Gebrauchsanweisung für Masuren (eBook)
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60280-8 (ISBN)
Andreas Kossert, geboren 1970, studierte Geschichte, Slawistik und Politik. Der promovierte Historiker arbeitete am Deutschen Historischen Institut in Warschau und als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der »Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung«. Auf seine historischen Darstellungen Masurens und Ostpreußens erhielt er begeisterte Reaktionen. Von ihm erschienen zudem der Bestseller »Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945«, »Ostpreußen. Geschichte einer historischen Landschaft« und zuletzt der viel besprochene Band »Flucht. Eine Menschheitsgeschichte«, für den er 2020 mit dem NDR KULTUR Sachbuchpreis und 2021 mit dem Preis für »Das politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet wurde. Zudem war der Band 2021 für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Für seine Arbeit wurde dem Autor der Georg Dehio-Buchpreis verliehen. Seine »Gebrauchsanweisung für Masuren« wurde in der Kategorie »Das besondere Reisebuch« mit dem ITB BuchAward 2023 ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Andreas Kossert, geboren 1970, studierte Geschichte, Slawistik und Politik. Der promovierte Historiker arbeitete am Deutschen Historischen Institut in Warschau und als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der »Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung«. Auf seine historischen Darstellungen Masurens und Ostpreußens erhielt er begeisterte Reaktionen. Von ihm erschienen zudem der Bestseller »Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945«, »Ostpreußen. Geschichte einer historischen Landschaft« und zuletzt der viel besprochene Band »Flucht. Eine Menschheitsgeschichte«, für den er 2020 mit dem NDR KULTUR Sachbuchpreis und 2021 mit dem Preis für »Das politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet wurde. Zudem war der Band 2021 für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Für seine Arbeit wurde dem Autor der Georg Dehio-Buchpreis verliehen. Er lebt und arbeitet in Berlin.
In die Masuren?
Bereits eine Reise nach Masuren beginnt häufig holprig. Daran sind jedoch keinesfalls die Straßen schuld. Es holpert vielmehr bei der deutschen Grammatik. Jahrzehntelang beschäftige ich mich nun schon mit Masuren und stoße weiterhin auf dieses leidige Ärgernis, dem aus unerfindlichen Gründen nicht beizukommen ist. »In die Masuren« ist häufig zu lesen. Der falsche Artikel stammt aus dem Polnischen, wo diese Landschaft tatsächlich nur in der Mehrzahl existiert. Deshalb lautet ein bekanntes polnisches Lied über Masuren Hej, Mazury, jak wy cudne, was übersetzt bedeutet »Hej, Masuren, wie seid ihr wunderschön.« Anders verhält es sich jedoch im Deutschen, wo Masuren im Singular steht. Ich möchte Sie in diesem Band deshalb herzlich einladen, mit mir »nach Masuren« zu fahren. Dessen ungeachtet, sprechen selbst Feuilletons und Reiseseiten deutscher Zeitungen unbeirrt von »den« Masuren; auch Reisebüros bewerben häufig Fahrten »in die Masuren«, als würde man frontal in mehrere masurische Menschen fahren.
Die Verwendung des falschen Artikels spricht Bände über den Umgang der Deutschen mit dieser Region. Man kann über die Gründe nur spekulieren. Ist es Gleichgültigkeit oder Ahnungslosigkeit? Vielleicht sogar kulturelle Überheblichkeit gegenüber Landschaften im östlichen Mitteleuropa, die für viele Deutsche anscheinend nur irgendwo »dahinten« liegen? Stellen Sie sich vor, Sie würden in Ihrem Freundeskreis berichten, Sie seien »auf die Toskana« oder »nach Provence« gefahren. Garantiert träfe Sie ein empörter Aufschrei oder ein mitleidiges Lächeln, Sie würden sich womöglich den Vorwurf eines ungebildeten Tölpels einhandeln. Seien wir ehrlich, das ließe man Ihnen bei Landschaften wie der Côte d’Azur, der Toskana und der Provence nicht durchgehen. Bei Masuren scheint man großzügiger zu sein und ein sprachlicher Patzer gesellschaftlich verzeihlich, während viele Reisende an Orten mediterraner Sehnsüchte eine bildungsbürgerliche Beflissenheit an den Tag legen. Eifrig ahmen vor allem Deutsche als Reiseweltmeister das Savoir-vivre oder La Dolce Vita nach, umarmen dabei natürlich auch sprachlich korrekt diesen Lebensentwurf, denn sie wollen möglichst authentisch erscheinen.
Und Masuren? Hier wird es einmal mehr holprig, denn wir betreten vermintes Gelände. Anders als bei klassischen Reiselandschaften Italiens oder Südfrankreichs geht es in Masuren ans Eingemachte, weil Deutsche hier zu den Tiefen ihres Seelenhaushalts vordringen, jedenfalls für diejenigen, die überhaupt noch wissen, wo dieses Masuren liegt. Deshalb schwingen Heimat, Verlust und eine unbestimmte Sehnsucht mit, die zugleich eine Selbstvergewisserung von eigener Identität bedeuten kann. Millionen Menschen in Deutschland haben hier ihre Wurzeln: Und genau diese familiäre Verbindung unterscheidet Masuren von der Toskana, von Barcelona oder Nizza. Deshalb klingt bei Masuren diese merkwürdige Ambivalenz an, denn es reisen häufig sehr persönliche Gefühle mit. Viele deutsche Familienbiografien begannen einst hier, mit allen Verwerfungen und Annäherungen an die eigene Geschichte. Und so ist eine Reise nach Masuren häufig zugleich eine kritische Überprüfung überlieferter Wahrheiten, Geheimnisse, Mythen und Klischees.
Der leider viel zu früh verstorbene Journalist Klaus Bednarz, der als kleiner Junge auf dem Hof seiner Großeltern im masurischen Ukta das Laufen lernte, brachte es auf den Punkt, als er über Masuren vom »fernen nahen Land« sprach. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lag Masuren als Teil Ostpreußens in einem Deutschland, das in den Trümmern des Dritten Reiches unterging. In ihrem Nachleben verklärte man jene verlorenen Landschaften zu Sehnsuchtsprojektionen. Keine ehemalige deutsche Provinz erfuhr eine derartige Aufmerksamkeit wie Ostpreußen. Lange Zeit erzielten Erinnerungen, Romane oder Reiseberichte hohe Auflagen.
Noch heute scheint Ostpreußen als emotionaler Resonanzraum zu funktionieren. Eines der erfolgreichsten belletristischen Debüts der letzten Jahre, Dörte Hansens 2015 erschienener Roman Altes Land, erzählt eine ostpreußische Familiengeschichte über drei Generationen, von ihrer Flucht bis in die Gegenwart im Hamburger Umland. Diese spezifische Verbundenheit mit Masuren hält viele Deutsche jedoch nicht davon ab, jenen falschen Artikel zu benutzen. Als Dörte Hansens erfolgreicher Roman 2020 verfilmt wurde, hörte man die Kinder der ostpreußischen Flüchtlinge, die längst in der Hamburger Gegenwart angekommen waren, »in die Masuren« sagen. Mit keiner Silbe steht davon etwas in Dörte Hansens großartigem Roman, der Fehler schlich sich irgendwie in das Drehbuch ein und überlebte hartnäckig viele Redaktionsrunden bis zum fertigen Film.
Jene Nachlässigkeit scheint zu einem angestrengten Vergessen zu passen, das ich immer wieder beobachte im Verhältnis der Deutschen zu Masuren. Seit dem Wirtschaftswunder wollten viele Deutsche ihre eigene Geschichte hinter sich lassen. Historische Amnesie machte sich breit, wenn es um Masuren ging. Dass die Masurische Seenplatte mitten in Europa liegt, ist eine geografische Tatsache, die für viele kaum glaubhaft zu sein scheint. Im Zuge des langen Weges der Deutschen nach Westen, wie es der Historiker Heinrich August Winkler in seiner großartigen Geschichte Deutschlands genannt hat, verschob sich ihr historisches Koordinatensystem weit Richtung Westen. Nach 1945 lag Masuren hinter dem Eisernen Vorhang, irgendwo im Osten, und schien dem inneren Wahrnehmungshorizont der Deutschen endgültig verloren, getreu der Devise, besser nicht daran zu rühren oder danach zu fragen.
Ferne Nähe oder nahe Ferne: Unser Verhältnis zu Masuren und dem historischen Ostpreußen bewegt sich in dieser seltsamen Spannung. Nah lag es einst als Keimzelle Preußens. Königsberg und Ostpreußen waren bis 1945 bedeutende Bezugspunkte des preußischen Staates. Hier waren Litauer und Deutsche jahrhundertelang Nachbarn über eine Grenze hinweg, die niemals trennte, sondern kulturelle Brücken schlug, weshalb keine andere preußische und später deutsche Landschaft mit einer solchen Vielfalt aufwarten konnte.
In diesem Band beschreibe ich den heute polnischen Teil des alten Ostpreußen: Masuren, polnisch Mazury, eines der großen Naturparadiese in Mitteleuropa. Seine Seen und Wälder luden immer wieder ein, die einzigartige Landschaft über die Maßen zu verklären, ja sogar zu verkitschen. Ihren Bewohnern stand nie der Sinn nach einer solchen Verkitschung, weil ihr schweres Leben vom bäuerlichen Rhythmus der Jahreszeiten keinen Raum für mythenbildende Gefühligkeit ließ.
Große Geschichte schrieben andere in den fernen europäischen Kapitalen, während die Masuren im Grenzland häufig die Folgen der Entscheidungen dieser anderen, der Regierenden in Berlin, Warschau oder Paris zu spüren bekamen, wie der 2014 verstorbene Schriftsteller Siegfried Lenz in seinem herrlichen Erzählungsband So zärtlich war Suleyken über seine Kindheitslandschaft schrieb: »Meine Heimat lag sozusagen im Rücken der Geschichte; sie hatte keine berühmten Physiker hervorgebracht, keine Rollschuhmeister oder Präsidenten.«
Die Menschen dieser Landschaft schufen weder intellektuelle Hotspots noch eine industrielle Revolution oder politische Rebellion; ein Versailles, Schönbrunn oder Sanssouci sucht man ebenso vergeblich. Vielmehr lag ihr Potenzial woanders, wie Siegfried Lenz wusste: »Was hier vielleicht gefunden wurde, war das unscheinbare Gold der menschlichen Gesellschaft, Holzarbeiter und Bauern, Fischer, Deputatarbeiter, kleine Handwerker und Besenbinder. Gleichgültig und geduldig lebten sie ihre Tage, und wenn sie bei uns miteinander sprachen, so erzählten sie von uralten Neuigkeiten, von der Schafschur und vom Torfstechen, vom Vollmond und seinem Einfluß auf die neuen Kartoffeln, vom Borkenkäfer oder von der Liebe.«
Nach 1945 dominierten vor allem Trauer und wehmütige Abgesänge das Bild Ostpreußens im verbliebenen Deutschland. Dem liegt eine elementare Erfahrung zugrunde, weil für viele Millionen Menschen in Deutschland mit dieser Landschaft ein persönlicher Verlust verbunden war. Als Folge der Potsdamer Beschlüsse fiel das südliche Ostpreußen an Polen. Seine Bewohner verloren nicht nur ihre Heimat, sondern ihre soziale und materielle Existenz. Als Habenichtse kamen sie in den vier Besatzungszonen an und wurden wenig freundlich aufgenommen; von einer Willkommenskultur konnte damals keine Rede sein.
In den...
Erscheint lt. Verlag | 30.6.2022 |
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Zusatzinfo | Mit einer farbigen Karte |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Europa |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | 1000 Seen • 1945 • Aktiv-Urlaub • Allee • Atlantis des Nordens • Boot • Buch • Bus-Reise • Campen • Danzig • Deutsche Namen • Deutsch-Polnisch • Familiengeschichte • Ferienhaus • Flucht • Friedrich-Ebert-Stiftung • Geheimtipps • Georg Dehio-Buchpreis • Geschichte • Heimat • Hof • Kanu • Land-karte • Literatur • mit Hund • Ostpreußen • Ostsee • Outdoor • Paddeln • Pferde • radfahren • Rad-Reise • Rad-Weg • Reiseführer • Reise-Zeit • Reiten • Rund-Reise • Sachbuchpreis • Schloss • Schlösser • Seen • Seenplatte • Segeln • Sehenswürdigkeit • Spiegel Bestseller Autor • Storch • Urlaub • Urlaubs-Orte • Vertreibung • Vögel • Volk • Wald • Wandern • Wohnmobil • Zweiter Weltkrieg • Zwischen Himmel und Wasser |
ISBN-10 | 3-492-60280-0 / 3492602800 |
ISBN-13 | 978-3-492-60280-8 / 9783492602808 |
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