Der Rucksack war nie mein Zuhause (eBook)
352 Seiten
Conbook Verlag
978-3-95889-471-6 (ISBN)
Johannes Thon ist Sozialpädagoge und wollte eigentlich nie Autor werden. Doch heute folgt er dem Leitsatz »Wenn du ein Schriftsteller sein willst, dann musst du das Leben eines Schriftstellers führen«. Denn er ist überzeugt: manchmal verlangt eine Geschichte einfach danach, erzählt zu werden.
Johannes Thon ist Sozialpädagoge und wollte eigentlich nie Autor werden. Doch heute folgt er dem Leitsatz »Wenn du ein Schriftsteller sein willst, dann musst du das Leben eines Schriftstellers führen«. Denn er ist überzeugt: manchmal verlangt eine Geschichte einfach danach, erzählt zu werden.
TAG 1
Externe Vollbremsung
Ich habe eine Gardinenstange in der Hand. Eigentlich ist es bloß ein Ast – aus dem Garten meiner Nicht-Mehr-Freundin, um ganz genau zu sein. Er war das wanderstabähnlichste, was ich in meiner Noch-Wohnung finden konnte. Ohne Gardine, dafür etwas gekürzt und vertikal gehalten, und schon sieht man aus wie jemand, den man nicht mehr ernst nehmen kann. Der Kontextwandel von Ast zu Gardinenstange zum Pseudowanderstab erfährt nun mit dem Ziel von Santiago de Compostela eine Komplettfinalisierung in einen Pilgerstab. Demzufolge bin ich mit ihm in der Hand ein Pilger.
Fühlen tue ich mich allerdings nicht so. Möglicherweise liegt es daran, dass ich mich noch mitten in der Warteschlange des DB-Informationsschalters befinde.
Schon am Morgen, als mir das erste Ausrufezeichen ins Gesicht leuchtete, erahnte ich, dass ich hier bald stehen würde. Der Anschluss könne möglicherweise nicht erreicht werden, hieß es. Grund dafür sei die Unwetterlage über Deutschland. Es klebte also von Anfang an der Zeitdruck wie ein Aneurysma im Fahrplan und wartete nur darauf zu platzen. Und das tat er dann schließlich auch: »Sehr geehrte Fahrgäste, unser Zug hat aktuell eine Verspätung von zwölf Minuten. Alle Fahrgäste, die weiter nach Paris wollen: der Anschlusszug kann leider nicht auf uns warten. Nächster Halt: Bad Wasweißich.«
Ob ich, der noch nach Paris wollte, nun warten könne, fragte man natürlich nicht. Meine Antwort wäre ein empörtes ›Äh nein‹ gewesen, denn ich musste ja heute noch über eintausend Kilometer Luftlinie hinter mich bringen.
In der Warteschlange nehme ich indessen die Poleposition ein.
»Hallo. Ich bin auch einer der Fahrgäste, die nach Paris wollen und den Anschlusszug nicht mehr bekommen haben«, versuche ich das Gespräch vorab auf ein Minimum zu reduzieren. Zwei regungslose Augen eines mittelalten Mannes schauen mich einige Wimpernschläge lang an, und zwischen ihnen spiegelt sich die Blankoseite seiner Lösungsvision.
»Na, der Zug von Karlsruhe nach Paris konnte nicht auf uns warten und ich brauche jetzt neue Fahrkarten von Karlsruhe nach Paris und von Paris nach Hendaye«, führe ich weiter aus. Doch die Augen meines Gegenübers verändern sich nicht. Ihr Träger scheint offenbar keinen blassen Dunst zu haben, wovon ich rede. Den letzten Versuch, hier ohne ausgiebige Problembeschreibung davonzukommen, sehe ich darin, ihm meinen Fahrplan aufgefächert auf den Tresen zu legen.
»Hm.« Die erste wirkliche Reaktion. »Damit müssen Sie zum DB-Reisezentrum.«
»Wo finde ich das denn?« Seine Antwort, repräsentiert durch ein Fuchteln mit seinem Kugelschreiber, verweist mich auf einen knapp sieben Meter entfernten Glaskasten. Von außen wirkt dieser wie ein zu volles Aquarium. Von innen auch. Ich ziehe die Nummer 79 (aktuell blinkt 39) und dann sitze ich müde wie ein schlechtgezeichneter Cowboy zwischen all den Reisenden.
Die Minuten rollen indessen dahin und meine potentiellen Züge gleich mit. Trampen ist wahrscheinlich die einzig ordentliche Art des Reisens, denke ich mir, während ich meinem Sitznachbarn beim Ausziehen meiner Pilgeruniform einen Nierenschlag verpasse. Ich wäre nicht überrascht, wenn er das Gleiche denken würde.
Doch dann endlich. Bing Bing.
»Guten Tag, was kann ich für Sie tun? Also nach Paris wollen Sie… Ach ja und dann noch weiter… einmal durch Frankreich… bis Spanien… nun gut… 15:32 Uhr fährt der nächste Zug nach Paris«, informiert mich ein hektisch klickender DB-Reisezentrumsexperte. »Aber nach Hendaye werden Sie… warten Sie! Nein, also Hendaye werden Sie heute nicht mehr erreichen. Der letzte TGV ist bereits ausgebucht.«
»Ich werde also in Paris stranden?«, frage ich und habe das Gefühl, dass seine Antwort meine Stimmung nachhaltig beeinträchtigen könnte.
»Warten Sie…«, beginnt er, klickt noch zwei weitere Male (wahrscheinlich fährt er bereits seinen Computer herunter) und sagt dann schließlich: »Ja.«
»Und… und wie geht es dann weiter? Also für mich? Dann brauche ich ja ein Hotel und neue Fahrkarten für morgen«, stelle ich fest und spüre, wie mich jemand aus meiner Komfortzone schubst.
»Klären Sie das einfach mit den französischen Kollegen in Paris. Ja? Die stellen sich da manchmal etwas an, da sollten Sie hartnäckig bleiben. Guuut. Also dann. Gute Fahrt«, sagt mein Gegenüber, klopft routiniert meine Karten zusammen und drückt schon mal auf den Nächste-Nummer-Knopf. Bing Bing.
Großartig! Das beginnt ja wirklich großartig! Nicht nur, dass mir die zwölf Minuten Verspätung fast zehn Mal so viel Wartezeit bescheren, ich verliere auch einen ganzen Tag in Spanien. Zudem darf ich mich noch heute mit der französischen Bahn streiten. Wenn ich dort als Verlierer herausgehe, wird meine ohnehin schon leichte Reisekasse gleich noch etwas leichter, und das alles, bevor ich nur einen einzigen Meter an der spanischen Nordküste unterwegs war.
Genervt suche ich mir einen Platz im Grünen. Zwischen einer Schnellstraße und einem Gütergleis findet sich ein kleiner Fluss. Nicht besonders ruhig, dafür aber grün – zumindest die Farbe des Wassers.
Nun sitze ich hier mit meinem Rucksack und einer Gardinenstange zwischen den Beinen und mache nichts. Einfach maln i c h t s.Für gewöhnlich mache ich nämlich alles gleichzeitig. Das fängt morgens schon an, wenn ich das Müsli mit einem Podcast zusammenmische, die Nahrungsaufnahme von einer Serie begleiten lasse und nebenbei noch die Schlagzeilen am Telefon überfliege. Finde ich alles ganz normal. Die Synapsen verwandeln sich zu mehrspurigen Highways ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, ohne Standstreifen und ohne Lärmschutzzeiten. Dem Gehirn bloß keine Sekunde im Leerlauf geben – oder anders gesagt: Die Vlogs und Blogs werden zum Schmerzmittel für den Geist. Hier und jetzt bin ich auf Entzug.
Es wundert mich daher kaum, dass ich diesen Moment ›im Grünen‹ trotz des losbrechenden Berufsverkehrs zu meiner Linken und der ächzenden, mit Baumstämmen beladenen Waggons zu meiner Rechten als beruhigend empfinde. So sehr ist mein Gehirn offenbar überreizt.
Vierundvierzig Tage liegen nun vor mir und der Zeitpunkt könnte kaum besser sein. Vor knapp drei Monaten kündigte ich meinen Job und vor drei Wochen neigte sich das Haltbarkeitsdatum meiner Beziehung dem Ende entgegen. Eigentlich müsste ich jetzt vor einem Textdokument mit dem Titel »Masterarbeit« sitzen, jedoch hielt ich es in meiner Noch-Wohnung nicht mehr aus. Ich musste weg – weg von dem Ort, der nun nicht mehr mein Zuhause war. Es schien an der Zeit zu sein, die mentalen Kennwörter zurückzusetzen, den eigenen Beipackzettel auseinanderzufalten, was anderes zu sehen, zu fühlen und zu hören. Bisher klappt das so mittelgut.
Die Audiospur der Infrastruktur hake ich an dieser Stelle schon mal ab und werde ihr ab sofort aus dem Weg gehen. Es sollte ja eigentlich nicht so schwer sein, wenn ab morgen eine Himmelsrichtung bloß noch aus Wasser besteht.
Während rechts von mir ein Güterzug entgleist (zumindest klingt es so), frage ich mich, wie sich wohl der Camino anhört. Damit meine ich nicht etwa, wie das Meer gegen die Felsen klatscht oder sich der Wind in den Baumkronen verfängt, sondern wie der Herzschlag eines Jakobsweges klingt, dem so immens viel nachgesagt wird. Vielleicht gleicht er dem tiefen Freiheitsgedröhne eines ablegenden Containerschiffes, wobei… wahrscheinlich einige Schaltstufen unaufdringlicher, eher wie das Papierdrachengeraschel am ersten Herbsttag.
Bevor ich dies in Spanien herausfinden kann, plärrt aber erst einmal eine Dosentelefonqualitätsdurchsage über den Bahnsteig, den ich gerade wieder betrete. Der Zug habe noch eine halbe Stunde Verspätung. Kombiniert mit meinem abenteuerverneinenden Leitsatz ›Lieber ein paar Minuten früher da sein‹ werden daraus jetzt 60 (!) Freiminuten.
Immerhin nehmen in diesem Moment drei junge Französinnen neben mir auf der Bank Platz. Das Blatt scheint sich zu wenden, ah nein, nur sie tun es – und zwar von mir ab. In den Genuss, der schönsten Sprache der Welt lauschen zu dürfen, komme ich dennoch. Wenn mich jemand fragen sollte, wie viele Wörter sie in jener Stunde sprachen, dann würde ich zweifelsfrei sagen: alle. Und so erlebe ich die Unterhaltung neben mir letztlich als das Pendant zum Knoblauch: So schön es auch ist, irgendwann wird es doch zu viel. Umso erleichterter bin ich, als endlich der komplett überfüllte ICE vorfährt und mich kurz darauf durch Frankreich schießt.
In den nächsten Wochen sollen ziemlich genau 831 Kilometer auf mich warten. Was...
Erscheint lt. Verlag | 7.9.2023 |
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Verlagsort | Neuss |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Europa |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Abenteuer • Camino • Generation Z • Jakobsweg • Pilgern • Reiseerzählung • Selbstfindung • Spanien |
ISBN-10 | 3-95889-471-2 / 3958894712 |
ISBN-13 | 978-3-95889-471-6 / 9783958894716 |
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