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Eine indische Liebe (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
314 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10952-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine indische Liebe -  Sarah Lloyd
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In Indien ist Sarah Lloyd zwei Jahre geblieben. Die Liebe war da im Spiel: zu der Landschaft, den alten Mustern des dörflichen Kunsthandwerks (für die kaum ein Inder mehr einen Blick hat) - und zu Jungli, einem Sikh; Außenseiter auch er in seiner Gruppe. Gemeinsam erproben sie, wie viele kulturelle Barrieren starke Zuneigung überwinden kann - und wo sie schließlich scheitern muß. Sarah Lloyd hat dabei zwei Jahre lang das traditionellste Frauenleben geführt und seine unerwarteten Freiheiten erkundet.

Sarah Lloyd, Reiseschriftstellerin und Landschaftsarchitektin, wurde 1947 geboren.

Karin Petersen, 1950 in Bodenwerder geboren, arbeitete nach dem Studium an verschiedenen Projekten der Frauenbewegung mit und war bis 1979 Redakteurin der Zeitschrift «Courage». 1978 erschien ihr Roman «Das fette Jahr». 1980/81 lebte sie im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh in Poona und bekam den neuen Namen Ma Prem Pantho (Weg der Liebe). Sarah Lloyd, Reiseschriftstellerin und Landschaftsarchitektin, wurde 1947 geboren.

Vorweg


Er saß mit gekreuzten Beinen auf einer braunen Decke. Er hatte ein kraftvolles Gesicht, auf dem sich alles sofort abzeichnete: die hohe Stirn, die lange Nase, der feingeschwungene Mund und die mandelfarbene Haut; aber es war ein Gesicht, von dem Traurigkeit ausging. Auf dem Kopf trug er einen hohen Turm aus blauen Turbanen. Über seiner aquamarinblauen Tunika hatte er eine orangene Stoffbahn um die Taille gebunden, und eine zweite hing über seine linke Schulter. Vor ihm lag ein Schwert.

Ich war drei Tage lang im Zug gereist und hatte Nordindien vom äußersten Westen in Gujerat bis zum östlich gelegenen Kalkutta durchquert. Die Landschaft war nicht sehr aufregend gewesen und meine Reisebegleitung auch nicht. Ich saß eingeklemmt zwischen einem Haufen langweiliger Leute, die alle nörgelten, wie langweilig doch die anderen alle seien. Ein kleines Mädchen fand mich so langweilig (ich las die ganze Zeit in einem Buch über die Geschichte der Sikhs), daß sie mir einen harten Klaps gab, um mich aufzuwecken. Ich gab ihr einen Klaps zurück, und ihr Vater lachte. Danach fielen wir alle zurück in die kollektive Langweile, bis die üppig bewässerte Landschaft Bengalens anzeigte, daß wir uns Kalkutta näherten.

Es war wunderbar, den Zug endlich verlassen zu können und wieder in das vertraute Chaos und das elektrisch geladene Leben der Bazare einzutauchen. Es war schön, von Menschen, die mich aus dem Gurdwara – dem Tempel der Sikhs – kannten, mit einem breiten Lächeln begrüßt zu werden. Und da war Jungli, auf seiner Decke sitzend, mit dem langen schwarzen Bart des zehnten Gurus der Sikhs und den Augen eines Buddhas, die noch den letzten Winkel durchleuchteten.

Jungli war ein Nihang, freiwilliges Mitglied einer lose organisierten religiösen Armee, die von den Sikhs unterhalten wurde, um ihren Glauben zu verteidigen. Die Kleidung, die er trug, die Gesetze, denen er folgte, und die Ideale, nach denen er lebte, hatten sich in den drei Jahrhunderten ihres Bestehens nicht verändert.

Ich durchlief zu dieser Zeit gerade eine Phase von Mildtätigkeit gegenüber den Nihangs. Viele von ihnen waren arm und hatten kein Zuhause; soweit ich wußte, waren sie von der Großzügigkeit anderer abhängig. Obwohl die meisten gewöhnlichen Sikhs ihnen weder Respekt noch Freundlichkeit entgegenbrachten, dachte ich, daß sie darauf eingestellt waren, ihr Leben für die Verteidigung ihres Glaubens zu geben. Ich kaufte Milch, Süßigkeiten und Früchte für Jungli.

Morgens reichte er mir schweigend eine flache Eisenschale; eine der vollkommensten Gegenstände, die ich je gesehen hatte. Ich nahm sie und trank daraus. Der Tee war grau, und er schmeckte nach Eisen und dem Rauch von Holzkohle.

Gurdwaras stehen Menschen aller Glaubensrichtungen offen. Seit mehr als vier Jahrhunderten haben sie ihre Gastfreundschaft umsonst angeboten, haben einfache Schlaf- und Waschmöglichkeiten bereitgestellt und zwei einfache Mahlzeiten pro Tag. Als ich zwei Monate zuvor nachts mit dem Flugzeug in Assam ankam, war dieser Gurdwara der erste, in dem ich wohnte. Ich war über die Howrah-Brücke in die Bazarstraßen gegangen und hatte hin und wieder jemanden gefragt: «Wo ist der Gurdwara?» Verständnislose Blicke. Kein Englisch. «Wo ist der Gurdwara?»

«Entschuldigen Sie, aber ich verstehe Ihr Englisch nicht.»

«Aber das ist doch ein indisches Wort! Gurdwara. Der Sikh-Tempel.»

«Ach so, Sie meinen Gurdwara! Hier gibt es keinen Gurdwara.»

Und wieder: «Wo ist der Gurdwara?»

«Gehen Sie geradeaus weiter. Dann fragen Sie noch mal.»

«Wo ist der Gurdwara?»

«Soweit ich weiß, ist einer in der Nähe des Viktoria-Denkmals beim Krankenhaus. Sie müssen die Straßenbahn nehmen.»

Aber andere Leute meinten wieder, daß er irgendwo im Bazarviertel sein müsse. Ich erwischte einen Sikh-Taxifahrer. Der mußte es doch wissen.

«Wo ist der Gurdwara?»

Schulterzucken. Nicht religiös. Nicht interessiert.

Nach und nach wurde die Spur heißer und die Antworten erfolgversprechender. «Halten Sie sich auf dieser Seite und gehen Sie geradeaus.» Aber ich verfehlte ihn immer noch, weil zur Straße hin nur ein schlichter weißer Türeingang inmitten des belebten Bazars lag, zwischen Läden, Verkaufsständen und Straßenhändlern, und das täuschte, obwohl der Gurdwara tatsächlich ein großes, achtstöckiges Gebäude war. Später lernte ich, den Türeingang zu finden, indem ich mich an eine große Reklametafel für Gwalior-Kleidung hielt, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite prangte. Ich entdeckte später auch, daß es diese Gwalior-Anzeigen überall in Indien gab; das heißt außer in Gwalior, wo etwas anderes in Mode war.

Im Türeingang stand ein Mann mit einem blauen Turban, der einen langen Speer in der Hand hielt. «Gurdwara?» fragte ich, und er zeigte auf ein Treppenhaus. Im ersten Stock war ein großer, völlig leerer Raum, von dem ich annahm, daß er der Arbeitsraum sei, und darüber lag eine Galerie. Im dritten Stock fand ich ein Büro, geschlossen. Ich setzte mich hin und wartete.

«Haben Sie Zimmer frei?» fragte ich, als sich ein magerer Mann, ebenfalls mit blauem Turban, neben mir verkörperte.

Kein Englisch, aber soweit ich verstand, auch keine freien Zimmer. Ich setzte mich wieder hin. Ich hatte den ganzen Morgen damit verbracht, diesen Gurdwara zu suchen. Aber dann erschien ein kleines Mädchen und winkte mir, und ich folgte ihm drei weitere Treppenaufgänge hinauf an einer Schule und einem Eßzimmer vorbei bis in den sechsten Stock.

Das war genau das, was ich mir erhofft hatte: ein großer Gemeinschaftsraum, ringsherum Fenster und davor auf Leinen die Wäsche der Leute. Der Fußboden war mit Pandschab Daris, gewebten Baumwollmatten, ausgelegt. Und das war auch schon alles. Jeder suchte sich seinen Platz und ließ sich darauf nieder, das Gepäck gegen die Wand gestellt. Einige Männer rekelten sich auf den Daris und schwätzten in Gruppen, während andere auf ihren Bettplätzen schnarchten oder ihren Turban neu banden. In einer Ecke schienen eine junge bengalische Mutter und ihre Kinder ihr Camp für immer aufgeschlagen zu haben. Sie kochten gerade ihr Mittagessen.

Als es Abend wurde, kamen immer mehr Menschen herauf. Auch um zehn und elf Uhr nachts kamen immer noch welche. Die meisten von ihnen waren Geschäftsleute mit Aktenkoffern (die sie als Kopfkissen benutzten), die in die Stadt gekommen waren, um etwas zu kaufen oder Kunden zu besuchen. Sie legten sich so hin, wie sie waren, in voller Kleidung, und fegten den Staub von dem Stückchen Dari, das sie sich ausgesucht hatten, indem sie mit ihrem Handtuch darüberwedelten. Der Turban diente ihnen als Polster gegen die harten Kanten ihrer Aktenkoffer; ihre Schuhe stellten sie ordentlich neben ihre Füße.

Das Licht blieb die ganze Nacht lang voll an, und um zwei oder drei Uhr morgens begann die erste, die andächtigste Truppe, aufzustehen. Sie schlurften durch die Halle zu den Waschbecken in der Ecke (von wo plätschernde, singende und gurgelnde Töne drangen) und kamen zähneklappernd zurück, um ihr Morgengebet zu beginnen. Ihr Murmeln und Singen war durchsetzt vom Schnarchen und den Körpergeräuschen der Geschäftsleute und wurde von den Geräuschen der nächsten Schicht am Waschplatz begleitet. Was ich lernen mußte war, daß Inder zu jeder Tages- und Nachtzeit schlafen können und daß Dunkelheit für sie keine besondere Rolle spielt.

Kalkutta ist und bleibt meine indische Lieblingsstadt. Jeden Tag ging ich an den Ufern des Flusses entlang und beobachtete den Sonnenaufgang über dem Howrah-Bahnhof. Jeden Tag kehrte ich durch dieselben dunklen Seitengassen zurück, in denen jeder Türeingang sich zu einem kleinen Hindu-Altar öffnete, märchenhaft beleuchtet von bunten Ketten aus nackten Glühbirnen, mit all den Götterbildern, die in Girlanden aus gelben Dotterblumen und dem blauen Dunst der Räucherstäbchen schwammen. Jeden Tag brachte ich für Jungli und seine Freunde, Inderjit und Bir, kandierte Früchte mit.

Es war ein kalter Januar. Jungli stand jeden Morgen um vier Uhr auf, nahm sein Bad und kam bibbernd zurück, saß in sein Handtuch eingewickelt und rezitierte bis sechs Uhr seine Gebete. Ich las in der Zwischenzeit Tagore oder stand auf dem Dach, acht Stockwerke hoch über der Mahatma-Gandhi-Straße, und beobachtete die Ziegenherden, die durch die dunklen Hohlwege an den zugedeckten Straßenschläfern vorbei zum Ganges runtertrappelten. Nach dem Tee um sechs Uhr halfen wir das Frühstück vorbereiten, saßen im Kreis auf den Daris, pellten Zwiebeln, enthülsten Ingwer und schnitten Kartoffeln klein, wobei wir uns in Zeichensprache und Kindergarten-Hindu unterhielten und über unsere Mißverständnisse lachten.

Jungli, Inderjit und Bir waren über 2500 Kilometer von Amritsar im Pandschab nach Kalkutta gereist und dabei den Spuren von Birs Bruder gefolgt, der ausgerissen war. Er war mit dem Geld seiner Angehörigen weggelaufen und hatte sich auf den Weg gemacht, das schnelle Leben in Bangkok zu genießen. Mehrmals am Tage gingen sie zu seinem Hotel in der Nähe des Howrah-Bahnhofs und versuchten ihn zu überreden, nach Hause zu Inderjits Schwester, seiner Frau, zurückzukehren. Aber Birs Bruder hatte andere Pläne.

Eines Morgens, als wir gerade Gemüse schnitten, bemerkte ich, wie Inderjit etwas aus seiner Tasche zog und es, in kleine Stücke zerteilt, herumreichte. Er gab mir auch ein Stückchen, und ich schluckte es herunter, wie alle es taten. Ich fragte mich, was das wohl sein könnte, und war entschlossen, es herauszufinden. Als ich eine Stunde später in Chowringee die Straßenbahn verließ, begann sich alles um mich herum zu drehen, und ich betrat eine Moschee, um mich flach auf den Boden zu legen.

«Eine weiße Frau, eine Ungläubige, und liegt auf...

Erscheint lt. Verlag 23.3.2018
Übersetzer Karin Petersen
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Asien
Schlagworte Barrieren • Frauenschicksa • Frauenschicksal • Freiheit • Tradition • Zuneigung
ISBN-10 3-688-10952-X / 368810952X
ISBN-13 978-3-688-10952-4 / 9783688109524
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