Ferner Westen (eBook)
304 Seiten
mareverlag
978-3-86648-805-2 (ISBN)
Paulo Moura, geboren 1959 in Porto, studierte Geschichte und Journalismus. Er ist Autor, Professor für Journalismus an der Hochschule für Kommunikation und Medien in Lissabon und arbeitet seit über 20 Jahren für die Tageszeitung Público. Für seine Reportagen aus Kriegsgebieten der ganzen Welt wurde er vielfach ausgezeichnet.
Paulo Moura, geboren 1959 in Porto, studierte Geschichte und Journalismus. Er ist Autor, Professor für Journalismus an der Hochschule für Kommunikation und Medien in Lissabon und arbeitet seit über 20 Jahren für die Tageszeitung Público. Für seine Reportagen aus Kriegsgebieten der ganzen Welt wurde er vielfach ausgezeichnet.
Afife
Ein Casino im Dorf
Folgt man dem Minho mit seinen Sandbänken und den spanischen Bergen am anderen Ufer bis nach Moledo, gegenüber von Ínsua, zeigt sich das Meer grün und aufgepeitscht von Strömung und starken Winden, und die Strände sind weiß und wild.
Die wichtigste Straße auf diesem Reiseabschnitt ist die Nationalstraße 13 nach Viana do Castelo. Aber kurz vor Vila Praia de Âncora zweigt eine kleine Straße ab, die direkt am Strand entlangführt. Danach folgt man dann wieder der N 13 bis Gelfa und Afife, durch bescheidene kleine Dörfer in einer fruchtbaren Ebene voller Maisfelder zwischen Bergen und Meer. Von gewaltigen Felsen durchzogen, geht die Wasserfläche so unmerklich in den Strand über, dass man meinen könnte, alles wäre ein einziger Archipel aus Nebel und leuchtenden Farben.
Afife liegt nicht direkt am Meer. Es ist so gut wie unsichtbar, und man muss die Landstraße verlassen, um es zu finden. Im Dorfzentrum steht zwischen Grundschule und Rathaus ein prächtiger zweistöckiger Palast mit gelben Wänden und weißen Fenstern: das Casino Afifense.
Es verströmt das Flair mediterraner Boheme der Zwischenkriegszeit, Monte Carlo, angehaucht von einem südamerikanischen Wunschtraum. Und man stellt sich vor, wie es wäre, wenn man einträte: wie das Orchester aufspielen und sich im Saal die Menschen drängen würden, wie die herausgeputzten Bürger von Afife junge Mädchen beim Foxtrott übers Parkett schöben und unauffällig in die Winkel lotsten, wo sie vor den Blicken der in den Logen sitzenden Eltern sicher sind. Doch die Türen sind verschlossen. Das Gebäude ist bestens erhalten und sieht einladend aus – aber man kommt nicht hinein. Eine verbotene Welt.
Schuld daran ist der Vorsitzende des Vereins, klagen einige Einwohner, der das Casino nicht öffnen will. Leute, die zu sehr an der Vergangenheit hängen, sagt der Vereinsvorsitzende.
Erstaunlich ist jedoch nicht, dass das Casino geschlossen ist; erstaunlich ist, dass hier, in diesem Ort mit kaum mehr als tausend Einwohnern, überhaupt ein Casino existiert.
Geöffnet hat nur die Bar in einem Nebentrakt des Gebäudes mit ihrer Außenterrasse auf der Dorfpromenade und ihren Stammgästen, von denen kaum einer jünger als sechzig ist. Tomás Pinto, ein gewissenhafter, rühriger Mann, der sommers wie winters kurze Hosen trägt, kommt Tag für Tag hierher, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Weißes Haar, sonnengegerbte Haut, der Blick eines unverstandenen Künstlers – Pinto ist dreiundsechzig, aber man kann ihn sich gut mit achtzehn vorstellen, wie er in Krawatte und Anzug, das Jackett laut Vereinsregeln zugeknöpft, den Veranstaltungssaal des Casinos von Afife betritt, zum Caldo-Verde-Ball, einem »legalen« Glücksspielabend, oder zu einer Aufführung der Antigone, bei der selbst die Helme der athenischen Soldaten von einheimischen Küfern fabriziert wurden.
Alles ist noch an seinem angestammten Platz. Tomás Pinto genauso wie das Casino oder das Dorf Afife hinter dem Meer, der Ebene und den Maisfeldern. Nichts hat sich verändert, und alles hat sich verändert.
Auf den Durchreisenden wirkt Afife wie der typische Ort für die Sommerfrische, ein Refugium von unverfälschter Schönheit, in dem ein paar Neureiche Ferienhäuser gebaut haben und gewisse erfolgreiche Künstler und die alteingesessenen Familien englischer Portweinhändler Ruhe und Erholung suchen.
Im Gegensatz zu Moledo und anderen Strandorten der Gegend ist man hier fernab vom Meer und von neugierigen Blicken. Der Ort ist gänzlich ungeeignet für das prahlerische Zurschaustellen der eigenen Wichtigkeit und ist es aufgrund seiner geografischen Lage schon immer gewesen.
Afife ist kein Fischerdorf wie Âncora und andere Ortschaften entlang der Küste Nordportugals. Der Ort lebt von der Landwirtschaft, und die Ernten waren schon immer so mager, dass die arbeitstauglichen Männer seit Menschengedenken emigrierten. Sie gingen nach Lissabon, Porto und Coimbra und von dort aus in alle Winkel des Landes, um auf Baustellen als Anstreicher, Lastenträger und Verputzer zu arbeiten. Einige wanderten nach Spanien, Brasilien, Uruguay, Argentinien oder in die Vereinigten Staaten aus.
Aber seit dem 18. Jahrhundert verlegten sie sich – offenbar in Porto – zunehmend auf einen ganz speziellen Beruf. In einem Rechnungsbuch der Kirche Santa Marinha in Vila Nova da Gaia sind für die 1745 begonnenen Restaurierungsarbeiten die Brüder Manuel und Mateu Alves Bezerra aus Afife, Viana do Castelo, aufgeführt, und zwar als Meisterstuckateure. Im selben Buch wird ebenfalls erwähnt – wahrscheinlich, um den großzügigen Lohn von vier Münzen zu rechtfertigen –, dass die Brüder Bezerra unter Leitung des italienischen Architekten Nicolai Nasoni bereits zuvor an der Clérigos-Kirche und dem Glockenturm, dem Wahrzeichen Portos, mitgearbeitet hatten.
Vermutlich erlernten die Männer von Afife bei diesem Architekten und seinen Leuten die Kunst der Herstellung von Stuck, die bei den Aufbauarbeiten nach dem Erdbeben von 1755 ungeheuer nützlich war. Von da aus verbreitete sie sich im ganzen Land, wurde von Generation zu Generation weitergegeben und perfektioniert. Nach dem Ersten Weltkrieg fanden viele Stuckateure aus Afife Arbeit in Frankreich, wo sie lernten, aus Kalk und Gips Ornamente im Stil Louis-quinze, Louis-seize und im Empirestil zu fertigen.
Im 19. und 20. Jahrhundert finden Stuckateure aus Afife als Baumeister oder Begründer von Schulen in ganz Portugal Erwähnung.
Die Bezerras und ihre Nachkommen zeichneten für bedeutende Bauwerke in Lissabon, Porto, Guimarães und anderen Städten verantwortlich. Legendäre Stuckateure waren auch die Brüder Ferreirinha, Meister José Moreira, genannt Der Franzose (angeblich, weil seine Mutter während der französischen Invasion 1810 von einem napoleonischen Soldaten vergewaltigt worden war), und der mit dem Komturkreuz des Christusordens ausgezeichnete Domingos Meira, der unter anderem den Großen Saal im Palácio da Pena in Sintra, die Säle im Palácio das Necessidades in Lissabon, im Palast des Duque de Loulé in Cascais und in Dutzenden anderen Palästen ausschmückte.
In diesem Goldenen Zeitalter zwischen dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieben praktisch nur die Frauen in Afife zurück, um die Felder zu bearbeiten. Die meisten Männer arbeiteten als Stuckateure oder in ähnlichen Berufen und lebten fern der Heimat. Sie waren überall geachtet und geschätzt und galten weniger als Handwerker denn als Intellektuelle. Auf der Baustelle erschienen sie – wie Avelino Meira, selbst Sohn und Enkel von Stuckateuren, in seiner Monografie berichtet – in Gehrock und Zylinder oder in Frack, weißer Weste, ausgefallenen Hosen und Melone.
Sie machten sich nicht die Hände schmutzig, sondern überwachten nur die Bauarbeiten. Ging es dann an die konkrete künstlerische Ausgestaltung, schickten sie die Arbeiter fort, schlossen sich auf der Baustelle ein und arbeiteten allein, damit die Geheimnisse ihres überragenden Kunsthandwerks gewahrt blieben.
Und es waren diese nicht durch Handel, sondern durch ihre Kunstfertigkeit reich gewordenen Männer, gewissermaßen der aus dem Volk stammende Geistesadel, die eine Leidenschaft fürs Theater entwickelten.
Natürlich hatte es in Afife, wie in allen Dörfern, zuvor schon geistliche Stücke gegeben, die auf dem Kirchhof, vor der Kapelle der Muttergottes von Lapa oder auf der Wiese vor dem Haus eines gewissen »Firrança da Pôça« aufgeführt wurden. Aber irgendwann im Laufe des 19. Jahrhunderts bekamen diese Volksstücke einen ernsthafteren Charakter. Einige Männer spezialisierten sich aufs Schauspielen, die Ansprüche stiegen.
Das gab ihnen die Möglichkeit, sich heimatverbunden und doch zugleich anders als der Rest zu fühlen, zu zeigen, dass man über gehobenen Geschmack verfügte und danach trachtete, sich über die einfache bäuerliche Existenz zu erheben.
1859 erfolgte die Gründung des ersten einer ganzen Reihe von Vereinen zur Förderung von Kultur, sozialen Projekten und Unterhaltung, die Sociedade do Teatro Afifense. Ein Dorfbewohner stellte ein Grundstück zur Verfügung, achtundzwanzig Bürger schlossen sich zu einer Gesellschaft zusammen und zahlten eine Quote von je einem Goldpfund, und so konnte ein Theater aus Stein und Kalk errichtet werden, in dem Stücke wie Die Wunder des heiligen Antonius, Die Erbin von Val-Flôr, Faust und andere aufgeführt wurden.
Fast alle Stuckateure erlernten die Schauspielkunst, einige wurden sogar sehr gut, wie es heißt, und zwar sowohl im tragischen wie im komödiantischen Fach. Manchmal holte man Regisseure von außerhalb, aber die Schauspieler stammten ausnahmslos aus Afife. Natürlich waren es alles Männer, denn für die Damen jener...
Erscheint lt. Verlag | 15.3.2022 |
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Übersetzer | Kirsten Brandt |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Afife • Algarve • Costa da Caparica • Costa Verde • Estrada Atlântica • Figueira da Foz • Fonte da Telha • Hafenbewohner • Ilha da Amona • Ilha da Barreta • Ilha da Culatra • Ilha de Cabanas • Ilha de Tavira • Ilha do Pessegueiro • Küste • Lissabon • Monte Gordo • Peniche • Porto Covo • Portugal • Reisebericht • Reiseliteratur • Reisereportage • Reporter • Sagres • Santa Cruz • Sesimbra • Sines • Tamera • Verlenga • Vieira de Leiria • Vila do Conde |
ISBN-10 | 3-86648-805-X / 386648805X |
ISBN-13 | 978-3-86648-805-2 / 9783866488052 |
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