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Kurze Geschichte des Antisemitismus (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
335 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75579-8 (ISBN)
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Antisemitismus ist wieder sichtbar, teils offen, teils versteckt hinter «unbedachten » Äußerungen und Israelkritik. Doch wo beginnt der Antisemitismus, und wie neu ist, was wir heute erleben? Peter Schäfer beschreibt klar und konzise, wie sich seit der Antike antisemitische Stereotype verbreiteten, zu Verfolgung und Vernichtung führten und auch nach der Shoah virulent sind. Sein umfassender, souveräner Überblick macht eindringlich deutlich, warum der Antisemitismus so alt und zugleich so aktuell ist.
Schon in der vorchristlichen Antike gab es Judenhass, Ghettos und Pogrome, doch erst die neutestamentlichen Schriften schufen mit ihrer Gegnerschaft zum Judentum die Voraussetzungen für Ritualmordlegenden und Verfolgungen im christlichen Mittelalter. Luther rief zur Auslöschung der «Teufelskinder» auf, die Aufklärer fanden das Judentum unvernünftig, Wissenschaftler begründeten den Judenhass rassistisch, und allzu viele waren bereit, sich an der «Endlösung der Judenfrage» zu beteiligen oder schauten lieber weg. Man könnte meinen, dass der Schock des Massenmordes heilsam war, doch Antizionismus und rechte Ideologien dringen seit Jahren mit antisemitischem Gepäck in die Mitte der Gesellschaft vor und bereiten den Boden für neue Gewalt. Peter Schäfers erhellendes Buch ist Pflichtlektüre für alle, die besser verstehen wollen, warum der Antisemitismus so alt und zugleich so aktuell ist und was er für Juden in der Nachbarschaft, in Israel und überall auf der Welt bedeutet.

Peter Schäfer, Professor em. für Judaistik, hat an der Freien Universität Berlin (1983 - 2008) und der Princeton University gelehrt (1998 - 2013) und war bis 2019 Direktor des Jüdischen Museums Berlin. Er wurde u. a. mit dem Leibnizpreis der DFG, dem amerikanischen Mellon Distinguished Achievement Award, dem Dr. Leopold Lucas-Preis der Universität Tübingen und dem Reuchlinpreis der Stadt Pforzheim ausgezeichnet.

1

GRIECHISCH-RÖMISCHE ANTIKE


Die Diffamierung der Juden als Menschen-
und Fremdenfeinde

Es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass das Judentum, so wir wie es kennen, erst im Babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v. Chr. und in der unmittelbar folgenden nachexilischen Zeit seine bis heute gültige Gestalt gewonnen hat. Der persische König Kyros erlaubte 538 v. Chr. den verbannten Israeliten die Rückkehr aus dem Exil. Die Zeit der persischen Oberherrschaft über die kleine jüdische Provinz Judäa (Jahud) am äußersten westlichen Rande des persischen Großreiches endete mit dem Sieg Alexanders des Großen über Darius III. im Jahr 333 v. Chr. Mit Alexander begann die lange Zeit der griechischen und dann der römischen Oberhoheit über das jüdische Territorium, die das Judentum der Antike über weite Strecken geprägt hat. Durch die Reichsteilung nach Alexanders Tod kam Judäa zunächst unter die Herrschaft der Ptolemäer in Ägypten, dann der Seleukiden in Syrien-Palästina. Die Makkabäeraufstände ab ca. 168/67 v. Chr. führten zur schrittweisen Loslösung der jüdischen Provinz aus dem seleukidischen Staatsverbund, die schließlich in der Errichtung eines selbständigen jüdischen Staates unter der Dynastie der Hasmonäer gipfelte. Als die Römer ihren Einfluss auf den Vorderen Orient ausdehnten und dem Seleukidenreich ein Ende bereiteten (64 v. Chr.), war es auch mit der relativen Selbständigkeit des jüdischen Staates vorbei. Die Römer installierten Herodes den Großen als ihren Vasallenkönig (37–4 v. Chr.) und gliederten Judäa bald nach dem Tod des Herodes als Provinz in das Römische Reich ein. Der erste jüdische Krieg besiegelte mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels durch den späteren Kaiser Titus (70 n. Chr.) das Schicksal des jüdischen Staates und des sich auf den Tempelkult gründenden Judentums. Mit dem Entstehen des Christentums und seiner rasanten Ausbreitung in der griechisch-römischen Antike betrat ein neuer Mitspieler die politische Bühne, der das Ende des römischen Imperiums einläuten und die weitere Entwicklung des Judentums in dramatischer Weise beeinflussen sollte.

Der Siegeszug des jungen Alexander eröffnete ein ganz neues Kapitel in der Geschichte des Vorderen Orients. Zwar waren die westlichen Gebiete des persischen Großreiches – darunter auch die Küstenebene des später «Palästina» genannten fruchtbaren Landstrichs zwischen Syrien im Norden und Ägypten im Süden – wirtschaftlich und kulturell schon lange nach Griechenland hin orientiert, doch wurden sie nun auch militärisch und politisch in die umfassende Ökumene des neuen hellenistischen Großreiches integriert. Auch das kleine und politisch unbedeutende Judäa wurde Teil dieser Ökumene, die sich als Zentrum und Speerspitze der zivilisierten Welt verstand. Wer außerhalb dieser Zivilisation stand, die durch einen einheitlichen Wirtschaftsraum, gemeinsame Werte, gemeinsame religiöse Grundüberzeugungen und gemeinsame kulturelle Errungenschaften geprägt war, und ihr auch nicht durch Eroberung und Unterwerfung eingegliedert werden konnte, war ein verachteter Barbar.

Identitätsstiftende Merkmale des jüdischen Ethnos


Das Judentum, das durch die Eroberung Alexanders in diese weltumspannende hellenistische Ökumene eintrat, war – wie auch die anderen Völker des Vorderen Orients – ein Ethnos, also eine Stammes- und Volksgemeinschaft mit besonderen kulturellen, sprachlichen und religiösen Eigenheiten. Seine identitätsstiftenden Merkmale, die sich nach dem Babylonischen Exil herausgebildet hatten und als solche auch von der griechisch-römischen Umwelt wahrgenommen wurden, lassen sich kurz zusammenfassen:

Im Zentrum des jüdischen Selbstverständnisses steht seit der Rückkehr aus dem Exil die Torah – im engeren Sinne, die Fünf Bücher Mose der Hebräischen Bibel –, die Moses nach jüdischer Tradition auf dem Berg Sinai von Gott offenbart wurde. Die Torah ist das Religions- und Staatsgesetz, das alle Belange des jüdischen Volkes regelt. Es ist der normative, das heißt für alle Juden gültige Ausdruck der jüdischen Lebensweise in ihren religiösen und politischen Komponenten, das Gesetz des in Judäa lebenden Volkes, das ihm von Gott gegeben wurde und das es freiwillig angenommen hat. Die jüdischen Schriften der hellenistischen Zeit nennen die Torah daher auch «die väterlichen Gesetze» (ta patria nomima). Jeder Eingriff in diese väterlichen Gesetze gilt als ein Angriff auf den Kern und das Wesen des Judentums.

Eng verbunden mit der Torah als identitätsstiftendem Merkmal des Judentums ist die jüdische Gottesvorstellung. Die Zehn Gebote verkünden Gott als den Gott, der Israel aus Ägypten geführt hat und neben dem sie keine anderen Götter haben dürfen.[1] Das «Höre Israel» (Schema‘ Jisrael), das feierliche Gottesbekenntnis des Judentums, preist Gott als Israels einen und einzigen Gott, den Israel mit seinem ganzen Herzen, seiner ganzen Seele und seiner ganzen Kraft lieben soll.[2] Dieser Gott wird von seinem Volk in seinem einzigen Tempel in Jerusalem durch kultische Handlungen (Tieropfer) und Gebete verehrt. Er ist unsichtbar und braucht keinen Namen, der ihn von anderen Göttern unterscheidet; auch Abbilder von ihm gibt es nicht. Für die religiöse Kultur der Griechen und Römer war dieser Gott befremdlich. So vertraut der Tempelkult mit seinen Tieropfern ihnen war, so wenig konnten sie mit der Vorstellung eines einzigen, bild- und namenlosen und in seinem Wesen unbekannten Gottes anfangen. Ihr Götterpantheon kannte zwar die Idee eines obersten Gottes, aber es war gerade darauf angelegt, sich zu erweitern und auch die Götter anderer Völker zu integrieren. Dass die Juden sich dieser harmonisierenden Tendenz widersetzten, war von Anfang an ein Stein des Anstoßes.

Weitere Identitätsmerkmale, die seit der nachexilischen Zeit immer prominenter hervortraten, waren die Beschneidung, der Sabbat und das Verbot, Schweinefleisch zu essen. Von diesen dreien war die Beschneidung das folgenreichste ethnische Identitätsmerkmal, weil es physisch sichtbar und nur schwer rückgängig zu machen ist. Die Bibel verlangt von jedem männlichen Juden, beschnitten zu werden: «Ein Unbeschnittener, eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem Stammesverband abgeschnitten/ausgemerzt werden (karet). Er hat meinen Bund gebrochen» (Genesis 17,14). Aber da die Beschneidung den Bund Gottes mit Abraham und dem aus ihm entstehenden Volke besiegelt, ist sie gleichzeitig auch ein religiöser Akt. Die Griechen (und später auch die Römer) missbilligten die Beschneidung, und es war eines der erklärten Ziele der jüdischen Hellenisten in Jerusalem, sie abzuschaffen. Da die athletischen Wettkämpfe im Stadion, eines der wichtigsten Symbole der griechischen Lebensweise, nackt ausgetragen wurden, propagierten die jüdischen Hellenisten sogar eine operative Prozedur, die darauf abzielte, die Vorhaut wiederherzustellen (in den griechischen Quellen epispasmos genannt). Zu den berüchtigten Gesetzen, die der seleukidische König Antiochus IV. gegen das traditionelle Judentum erließ, gehört daher auch an ganz prominenter Stelle das Verbot der Beschneidung (1. Makkabäer 1,48). Frauen, die ihre Söhne hatten beschneiden lassen, wurden öffentlich in der Stadt herumgeführt und dann mit ihren Kindern von der Stadtmauer gestürzt (2. Makkabäer 6,10). Im Gegenzug ließen die makkabäischen Rebellen, die sich gegen die Seleukiden und ihre «aufgeklärten» jüdischen Parteigänger erhoben, unbeschnittene Jungen zwangsweise beschneiden (1. Makkabäer 1,46).

Der Sabbat als Tag der Ruhe von jeder Arbeit geht nach der Hebräischen Bibel auf den göttlichen Schöpfungsakt zurück. Als Gott die Erschaffung des Himmels und der Erde abgeschlossen hatte, ruhte er am siebten Tag: «Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er gemacht hatte, und er ruhte am siebten Tag von dem ganzen Werk, das er gemacht hatte» (Genesis 2,2). Israel soll dem Beispiel seines Gottes folgen und ebenfalls am siebten Tag ruhen (Exodus 20,8–11); gleichzeitig soll der Sabbat Israel auch an den Auszug aus Ägypten erinnern (Deuteronomium 5,15). Und auch der Sabbat erreichte seinen vorläufigen Höhepunkt als ethnisches Identitätsmerkmal des Judentums in hellenistischer Zeit. Genau deswegen verbot Antiochus IV. auch die Feier des Sabbats und der anderen jüdischen Festtage (1. Makkabäer 1,45). Die makkabäischen Rebellen weigerten sich zunächst, am Sabbat zu kämpfen. Als die seleukidische Armee sich diesen taktischen Vorteil zunutze machte, lernten die Rebellen ihre Lektion und verzichteten auf den ...

Erscheint lt. Verlag 27.8.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Allgemeines / Lexika
Reisen
Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Judentum
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antisemitismus • Antizionismus • Aufklärung • Endlösung • Geschichte • Ghetto • Holocaust • Israel • Israelkritik • Juden • Judenfrage • Judenhass • Judentum • Pogrome • Politik • Rassismus • ritualmordlegende • Sachbuch • Shoah • Verfolgung • Vernichtung
ISBN-10 3-406-75579-8 / 3406755798
ISBN-13 978-3-406-75579-8 / 9783406755798
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