat uns dieses Wissen vor fünftausend Jahren geschenkt, ist das zu glauben?» Danach zitierte er aus den Inschriften der alten Veden, bis es finster war. Ein andermal, als mich Varanasi und seine ländlichen Gefilde so inspirierten, die Senffelder, die Neembäume, die Wasserbüffel, der aufgestapelte Kuhdung am Straßenrand, die halsbrecherischen Milchmänner mit ihren Kannen und Krügen am Fahrradlenker, gähnte er bloß und murrte: «Come, we go.» An solchen Tagen landeten wir früher oder später im Souvenirladen eines Freundes, in einem Haus für ayurvedische Heilessenzen oder im, wörtlich zitiert, «Cum Inside Show Room» eines umtriebigen Kaschmirhändlers, der auf seiner Visitenkarte mit dem Slogan warb: «God made men. I make gentlemen.»
Immerzu erklärte ich meinem Gefährten, ich sei auf der Suche nach Geschichten, nicht nach Geschenken für zu Hause. Und Ranjit? Er gab sich regelmäßig enttäuscht. Ich sei anscheinend noch nicht bereit für die wahre Magie seines Landes, machte er mir weis. «Deinem Schicksal kannst du nicht entfliehen», orakelte er und legte die Hände wie zum Gebet zusammen. «Alles im Sein ist vorbestimmt, jeder Gewinn, jeder Verlust auf Erden. Du wirst deine Geschichte nicht finden, mein Freund. Sie findet dich.»
Und so führte uns das Schicksal in ein goldenes Zelt. Zunächst jedoch in den Stau meines Lebens. Die Reise von Varanasi nach Prayagraj, vormals Allahabad, der Stadt, wo die Götter wohnen, werde uns zwei Stunden kosten, hatte Ranjit geschätzt. Vielleicht auch drei, je nach Wetterlage, Verkehr und Karma, er wolle sich lieber nicht auf die Minute festlegen, sagte mein Freund. Ein weiser Entschluss, denn aus zwei Stunden wurden letztlich zwölf. Ein sattes Dutzend quälender Autostunden auf Schotter und Asphalt, weil sich Ranjit aus spirituellen Gründen dazu entschloss, an einem Sonnabend aufzubrechen. Wie sich zeigte, gehörten die Wochenenden auf den Straßen jedoch den indischen Hochzeiten und ihren grell beleuchteten Festwagen, die mit Tanz, Musik und Scharen von Gästen wie selbstverständlich die Fahrspur blockierten. Nach den ersten drei Stunden am Steuer summte Ranjit besänftigende Lieder, die er aus Filmen kannte. Nach sechs Stunden stiegen wir gemeinsam aus und schlossen uns kurzerhand einer ekstatisch feiernden Hochzeitsgesellschaft zum Hüftschütteln an. Nach neun Stunden hielt Ranjit bei einem fliegenden Händler an und kaufte mir einen Maharajahut mit falschen Edelsteinen und Perlen, den ich samt Schleppe auf dem Kopf balancierte, bis es schien, als wären wir nach elf geschlagenen Stunden endlich an unser Ziel gelangt. Dann jedoch fuhr sich der Wagen zu allem Unglück fest. Er steckte so tief im Sand, dass wir zu Fuß weiterzogen.
Wir besuchten die Kumbh Mela, das größte Fest der Menschheit. Es erstreckte sich über Monate und viele Meilen hinweg am Gangesufer. Hundert Millionen Menschen pilgerten nach Prayagraj, um ein Bad in der Unsterblichkeit zu nehmen. Dort, wo sich Mutter Ganga mit den heiligen Wassern des Yamuna vereint und die Kraft des Göttlichen allgegenwärtig ist, wie es heißt. Einhundert Millionen Gläubige, angeführt von Mönchen und Asketenorden. Diese Zahl nannte mir Ranjit, während wir von einer Brücke aus über die Zwillingsflüsse und die glimmenden Lichter der Zeltstadt blickten, die nicht zu enden schien. Nur der Himmel weiß, wie viele Männer, Frauen und Kinder es wirklich waren. Bei Tage wuschen sie sich von ihren Sünden rein, um den Kreislauf des Lebens zu durchbrechen – in der Hoffnung, die Strafe einer weiteren Geburt möge an ihnen vorübergehen, denn wer lebt, der kämpft. Nachts, wenn die Kälte über das Ufer kroch, kauerten sie sich unter Tüchern, Wolldecken, Teppichen und Planen zusammen, Leib an Leib gepresst bis zur erlösenden Morgensonne, so der Allmächtige ihnen gnädig war.
Ich wollte nur noch die Augen schließen, als wir unser Quartier erreichten. Ein hoch umzäuntes, rund um die Uhr bewachtes Camp für Journalisten, Fotografen, Yogafreunde, Maharishijünger, Meditationsgruppen im spirituellen Wachstum und andere Sinnsuchende aus dem verwöhnten Westen....
Erscheint lt. Verlag | 13.8.2024 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte |
Schlagworte | Abenteuer • Afrika • Amerika • Andalusien • Asien • Auslandsreporter • Australien • Finnland • Hamburg • Indien • Japan • Kalifornien • Namibia • New York • Reise • Reisebericht • Reiseliteratur • Reisereportage • Russland • Sri Lanka • Südwestafrika • Taiwan • Welt • Weltreise |
ISBN-10 | 3-644-02138-4 / 3644021384 |
ISBN-13 | 978-3-644-02138-9 / 9783644021389 |
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