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Gebrauchsanweisung für Heimat (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99848-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gebrauchsanweisung für Heimat -  Andreas Altmann
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Neu-Delhi, Brazzaville, Wien oder Hanoi: Andreas Altmann hat schon die unterschiedlichsten Orte als Heimat erlebt. Radikal ehrlich und voller Poesie nähert er sich einem Begriff, der so aufgeladen wie schwer zu fassen ist. Er schildert, wo auf seinen Reisen ihm Heimatverbundenheit, Heimatfreude und Fremdheit begegneten, welche Fragen zu Herkunft und Identität er sich stellt - und wie wichtig für ihn Freundschaften, Sprache, Musik sind, um sich heimisch zu fühlen. Er erzählt von den intensivsten Momenten unterwegs und in seiner Wahlheimat Paris, in die er immer wieder zurückkehrt. Und von der Leere der Wüste, der Einsamkeit und Stille, in der er die größte Vertrautheit empfindet.

Andreas Altmann zählt zu den bekanntesten deutschen Reiseautoren und wurde u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Seume-Literaturpreis und dem Reisebuch-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm »Bloßes Leben« sowie die Bestseller »Verdammtes Land. Eine Reise durch Palästina«, »Gebrauchsanweisung für die Welt« und »Gebrauchsanweisung für das Leben«, »In Mexiko«, »Gebrauchsanweisung für Heimat« und »Leben in allen Himmelsrichtungen«. Andreas Altmann lebt in Paris.

Andreas Altmann zählt zu den bekanntesten deutschen Reiseautoren und wurde u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Seume-Literaturpreis und dem Reisebuch-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm u.a. die Bestseller "Gebrauchsanweisung für die Welt", "Gebrauchsanweisung für das Leben" und "Leben in allen Himmelsrichtungen". Andreas Altmann lebt in Paris. www.andreas-altmann.com

Das Glück des Augenblicks: Sahara


Ich saß im Kino und sah »Der Fremde«. Die berühmte Erzählung Albert Camus’, verfilmt von Luchino Visconti. Mit dem schönen Marcello Mastroianni und der wunderschönen Anna Karina. Die Geschichte spielt in Algier, und ich verliebte mich in die Stadt, die Ufer entlang des Meers, das ganze Land.

Der Hauptdarsteller des Buchs ist ein gewisser Arthur Meursault, der »fremd« bleibt in der Welt, weil kein Mitgefühl ihn trägt. Sogar seiner Freundin Marie gegenüber zeigt er Ungerührtheit, ja, selbst nach dem Töten eines anderen ist er nicht fähig zur Reue. Ein gleichgültiger Mensch.

Jahre später kam ich nach Algerien. Und die Realität hielt, was meine Träume versprochen hatten. Umso mehr, als ich zuerst durch Tunesien und Marokko gereist war und bisweilen vor Zorn platzte, da unfähig, der penetranten Verfolgung durch Händler und Schnorrer zu entkommen. Nicht hier. Man blieb höflich und auf angenehme Weise distanziert. Algerien war offiziell eine »sozialistische« Republik. Was immer das bedeuten mag, für einen Reisenden verhieß es nur Gutes.

Von Algier fuhr ich in den Süden, nach Tamanrasset, knapp 2000 Kilometer fern. Auf der Busfahrt, tage- und nächtelang, lernte ich zwei französische Freundinnen kennen. Eine seltsame Erfahrung, denn die eine, Corinne, bekam Probleme, bekam Bauchschmerzen, Fieber, Schüttelfrost, und Féline und ich pflegten sie. Was uns näherbrachte.

Bisher so simpel, die Geschichte. Doch ab der Stunde, in der die Kranke wieder gesundete, wurde es bizarr: Corinne giftete gegen mich, von Dankbarkeit kein Schimmer, eher Bosheit und wütende Eifersucht. Auf Féline.

Das war die Zeit, in der ich angefangen hatte, »loslassen« zu trainieren. Ich ließ Féline los, schon bekümmert, aber bestimmt verwundert über die einen, die andere besitzen wollen. Ich war nicht anders, doch ich wollte anders werden. Es sollte dauern.

Die beiden flogen zurück nach Frankreich, und die Sahara gehörte mir allein. Ich vermute, ich bin ein unsozialer Reisender, da überzeugt, dass man gewisse Zustände besser für sich erlebt. Nur für sich. Weil nichts und keiner ablenkt. Weil kein Selfie-Tropf im Weg steht und die Sicht blockiert. Weil kein Einziger plappert. Weil man so ausschließlich sein kann. Was so selten gelingt.

In Tamanrasset fand ich Moussa, den Targi mit den eleganten Händen. Er besaß einen Range Rover und kannte sich aus. Wir vereinbarten einen Preis und zogen los. Richtung Hoggar-Gebirge, etwa sechzig Kilometer nördlich. Manchmal durfte ich ans Steuer. Die Gefahr eines Unfalls schien gering zu sein, immer gab es Millionen Quadratmeter, um auszuweichen.

Wüste, die Lieblingsgegend. Und Moussa, mein Mann in Algerien, der kaum redete und zuvorkommend war. Sein Blick, mitten aus seinem blauen Schesch, verstrahlte Ruhe und Umsicht.

Der Hoggar ist fast so groß wie Frankreich, ein Hochplateau aus Vulkangestein. Seine bizarren Erhebungen erinnern an den Grand Canyon in Arizona. Ungenaue Erinnerung, denn hier ist alles mächtiger, höher und, so will ich es glauben, geheimnisvoller. Wer hier durchfährt, wird still und selig.

Ich habe nur ein Ziel, den Berg Assekrem, etwa 2800 Meter hoch. Die einen wollen aufs Meer, die anderen in Landschaften voller Wälder, und wieder andere, ich auch, wollen in die Wüste, wo es von alldem nichts gibt. Doch das Nichts macht ruhig, es ordnet, löst Zutrauen aus. Wüste ist Zen: Du starrst ins Leere, und es erfüllt dich. Warum das so ist, wer wüsste die Antwort.

Moussa findet fünf Quadratmeter Schatten, hier wird er warten. Er sagt kein Wort, kein Angebot, als Guide mitzugehen. Wie ich das schätze. Ich mag Männer, die spüren. Er weiß, dass ich jetzt allein sein will.

Der Aufstieg ist leicht, nur dem Hinweisschild entlang, nur die blaue nackte Sonne. Ein paar Laute, nicht laut, unmöglich zu wissen, von welchem Tier sie kommen. Ein leiser Nachmittag, irgendwo auf der Welt. Nur mein Herz begleitet mich, es schlägt unüberhörbar. So treu. Ich lebe.

Etwas unterhalb des Berggipfels steht die »Ermitage«, eine Hütte aus groben Steinen, ein paar Meter lang, ein paar Meter breit, rechteckig wie eine Schachtel, darüber das flache Dach. Radikal einfacher kann ein Mensch nicht wohnen.

Hier lebte die letzten Jahre seines Lebens der in Straßburg als Graf geborene Charles de Foucauld. Und hier wurde er am 1. Dezember 1916 getötet. Mit knapp sechzig, und was er in dieser Zeit erfahren, getan und ausgehalten hat, ist eine Sensation. Der Franzose ist der Grund, warum ich hier bin.

Eine kleine Übersicht: Mit sechs wird er Waisenkind, der Großvater mütterlicherseits übernimmt die Erziehung. Wegen »Faulheit und asozialem Benehmen« fliegt der Siebzehnjährige vom Gymnasium der Jesuiten. Auf einer staatlichen Schule schafft er das Abitur. Mühsam. Er geht auf eine Offiziersschule, kassiert in 24 Monaten 45 Strafen, seine Taten: »Ungehorsam, Trägheit und Nachlässigkeit«. Mit mäßigen Noten besteht er die Abschlussprüfung. Er wird nach Algerien – damals französische Kolonie – verlegt und nach drei Jahren unehrenhaft aus der Armee entlassen. Gehorchen passt ihm nicht, und sein Verhalten ist »anstößig«.

Das hat Gründe. Mit zwanzig erbt Charles ein Goldfranken-Vermögen und er verschleudert es, mit falschen Freunden und echten Nutten. Er will feiern und nicht dienen. Das Fass zum Überlaufen bringt sein Zusammenleben mit Marie Cardinal, die offiziell Schauspielerin ist und nebenberuflich »une mauvaise vie« führt, das wäre eine Edelkokotte, die sich gern nach reichen Herren umsieht. Er kann nicht lassen von ihr. Sogar in der Kaserne wird er mit ihr ertappt. Er muss packen. Das reicht noch nicht: Selbst die eigene Familie entmündigt ihn.

Er reist mit der Schönen durch Nordafrika und erfährt von einem Aufstand gegen die Kolonialherren. Sein Leben ändert sich. Er verlässt »Mimi« und wird wieder Soldat. Er kämpft und fällt erneut auf, jetzt mutig und tapfer.

Bald kommt er zur Besinnung, er erkennt die ungeheure Anmaßung, Frauen und Männer totzuschießen, die um die Unabhängigkeit ihres Landes kämpfen. Er gibt Helm und Flinte ab und sattelt auf Forscher um, lernt Hebräisch, interessiert sich für den Islam, durchzieht Marokko, schreibt ein Buch darüber und wird berühmt.

Die nächste Drehung. Aus dem Atheisten wird ein Gläubiger, er tritt dem Orden der Trappisten – berüchtigt asketisch – bei, wird in Palästina und Syrien eingesetzt, lässt sich zum Priester weihen und geht zurück nach Algerien.

»Seliggesprochene« – diese wunderliche Ehre erfährt Foucauld ein knappes Jahrhundert später – bleiben mir eher fremd. Ich glaube auch nicht, so behaupten die Seligsprecher, dass derlei Zeitgenossen sich anschließend – nach dem zeremoniellen Abrakadabra – im »Paradies« befinden. Die Idee vom christlichen Märchenland hoch droben, sie klingt für jeden – ist er nur bereit, die Wirklichkeit auszuhalten – pathetisch, ja, absurd.

Doch bei Foucauld verhält es sich anders. So anders. Denn er vermeidet zuallererst die grausige Todsünde: missionieren. Nie sucht ihn der Wahn heim, dass sein Gott herrlicher und triumphaler sei als jener der anderen. Sein inniges Streben soll sein, sich um jene zu kümmern, die wenig oder nichts besitzen. Nicht mit Moralpredigten und dubiosen Weissagungen, nein, konkret, mit Nahrung, mit Kleidung, mit tätigem Mitgefühl. »Un frère universel« will er sein, ein »aller Welt Bruder«. Jedem mit Wärme und Respekt zugetan.

Schon klar: Die Liebesfähigkeit eines Menschen hat nichts mit seinem Glauben zu tun. Auch Ungläubige laufen auf dem Globus herum, die sich auffällig menschenfreundlich benehmen. So ein Leuchten ist diesem Mann oder dieser Frau zu eigen, fernab allen spirituellen Gebläses. Es ist eine Begabung, ein Gen, das sich ausdrücken will, ja, muss. Wie tanzen, wie schreiben, wie auf den Mount Everest klettern.

So auch bei Foucauld. Aber in ihm schlummern noch andere Talente. Er tritt als Vermittler auf, um zwischen den Stämmen und der französischen Armee zu schlichten. Ein hartes Brot, wenn man bedenkt, wie hartnäckig und grausam Frankreich an der Illusion festhielt – es gibt so viele Trugbilder –, dass Algerien sein Eigentum sei.

Und zuletzt, geradezu grandios: Der Mann entwickelt sich zum linguistischen Genie. Schon in der Zeit haltloser Orgien kaufte er kistenweise Bücher. Was für ein Hunger nach Körper und Geist. Nun lernt er Tamascheq, die Sprache der Tuareg, erarbeitet ein mehr als 2000 (!) Seiten dickes Wörterbuch, eine Mühe für Maßlose, gab es doch kaum etwas Schriftliches, alles wurde oral weitergegeben. In einem voluminösen Band sammelt er zudem die Gedichte und Geschichten dieses Volks.

Am 1. Dezember, mitten im Ersten Weltkrieg, der auch die Sahara nicht verschont, wird er von einem Trupp Senussi – die Todfeinde der Besatzer – erschossen. Eher aus Versehen, panikartig, denn geplant war, ihn gefangen zu nehmen, um ihn am Kontakt mit seinen kriegerischen Landsleuten zu hindern. Wie aberwitzig, Foucauld wäre der Letzte gewesen, der verräterische Informationen mit Leuten teilt, die seine (zweite) Heimat ausbeuten.

Sonderbarer Anfang, sonderbares Ende: Meine Nähe zu Algerien fing mit Arthur Meursault an, dem Antihelden in Camus’ »Der Fremde«, der sich um keinen scherte. Und ich finde einen, der sich wie wenige um andere sorgte.

Ich setze mich an den Rand des kleinen Plateaus. Und schaue auf die Welt. Irgendwann fängt die Sonne an unterzugehen, goldfarbene Lichtadern ziehen durch die Luft. Ich bin allein und wunderbar einsam. Ich liebe das. Als Heimat zählt auch die Einsamkeit, nein, nicht die, die das Herz auffrisst, lieber die andere, jene, in der nichts fehlt, die alles hat, die tatsächlich...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Welt / Arktis / Antarktis
Schlagworte Afrika Buch Reportagen • Afrika Reisebericht • Allein auf Reisen • Autobiografie • Begegnung mit fremden Kulturen • Bestseller • Bestsellerautor • Bestseller-Autor • Bücher übers Reisen • Emigration • Fremde Kulturen • Gebrauchsansweisung • Gebrauchsanweisung für das Leben • Gebrauchsanweisung für die Welt • Geschenke für Frauen • Geschenke für Männer • Heimat • Heimatgefühle • Heimatland • Heimatliebe • Heimatverlust • Integration • Nation • Paris • Patriotismus • Preisgekrönter Autor • Reiseerlebnisse • Reiseerzählung • Reisereportagen • Reisereporter • Reiseschriftsteller • Reportage • Sahara • Scheißleben • Sprache • Traveller • Welt
ISBN-10 3-492-99848-8 / 3492998488
ISBN-13 978-3-492-99848-2 / 9783492998482
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