Gebrauchsanweisung für Spanien (eBook)
224 Seiten
Piper ebooks (Verlag)
978-3-492-99844-4 (ISBN)
Paul Ingendaay, geboren 1961 in Köln, lebte als Schriftsteller und Journalist lange in Madrid. 1997 erhielt er den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik, 2006 wurde er für sein Debüt »Warum du mich verlassen hast« mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Nach dem Roman »Die romantischen Jahre« und dem Erzählungsband »Die Nacht von Madrid« erschienen von Paul Ingendaay zuletzt die »Gebrauchsanweisung für Andalusien« und der Roman »Königspark«.
Paul Ingendaay, geboren 1961 in Köln, lebte als Schriftsteller und Journalist lange in Madrid. 1997 erhielt er den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik, 2006 wurde er für sein Debüt "Warum du mich verlassen hast" mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Nach dem Roman "Die romantischen Jahre" und dem Erzählungsband "Die Nacht von Madrid" erschienen von Paul Ingendaay zuletzt die "Gebrauchsanweisung für Andalusien" und der Roman "Königspark". Heute lebt er als Europakorrespondent der FAZ in Berlin.
Der Outdoor-Typ
Dieses Buch handelt von Verwunderungen und Verzauberungen, von Rätseln und Klischees. Alle vier sind sich über Jahrzehnte hinweg erstaunlich gleich geblieben. Nur das Land, auf das sie sich beziehen, Spanien, hat sich stark verändert. Wie kann es sein, dass manche Dinge sich wandeln, andere dagegen ewig währen?
Als ich in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts damit begann, Spanien aus der Nähe zu beobachten, lag die Franco-Diktatur noch keine 25 Jahre zurück. Wir alle wissen inzwischen, was das bedeutet. Historisch gesehen, schrumpft ein Vierteljahrhundert auf ein Nichts zusammen, wenn es um das Überdauern von Vorurteilen und Stereotypen geht. Unsere eigene Geschichte und der mehr als dreißigjährige Abstand zum Mauerfall sind dafür das beste Beispiel.
Äußerlich also hat sich in Spanien eine Menge getan: Das Land hat ein autoritäres Regime hinter sich gelassen, demokratische Institutionen aufgebaut und – mit leichter Verzögerung gegenüber Ländern wie Deutschland oder Frankreich – einen ähnlichen gesellschaftlichen Wandel durchlaufen wie seine Nachbarn. Es wurde zum respektierten EU-Mitglied, fand im Tourismus die Säule seines Wohlstands und schaffte es in zwei außerordentlichen Jahren sogar, alle Fußballklischees zu besiegen und sowohl Welt- als auch Europameister zu werden.
Spanien hatte aber auch Rückschläge zu verkraften, die hier drastischere Formen annahmen als anderswo. 2004 zeigten die islamistischen Terrorattentate von Madrid, die 191 Menschenleben forderten, dass der Dschihadismus in einer völlig neuen Dimension in Europa angekommen war. Die Finanzkrise von 2008, die in Spanien eine tiefgreifende, alle bestehenden Strukturen mitreißende Immobilienkrise war, warf ein Land, das allmählich zu den wohlhabenden Nationen Westeuropas aufschloss, um Jahre zurück. Gut zehn Jahre später schlug die Corona-Pandemie in Madrid und Barcelona, ähnlich wie in Italien, viel stärker zu als im nördlichen Europa.
Krisen dieser Art bringen viel in Bewegung. 2011 etwa entstand auf der Puerta del Sol, im Herzen der Hauptstadt Madrid, ein Dorf des sozialen Protests, das weltweit Aufmerksamkeit erregte. Kurz darauf wurde mit Podemos eine neue Partei gegründet, die das soziale Bewusstsein der »Empörten« in die Politik trug und die spanische Parteienlandschaft für immer veränderte. Abermals wenige Jahre später trat ein gealterter, von persönlichen Pannen und Misserfolgen gezeichneter König Juan Carlos I. zurück und überließ das Ruder der Monarchie seinem Sohn Felipe. Und irgendwann gab es auch in Spanien mit Vox das, was andere europäische Länder, Deutschland eingeschlossen, schon längst hatten: eine populistische rechte Partei, die den gesammelten Unmut über die Globalisierung in simple Formeln presste.
Unterdessen hatte es mehrere – mit großer Komik gescheiterte – Versuche gegeben, die spanische Nationalhymne mit einem Text zu versehen. Sie hat nämlich keinen, und zwar deshalb nicht, weil sie ein Marsch ist, den man trommeln und blasen, aber nicht singen kann. Hat das wirklich etwas zu bedeuten? Ich glaube, ja. Spanien ist nämlich ein zentralistisch organisierter Nationalstaat mit äußerst unruhigen Rändern. Fast ein halbes Jahrhundert lang hatte die baskische Terrorgruppe ETA gemordet, bis sie den Kampf aufgab. An ihre Stelle traten katalanische Nationalisten, die die staatliche Ordnung ohne Waffengewalt aus den Angeln zu heben versuchten und sehr weit damit kamen.
Die meisten dieser Phänomene schienen aus dem Nichts entstanden zu sein. Zugleich sagen sie etwas über die neuen, extrem volatilen Zeiten im spanischen Krisenmodus aus. In Wahrheit, so glaube ich, hängen sie untergründig miteinander zusammen, und deshalb wird von ihnen auch in diesem Buch die Rede sein. Allein schon am Schicksal des früheren Monarchen lassen sich die erdrutschartigen Veränderungen nachzeichnen, die das moderne Spanien prägen.
Als Juan Carlos I. nach Francos Tod 1975 den Thron bestieg und damit einen sechs Jahre zuvor geschlossenen Pakt über das politische Fortleben des Regimes erfüllte, waren die Erwartungen an ihn minimal. Der in Italien geborene, unter Francos Aufsicht erzogene Thronfolger schien eine Marionette zu sein, zu schwach, um gegen die Militärs der alten Garde auf der einen und die Opposition der Franco-Gegner auf der anderen Seite bestehen zu können.
Doch der achtunddreißigjährige Monarch erwies sich als Stratege mit verblüffendem Weitblick. Bei der Ernennung des ersten Ministerpräsidenten ignorierte er die Großperücken des alten Staates, indem er sich mit Adolfo Suárez für einen jungen Politiker der »Bewegung« statt für einen der wartenden Betonköpfe entschied. Im Tandem rangen der König und Suárez der Rechten wichtige Zugeständnisse ab, darunter die Wiederzulassung der Kommunistischen Partei, und trieben die Demokratisierung des Landes voran. Doch sie hüteten sich davor, zu weit zu gehen: Ein Militärputsch schien immer möglich.
Der Schriftsteller Javier Cercas hat diesen meisterhaften Balanceakt in seinem Buch Anatomie eines Augenblicks über den Militärputsch von 1981 literarisch verewigt. Seine beeindruckende Geschichtserzählung legt die Triebkräfte der transición frei, die es Spanien ermöglichten, über ideologische Abgründe hinweg eine moderne Demokratie zu werden.
Diese historische Leistung hat sich in den Jahrzehnten darauf zu einer Legende für die Geschichtsbücher verdichtet. Die Jahre unmittelbar nach Francos Tod waren für die Beteiligten jedoch hart umkämpft, voller Konflikte, wirtschaftlicher Sorgen und Zukunftsangst. Der Journalist und Autor Juan Antonio Tirado hat die Spanier nach einem Gang in die Pressearchive noch einmal daran erinnert. In seinem Buch Siete caras de la Transición (Sieben Gesichter des Übergangs) belegt er, dass selbst denkfähige liberale Medien wie El País den Reformkurs von Suárez fünf Jahre lang mit Häme und Ablehnung begleiteten. Ein volles Jahr nach Suárez’ Ernennung durch König Juan Carlos schrieb das Blatt: »Die Annahme, der gegenwärtige Präsident könne den Demokratisierungsprozess unseres Landes anführen, wäre genauso absurd wie die Aussage, Goebbels hätte nach Hitlers Tod die Demokratie wiederhergestellt.«
Spaniens progressivste Zeitung hatte also noch nicht mitbekommen, wohin die Reise ging. Fast ein weiteres Jahr später, am 4. März 1978, klagte der junge Juan Luis Cebrián, der in den Jahrzehnten darauf zum mächtigsten Medienmanager des Landes aufsteigen sollte, weit und breit sei in Spanien »kein Staatsmann« zu sehen. Man lernt daraus: Die Zeitgenossen großer Ereignisse sind oft ahnungslos. Die später glorifizierte transición war, während sie ablief, ein unbegriffener Prozess, der von schrillen Tönen und zahllosen Fehleinschätzungen begleitet wurde.
Was König Juan Carlos I. betrifft, so hat ihn die neuere Generation von Spaniern nur noch als alten Mann erlebt. Sie kennt nicht den geschickten Instinktherrscher von damals, sondern lediglich jenen Monarchen ohne rechte Aufgabe, ohne Selbstdisziplin, der seinen Freiraum für die entsprechenden Skandale nutzt, darunter 2012 eine unselige Elefantenjagd, die ihn sein Renommee kostete. Meine persönliche Theorie ist, dass Juan Carlos sich in der langen Phase zunehmenden spanischen Wohlstands – sagen wir, zwischen Spaniens NATO-Eintritt 1982 und dem Abenteuer in Botswana dreißig Jahre später – einfach ein wenig gelangweilt hat. Auch Könige sind Menschen.
Ich habe auch Verständnis dafür, dass Juan Carlos I. nicht als Regent der Kultur und der schönen Künste in Erinnerung bleiben wird, sondern als Outdoor-Typ, der sich dort wohlfühlte, wo Männer sich mit Männersachen beschäftigen: Segeln, Schießen, Skilaufen, Fußball. Gut Essen und Trinken. Lachen und lustig sein. Ich gebe hier keine Indiskretionen preis, wenn ich außerdem anmerke, dass die Interessen des Königs und der Königin nicht zu allen Stunden des Tages und der Nacht vollständig zur Deckung kamen. Und doch blieb er, allen Tolpatschigkeiten und wirklich unglücklichen Knochenbrüchen zum Trotz, auf wundersame Weise der »König aller Spanier«.
Was bekommen Fremde von solchen Veränderungen mit? Sehr viel, wenn sie mit wachen Sinnen im Land leben und neugierig sind. Gerade der innere Abstand erlaubt ja dem Ausländer manchmal zu erkennen, was den Einheimischen nicht mehr auffällt. Es entsteht ein Verständnis, und was sich verstehen lässt, lässt sich auch mögen. Restlos erklärbar sind Spanien und die Spanier ohnehin nicht. Im Zweifelsfall habe ich eher Geschichten vertraut als stolzen Theorien.
Für eine Eigenschaft, die die Spanier sich selbst zuschreiben, den Neid, fand sich in diesem Buch nirgendwo ein Platz. Daher erwähne ich sie jetzt. Viele Spanier meinen, der Neid, la envidia, sei ein hervorstechendes Merkmal ihres Charakters. Ich bin froh darüber, dass ich das nicht bestätigen kann. Wobei es mir allerdings zu denken gibt, dass die spanische Sprache zwischen gewöhnlichem Neid, envidia, und gesundem Neid, envidia sana, unterscheidet. Die erste Form bedeutet, dass man einem Menschen wirklich etwas neidet (und wegnehmen will), die zweite, dass man jemanden um etwas beneidet, das man ihm aber gönnt. Jetzt würde mich interessieren, auf welche kollektive Schwäche die Deutschen sich einigen könnten?
Viel mehr als vom Neid handelt dieses Buch von der spanischen Großzügigkeit, la generosidad. Niemand wird empirisch ermitteln können, ob Großzügigkeit wirklich der markanteste Zug des spanischen Gemüts und der spanischen Lebensart ist. Aber es steht außer Frage, dass Reisende der...
Erscheint lt. Verlag | 31.5.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
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ISBN-10 | 3-492-99844-5 / 3492998445 |
ISBN-13 | 978-3-492-99844-4 / 9783492998444 |
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