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Expedition Patagonien - Aufbruch ins Ungewisse

Buch | Hardcover
248 Seiten
2013
Pfefferkorn, Axel (Verlag)
978-3-00-042434-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Expedition Patagonien - Aufbruch ins Ungewisse - Axel Pfefferkorn
CHF 34,70 inkl. MwSt
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Patagonien ist nicht nur der Cerro Torre. Axel Pfefferkorn begibt sich auf seinen Abenteuern durch Patagonien in Gebiete, wo echter Pioniergeist gefragt ist. Querung des Nördlichen Patagonischen Eisfeldes mit Besteigung des Monte San Valentín, dem höchsten Gipfel Patagoniens, Cerro San Lorenzo und der Monte Sarmiento auf Feuerland sind die wichtigsten Stationen auf seinen Abenteuerreisen durch das wilde Land. Unter dem Slogan 'Lieber einen Berg Schulden, als ein Stück Freiheit abgeben', hielt A. Pfefferkorn radikal an seiner Unabhängigkeit fest, als bei Sponsoren die Klinken zu putzen. Nur so ließ sich die Freiheit ohne die störenden Einflüsse in ungekannter Weise ausleben. Mit jenem fest verankerten Vorsatz bricht er zu immer neuen Patagonienreisen auf und schildert in seinem ersten Buch unverblümt die Kontroverse mit Patagoniens Extremen. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Beschriebene Reisen und Expeditionen:
+++ mit dem Schiff von Puerto Natales nach Puerto Montt
+++ zu Fitz Roy und Cerro Torre
+++ Glaciar Perito Moreno
+++ Paine Nationalpark
+++ Besteigung Cerro San Lorenzo (Cerro Cochrane)
+++ Querung des Nördlichen Patagonischen Eisfeldes mit Besteigung des Monte San Valentín
+++ Monte Sarmiento auf Feuerland ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Abgerundet wird das Buch mit einem Vorwort von Silvia Metzeltin Buscaini.
Das Abenteuerbuch über Patagonien!

11.Vorwort

Wo das Abenteuer zu Hause ist
17.Born to be free
19.Schmerzvoller Einstieg
22.Der Cerro Torre lockt
26.Das Geheimnis des Fuchses
28.Erst Treibgut, dann vom Fieber ergriffen
32.Abschied und ein Versprechen

Patagonisch bequem
35. Viel zu laut – Von den stillen Naturgewalten und städtischer Betriebsamkeit der Menschen am Moreno-Gletscher und im Paine-Nationalpark
37.Zu den Gletschern Serrano und Balmaceda, und Weihnachten
40.Mit dem Boot von Puerto Natales nach Puerto Montt, und Silvester
45.Mit dem Zug nach Santiago

Garten Edel
49.Das Angeln ist des Chilenen Lust – Am Lago Bertrand und Río Baker
51.Die glauben wohl ich sei Aas – Im Tal des Río Solér

Sehnsucht stillen
59.Der lange Weg zum Cerro San Lorenzo
64.Zum Cerro Hermoso
67.Der Besuch
68.Erste Solobesteigung von Cerro Pampa Linda und Cerro Glaciar Alto

Volltreffer
73.Una cosa patagonica
77.Anreise zum Cerro San Lorenzo auf patagonische Art
81.Die Besteigung des Cerro San Lorenzo
84.Einmal Cerro Torre und zurück
86.Gipfelfreude und Wetterglück
90.Die Baustelle

Ein Traum von Schön oder Es ist ja Sommer
93.Anreise zum Nördlichen Patagonischen Eisfeld
99.Shutteln zum Nef-Gletscher
102.Der Wasserfall
105.Die ersten Schritte auf dem Eisfeld
107.Voll die Krise
109.Ein Gammeltag
110.Der Tassentod
111.Dem Monte San Valentín entgegen – Alltag auf dem Eisfeld
114.Lager 6
116.Mit dem Flaschenzug zum Monte San Valentín
120.Der Gipfelsturm und die Kunst umzukehren

Himmel und Hölle
127.Zurück zum Lager 6 und wie wir uns so richtig kennenlernen
131.Wir saufen ab
132.Zeit zum Bezahlen
133.Über den Nunatak
136.Verlaufen
138.Patagonisch Roulette
140.Der Duft des Waldes
142.Zurück in der Zivilisation – An der Laguna San Rafaél

Calma – Lust auf Meer
151.Die erste Etappe zum Monte Sarmiento – Auf der Magellanstraße von Punta Arenas bis an den Rand des Vergessens
155.Die zweite Etappe zum Monte Sarmiento – Ankunft in der Bahía Escandallo

Null
161.Die Suche nach der Aufstiegsroute
164.Die Fuchsjagd
167.Eine Nacht auf der Rampe

Dem Chaos ergeben
173.Der Gipfel der Frechheit
175.Geröll ohne Steine
177.Wintereinbruch im Basecamp
179.Alles umsonst? – Der Kampf um Camp 1 nimmt kein Ende
184.Im Schrund

Die Entscheidung
189.Einen Tag weniger im Basecamp – Einen Tag mehr schachten
192.Bizarres Chaos – Wo ist Camp 2?
208.Ein Plan für Lebensmüde
209.Augenblicke der Lebensfreude – Auf dem Grat des Trostes
215.Finale in der Schneehöhle

Abschied
221.Auf dem Cerro La Laguna hoch über der Bahía Escandallo
225.Der Schritt

Verschlungene Wege
229.Ausflug zum Lago Blanca
233.Zurück zum Festland

Knall von Knallinger
239.E-Mail 1
241.E-Mail 2
243.Dank
245.Lexikon

Mit einem Vorwort ist das so eine Sache. Dieses Buch steht auf eigenen Beinen, und braucht es eigentlich nicht. Aber mir gefiel Axel Pfefferkorns Manuskript, natürlich auch, weil ich seit 40 Jahren mit Patagonien verbunden bin und dort während 25 Expeditionen einen erlebnisreichen und oft abenteuerlichen Teil meines Lebens verbracht habe. Auch, weil mir die Bergleidenschaft neue menschliche und wissenschaftliche Horizonte eröffnet hat. So kann ich mich leicht in die herausfordernde Stimmung hineinversetzen, von der Axel treffend und flott erzählt. Gerade heute sind echte, aufrichtige Erlebnisberichte eines jungen unabhängigen Bergsteigers selten. Und das erst recht von Patagonien: Dort dreht sich in der Öffentlichkeit alles entweder um den Cerro Torre oder um die Pilgerfahrten der Reisegesellschaften. Davon, dass es in Patagonien auch noch andere Berge, andere Naturschönheiten, und – last but not least – auch andere Menschen gibt, dass gute Kameradschaft noch gepflegt wird, erzählt kaum einer. Und davon, dass es möglich ist, sich dort ohne viel Geld ein Abenteuer auf Maß zuzuschneiden, erst recht nicht. Vielleicht, weil man diese Seltenheiten dem Massen-tourismus und den Spitzenbergsteigern nicht preisgeben will. Doch Axel nimmt dieses Risiko auf sich. Er berichtet von seiner ersten Schnupperreise, wo wirklich alles sehr ungewiss war, über Alleinbegehungen in der Einsamkeit, abgelegene Aussichtsberge, das patagonische In-landeis, Gipfelglück am San Lorenzo und am San Valentín, und von einem dramatischen Rückzug am Monte Sarmiento in Feuerland, aber auch über die Freundschaften bei diesen Kleinst-Expeditionen sowie über den nächtlichen Kampf gegen einen allzu gierigen und listigen Fuchs, der die Lebensmittel im Lager ausplünderte. Axel hat Patagonien erlebt, so wie man es früher tat und damit bestätigt, dass auch ein junger Bergsteiger von heute daran seine Freude und Erfüllung haben kann. Dabei habe ich mir noch andere Gedanken gemacht. Vielleicht geht es über den puren Zufall hinaus, dass der Autor und seine Freunde aus Dresden kommen. Sie sind mit materiellen Entbehrungen und mit Reisen, von denen sie nur träumen durften, aufgewachsen. Sobald sie frei reisen konnten, sind sie imstande gewesen, sich auch ein einfaches Leben glücklich zu gestalten. Die erlangte Freiheit ließen sie nicht im westlichen Wohlstand ertrinken, sondern sie haben mit persönlichem Einsatz die eigenen Träume in die Wirklichkeit umgesetzt. Axel zeigt uns, dass auch in der heutigen Zeit noch echte, unabhängige Abenteuer und Situationen, in denen man auf sich selbst gestellt ist, zur Verfügung stehen. In einer sich durch Modernisierung immer rascher verändernden Lebenswelt kann man kostbare Erfahrungen, die sogar kulturanthropologisch gesehen ihren Wert behalten, beschreiben und weitergeben. Und dies ohne Sponsorenbettelei, ohne berühmte Ziele an die große Glocke zu hängen, bevor sie überhaupt erreicht sind, das heißt, ohne sich selbst im Voraus zu vermarkten. Was mit diesem Buch angeboten wird, ist ein ehrlicher Abenteuerbericht der modernen Zeit, der jeden Normalbergsteiger, welcher sich auf eigene Faust die Erlebnisse gestalten möchte, ansprechen kann. Wenn ich einen Vergleich mit einem meiner patagonischen Lieblingsbücher wagen darf, dann mit 'Als Pelzjäger in Feuerland' von Hugo Weber, einem Überlebenden des deutschen Kreuzers 'Dresden', der 1915 sich selbst sprengte. Sein Buch erschien 1929 in Berlin und ist längst vergriffen. Bücher gehören zur Kultur und zu den Träumen. Sie können Richtungen weisen und unser Leben ändern. Ich bin auch durch Bücher zur Bergsteigerin geworden, und habe dann durch Schreiben versucht, Erlebnisse und Einsichten weiterzugeben. So ist es für mich eine angenehme Bestätigung, dass es trotz vieler damaliger und späterer Zweifel richtig war, unser italienisches Patagonienbuch 'Traumland für Bergsteiger und Reisende' 1990 in deutscher Sprache bei Bruckmann herauszugeben. Bücher sind eine Möglichkeit, an die Gleichgesinnten der Zukunft über die patagonische Leidenschaft so etwas wie den Ruf zu einer aktiven, glücklichen Weltanschauung zu übergeben. Ich bin dankbar. Denn zu diesem gelungenen Buch von Axel hat ja auch unser altes 'Traumbuch' beigetragen …

Wo das Abenteuer zu Hause ist Born to be free Sanft drücke ich meinen Rücken in die Lehne und spüre die Erleichterung von der Strapaze, den ganzen Tag vor einen über hundert Kilo schweren Schlitten gespannt zu sein. Ich bin müde und strecke die Füße aus. In mir kehrt Ruhe ein. Da fehlt eigentlich nur noch eine Tüte Chips für den vollendeten Fernsehabend und natürlich die passende Unterhaltung. Ein Abenteuer-Movie soll aus der Kiste flimmern. Ja genau, von drei Typen, die vorhaben, das Nördliche Patagonische Eisfeld zu queren und dabei den höchsten Berg Patagoniens, den Monte San Valentín, gleich mit besteigen wollen. Wenn die das packen, wären sie die Ersten, die eine Überquerung mit der Besteigung des San Valentín in einem Zuge schaffen. Bis in die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts war nicht einmal bewiesen, dass es ein Nördliches Patagonisches Eisfeld überhaupt gibt. Und selbst heutzutage finden sich nur veraltete Karten, auf denen der Großteil des Eisfeldes buchstäblich als weißer Fleck dargestellt ist. Dazu paaren sich abartige Wetterunbilden mit Orkanen von menschenfeindlicher Stärke und Wassermassen, die regelrecht vom Himmel stürzen. Die Welt scheint hier grausam, grausamer als anderswo. Trotz allem finden sich regelmäßig Menschen, die sich diese Bürde freiwillig aufladen. Von denen enden jedoch nicht wenige im Seelendrama, zermürbt von tagelangen Stürmen und Dauerregen. Warum, um Himmels willen, treibt es sie dennoch in eine der unwirtlichsten und kaum erforschten Regionen der Erde? Als dann der Film beginnt, zeigt sich eine ganz andere Facette der Patagonischen Anden. Geblendet von der Sonne zieht sich der Blick über eine gewaltige Eisfläche, von eindrucksvollen Gipfeln umrandet, viele sogar namenlos. Zertrümmerte Gletscher oder die mehr als Tausend Inseln und Fjorde am Horizont, die sich als künstlerisches Muster in diese irreale Welt harmonisch einordnen, lassen kein einziges Wort aus mir heraus. Es ist die Einsamkeit, die von der unfassbaren Weite ausstrahlt und von deren Faszination ich hingerissen bin. Fast schon verzweifelt suche ich unsere Spur, einen Anhaltspunkt von der Wahrhaftigkeit, dass wir Teil auf dem Nördlichen Patagonischen Eisfeld sind. Nichts ist mehr zu sehen, das ist auch kein Wunder, schaue ich zurück, auf das was war. Regen, Schnee, Sonne und Wind haben alle Spuren längst gelöscht. Ich blicke nach rechts und sehe unsere beiden roten Kuppelzelte, unecht, wie von einer anderen Welt kommen sie mir vor. Doch sie sind echt, zum Anfassen echt. Für Momente war ich mir nicht sicher, doch die Gegenwart ist endgültig. Wir sind auf dem Eisfeld! Zusammen mit Gernot und Thomas lebe ich das Abenteuer, welches alle Erwartungen übertrifft. Noch vor einem Jahr, am Cerro San Lorenzo, verfehlten wir uns nur knapp um eine Woche, doch keine zwei Monate später, in Dresden, passte die Gelegenheit. Dass wir nun zu dritt auf dem Eisfeld hocken und im selbst erbauten Fernseher das existente Bild ins Imaginäre des Fernsehers übertragen, hat mehr mit der daraus folgenden Notwendigkeit als mit bloßem Zufall zu tun. Die graue Vorzeit liegt offenbar hinter uns, sodass es mir tatsächlich schwerfällt zu glauben, dass wir hier sind. Tiefblauer Himmel über endlosem Raum, die Sonne zeichnet präzise Linien von Höhen und Tiefen, vergängliche Linien, wenn sich der Blick festsetzt. Tage, ja Wochen, herrscht schon ruhiges Hochdruckwetter. Garantiert wird das nicht ewig so weitergehen. Bisher hat jede Expedition mit dem Wettersumpf zu kämpfen gehabt und wir werden auch bezahlen müssen. Die Frage ist nur wann und wie viel? Ich beginne negativ zu denken und das ist gar nicht gut. Vor mehr als zehn Jahren begann meine erste Fahrt nach Patagonien. Damals hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was in Patagonien wirklich abgeht, doch schon dieses Wort 'Patagonien' machte mich neugierig. Mithilfe von Reisekatalogen versuchte ich mir ein Bild zu machen. Ein paar Mal blätterte ich hin und her, blieb jedes Mal bei den schmackhaften Beschreibungen hängen. Kleine Fotos vom Fitz Roy, Cerro Torre und den Torres del Paine erzeugten eine derartige Anspannung in mir, welche sich erst nach ausgiebigem Bierkonsum legte. Am nächsten Morgen, wieder bei Bewusstsein, war jedoch alles beim Alten. Ich war infiziert vom Virus Patagonien, von dem ich gleich gar nichts wusste. Eine bis dahin nicht gekannte Leere machte sich in meinem Kopf breit, nur ein Gedanke quirlte in meinem Bewusstsein, ich muss das unbedingt und so schnell wie möglich vor Ort erkunden. Bis zum Abflug las ich wieder und wieder die Reisebeschreibungen. Gewann damit langsam einen Überblick, wohin ich eigentlich auf meiner ersten Reise in Patagonien wollte und was überhaupt 'allein' machbar war. Ich entwickelte ein Gefühl, wie weit ich im 'Traumland für Bergsteiger und Reisende' gehen konnte. Zudem brachte es den Vorteil, dass ich im trüben Alltag bei Laune gehalten wurde. Erst als ich im Flieger saß, bemerkte ich, wie ich mich hätte noch besser vorbereiten können. Ich wusste zwar inzwischen genau, was und wohin ich wollte, aber im Umgang mit den Menschen vor Ort lag mein Defizit. Unter anderem sprach ich kein einziges Wort Spanisch, nicht einmal die einfache Zahlenfolge brachte ich zusammen. Die Probleme waren vorprogrammiert, was mich aber nicht im Geringsten störte. Das Einzige, was mir dazu einfiel, war, dass ich eine Bierbestellung ohne Spanisch schon zustande bringen würde. Schmerzvoller Einstieg Die erste Reise nach Patagonien schien unter keinem guten Stern zu stehen. Mit Betreten des Fliegers stellten sich wie auf Kommando Zahnschmerzen ein, welche ich die nächsten drei Tage mit meinen ganzen Vorräten an Schmerztabletten zu lindern versuchte. Ohne Hindernisse erreichte ich noch in der Anlandephase den ersten Gipfel, leider nicht in den Bergen, sondern den der Zahnschmerzen. In mehreren Ablenkungsmanövern stellte ich mir nicht nur einmal die Frage: Wie sind denn eigentlich die Patagonier? Große Füße sollen die haben, so stand es in einer abgelesenen Schwarte. Kopf runter und Füße angucken, dachte ich querfeldein durch Río Gallegos. Erster Eindruck: entweder die sind nicht von hier oder haben ganz normale Schuhgröße. Einer fiel mir gleich auf. Seine ungeputzten Schuhe imponierten mir, keine Ahnung, warum. Neugierig hob sich mein Blick von den Schuhen zur ganzen Gestalt. Nichts anderes hatte ich erwartet. Das war kein Stadtmensch, der musste heute Ausgang haben. Der Hut, ach was, das war kein Hut, der sombrero vollendete das wettergegerbte Gesicht, in dem ein schmucker Schnurrbart den ganzen Stolz widerspiegelte. Bei dem genügte ein Blick und ich wusste, der ist mir sympathisch, aber ist der echt? Soll der ein 'echter' Patagonier sein? Klaro, der ist so echt wie sympathisch, das ist ein richtiger Patagonier! überzeugte ich mich. Zum Frühstück gab’s die letzte Ration Tabletten, die nur noch moralischen Wert hatten. Irgendetwas musste passieren, bevor ich in die Wildnis aufbrach. Mit dem Gedanken, dass ich diesen Störenfried loswerden musste, hatte ich mich bereits abgefunden, nur wie, war die Frage. Zwei Möglichkeiten standen zur Debatte, entweder kaufe ich mir eine Zange und erledige die Angelegenheit 'do it myself' oder ich stelle mich dem Zahnarzt, und meine Reisekasse hat sich höchstwahrscheinlich in Luft aufgelöst. Damals war der Argentinische Peso dem Dollar gleichgesetzt, was zur Folge hatte, dass mir schon im Supermarkt schwindlig wurde. Diese horrenden Preise übertrug ich gleich auf den Zahnarzt, bei dem ich die Dollarzeichen in den Augen bereits funkeln sah. Nur eine drohende Infektion hielt mich letztendlich davon ab, mir den Quälgeist selbst zu entfernen. Mit voller Brieftasche und einem Wörterbuch machte ich mich auf den Weg, einen mir angenehmen Zahnarzt, falls es den überhaupt gibt, zu suchen. Dani von der Albergue del Glaciar in Calafate sagte mir, dass wahrscheinlich beim Militärstützpunkt ein Zahnarzt anzutreffen sei. So rechnete ich mit dem Schlimmsten: ein uniformierter, mit Colt und Säbel am Koppel wachender Engel empfing mich in seiner Folterkammer. Ich hatte schon fast eine Hälfte meiner Hose voll von dieser Vorstellung und die restliche Hälfte spätestens beim Empfang, vor den typisch südamerikanischen Wachsoldaten am Hospital. Nur die freundlichen Gesichter unter ihren Mützen machten mir beim näheren Hinsehen Mut. 'Dónde está el Zahnarzt?' stammelte ich aus dem Wörterbuch und zeigte dabei in meinen Mund. Sofort brach Gelächter aus. Einer zog gleich sein Bajonett. Oh, das sieht nicht nach Operation, sondern verdammt nach 'kurzem Prozess' aus. Meine Augen drehten die Runde, stimmten die Gesichter mit den Mützen in einen Hauch von Mitleid um, bis endlich ein Typ sich erbarmte und auf die gegenüberliegende Tür, eine dunkelgrüne Stahltür, zeigte. Entweder ist das der Knast oder dort sitzt der General und ich brauch eine Genehmigung, kam mir als Erstes in den Sinn. Zögernd drückte ich die Klinke nach unten, öffnete noch vorsichtiger die Tür. Aah, die Erlösung. Eine zweite Tür. Die ungewollte Verzögerung beruhigte mich etwas, bis der verängstigende Zahnarztgeruch durch den Türschlitz drang. Zwei freundlich lächelnde Zahnärzte im frischen weißen Kittel empfingen mich. Noch konnte ich zurücklächeln. Der Bann war gebrochen, ich hatte keine Angst vor dem Militärzahnarzt. Ich schlug die Seite mit dem Lesezeichen im Wörterbuch auf und zeigte energisch auf den Satz: 'Hay que sacar el diente' – der Zahn muss gezogen werden – und sehr zaghaft auf den Backenzahn. Etwas Zeit kostete es schon, bis die beiden überhaupt wussten, was ich wollte; mithilfe ihres Bestecks fanden sie es aber schnell heraus. An eine rasche Rettung glaubten selbst die zwei Profis nicht, sie stellten ja fest, dass die Wurzel entzündet war. Nun war mir alles egal, Hauptsache, ich würde den Schmerz los. Dass sich die beiden bereits gerüstet hatten für eine 'schwere' Operation, nahm ich gelassen hin, nach dem Motto: 'Ist Vorschrift'. Gleich wurde eine Spritze klar gemacht, deren Inhalt wenig später mein Eigen war. Im Wechsel holte jeder Stück für Stück des Zahns heraus, welches bei ihnen ein kindliches Lächeln ins Gesicht legte. Inzwischen war ich nur noch fähig, Vokale von mir zu geben. Sobald ich meine Miene schmerzhaft verzog, kam eine neue Spritze zum Einsatz. Endlich, nach fast drei Stunden fand die Geiselnahme erfolgreich ihr Ende. Erleichtert erhob ich mich aus dem Liegestuhl und nahm die Einladung, in die Albergue del Glaciar gefahren zu werden, dankend an. Bei der nächsten Drogerie endete jedoch die Fahrt und eine sehr hübsche Frau kam aus dem Hinterzimmer. Sogleich gab sie mir zu verstehen, dass ich meine Hose herunterlassen sollte. Oh, dachte ich, hat die Temperament. Noch total benebelt vom entfernten Zahn und natürlich von der Frau gehorchte ich der Anweisung ohne Widerspruch, legte mich im Laden über einen Tisch und hatte im selben Moment eine Spritze im Hintern. Das war’s, hatte ich doch viel mehr erwartet. Nun war nur noch das Finanzielle zu klären. Zu meiner Erleichterung brauchte ich nur die Spritze der rassigen Frau zu bezahlen. Völlig entstellt ließ ich mich auf dem Bett in der albergue nieder, kühlte meine Backe, oder war es doch mein Kopf? Schnell ging’s mir besser und ich dachte, nur von außen Kühlen ist eine halbe Sache. Ich griff ins Trekkerbesteck, fand eine Blechsemmel und machte eine ganze Sache draus. Natürlich mit einem '¡Salud!' auf die Zahnärzte. Der Cerro Torre lockt Der Tag war gekommen, heute sollte es Wirklichkeit werden, was mich nächtelang schlaflos gehalten und was ich geträumt hatte und mich tagelang mit nichts anderem beschäftigen ließ, als wie es sein wird, diesen Granittürmen endlich in ihrer ganzen atemberaubenden Majestät, eben in natura, gegenüberzustehen. Pünktlich wackelte der Bus aus der Stadt heraus. Dass da irgendwo diese Türme am Rand der unendlichen, aber keinesfalls langweiligen Pampa sein sollten, ließ mich nur erahnen, wie großartig diese sein müssten. Vorbei am Lago Argentino sorgten ein paar Guanakos und Ñandús für tierische Abwechslung auf der holprigen Busfahrt nach El Chaltén. Uralte Moränen wechselten mit Hügeln in den unterschiedlichsten Farben und Schichten, dazu die tief hängenden einzelnen Wolken in der klaren Luft, die die Pampa wie eine irreale Gegend erscheinen ließen. Bei der Estancia La Leona war Kaffeepause, eine willkommene Gelegenheit, ein cerveza mit einem leckeren Stück Kuchen à la casa zu mir zu nehmen. Mit einer estancia im ursprünglichen Sinn hatte dieser Touristensammelplatz nichts mehr zu tun. Mit solchen Leuten wie mir, die hier im Sommer reichlich ankommen, wird der Lebensunterhalt verdient. Gerade als der Bus eine weite Runde um den Lago Viedma drehte und sich am Horizont der erste Blick auf die lange Kette der Patagonischen Anden bot, schrien die vorn sitzenden Leute ganz aufgeregt 'Cerro Torre, Fitz Roy!' Alles stierte nach vorn und tatsächlich, einige winzige Zacken zeichneten sich am Horizont ab. Um die neugierige Busladung zu beruhigen, blieb dem Fahrer nichts weiter übrig als anzuhalten und den fotomäßig sehr gut ausgerüsteten Mitfahrern ihren Willen zu lassen. Diese winzigen Zacken sollen die über 2500 Meter aus der Pampa ragenden Nadeln sein? Mann, müssen die weit weg sein und doch bin ich ihnen schon so nah. El Chaltén war ein Nest, wie ich es mir nicht anders vorgestellt hatte: alles war großräumig angelegt, schachbrettartig angeordnete staubige Straßen zwischen Baustellen und ein paar Häusern mit Kneipen und kleinen Geschäften. Sozusagen ein Ort, dem ich lieber meinen Rücken zeige, den Plan dazu hatte ich bereits im Kopf. Soweit wie möglich weg von El Chaltén und so nah wie möglich ran an Fitz Roy und Cerro Torre. So fing ich die Runde im Norden, an der Piedra del Fraile an. Es ging leicht bergan auf dem Spaziergang zum Cerro Electrico. Spätestens ab der ersten Stufe war es damit vorbei, loser Schutt erschwerte den weiteren Aufstieg zum Gratausläufer des Cerro Electrico, welcher auf diesem die erste nennenswerte Erhebung darstellt. Vom scharfen Gestein vulkanischen Ursprungs hatte ich bereits nach wenigen Stunden der Tour aufgerissene Hände. Trotzdem war der zähe Aufstieg lohnend, sah man hier absolut nichts von menschlichen Spuren und mit zunehmender Höhe steigerte sich das Panorama ungemein, bis es auf dem Grat unmittelbar unter der Gipfelspitze des Cerro Electrico seinen Höhepunkt erreichte. Von der gewaltigen Granitmauer der Aguja Guillaumet über Fitz Roy bis zum Mojon Rojo reihte sich unterhalb ein wilder Gletscher an den anderen. Direkt unter mir der zerrissene Piedras-Blankas-Gletscher mit dem kleinen blauen Auge der gleichnamigen Laguna. Getrennt durch einen Kessel mit Firn lag mir gegenüber der Paso del Cuadrado, mein nächstes Ziel. In einer Rinne, gefüllt mit feinem Schutt, kam ich dem Firnhang mit Zweimeterschritten schnell näher. Dafür ging es im aufgeweichten Firn umso langsamer bergan. Oben an den steinernen Quadern hörte ich schon den Wind dröhnen, verschwendete jedoch keinen Gedanken über irgendwelche Eventualitäten. Vor mir lag der Bergschrund, da war mir alles weitere oberhalb egal. Nachdem ich diesen überwunden hatte, kletterte ich auf einen dieser cuadrados neben dem Pass und eine heftige Brise überlistete mich, dass es mir mein Tuch vom Kopf wehte. Ich konnte nur noch beobachten, wie es noch nie gesehene Saltos schlug und in den ewigen Jagdgründen Patagoniens verschwand. Als weiterer erstklassiger Aussichtspunkt war mir der Cerro Madsen ins Visier geraten. Wie der Cerro Electrico besteht dieser Schutthaufen aus demselben brüchigen Gestein vulkanischen Ursprungs. Ausgangspunkt war das Camp Río Blanco, wo die ganz Harten lagern. Auf einer späteren Reise traf ich Gino Buscaini und Silvia Metzeltin, welche zu mir sagten: 'Die Berge Patagoniens sind zu schade zum Bergsteigen, weil man sie regelrecht belagern muss.' Genau diese Typen lungerten hier Wochen, ja Monate herum, um im richtigen Moment, also bei guter Wetterlage, in einen dieser wie gesägten Risse einzusteigen. Mit denen hatte ich gar nichts am Hut. Uns trennten Welten, bei denen der Faktor Zeit die entscheidende Rolle spielte. Dieses 'Zeit zu haben' ist ein Luxus, der in weiter Ferne lag, ging ich doch einem geregelten Arbeitsrhythmus nach, was so viel hieß wie elf Monate arbeiten und einen Monat auf Tour. Natürlich fragte ich mich, wie es Leute geben kann, die es gerade umgekehrt machen können oder zumindest eine viel längere Zeit als nur einen Monat in Südamerika umherziehen. Selbst dieses scheinbar unüberwindbare Problem sollte sich bei meinen weiteren Reisen nach diesem Kontinent lösen. Über die Laguna de los Tres kam ich dem Cerro Madsen schnell näher. Vielfach dachte ich schon, es endlich gepackt zu haben, aber jedes Mal türmte sich eine neue Spitze vor mir auf. Augenscheinlich gute Griffe riss ich aus dem Schuttberg, dass mir Angstschweiß von der Stirn tropfte. Mit einem gut gelaunten Schutzengel erklomm ich die letzte Spitze zum Cerro Madsen. Nur noch Fitz Roy, Fitz Roy, Fitz Roy sah, hörte, dachte ich. Hunderte Meter ragte er vor mir in den Himmel, glasklar war jeder noch so feine Riss in der Silhouette auszumachen. Lange konnte ich mich einfach nicht sattsehen am Koloss, der sich noch vor ein paar Tagen als Winzling zu erkennen gegeben hatte. Mit Genickstarre verabschiedete ich mich vom Gipfel, der mir als einer der schönsten Aussichtsberge in Erinnerung bleiben wird. Der nächste Abstecher führte mich über die Laguna Capri, wo ich als Einziger kampierte, zur Laguna Torre, zum Cerro Torre. Hier ein ähnliches Bild, nur wenige Leute machten sich breit im gemütlichen Camp. Die verteilten sich so, dass ich glaubte, kilometerweit abseits der Zivilisation zu sein. Um das Tal des Glaciar Torre zu erkunden, lief ich auf der riesigen Moräne Richtung Nordwesten bis auf Höhe des El Mocho. Die rot blühenden Notrosträucher gaben dem Tal einen lieblichen Charakter. Hinter einem dieser Feuerbüsche ließ ich mich fallen, Auge in Auge mit brummenden Kolibris, die wie besessen den Saft aus dem Kelch schlürften. Derweil vertilgte ich Murtabeeren. Geschmacklich dem Apfel nahe warten sie mit außergewöhnlicher Frische auf, was auf mehr Appetit machte und hinten heraus jedes Verstopfungsproblem löste. Nur mit ganzem Willen und Grauen vor ewiger Hocke konnte ich diesmal die Vertilgungsmenge in Grenzen halten. Nebenbei hoffte ich, den Cerro Torre in seiner ganzen Größe zu sehen. Wieder mal ohne Erfolg verließ ich den paradiesischen Platz, erreichte am späten Abend mein Zelt und bemerkte fast gar nicht, wie sich der Himmel langsam von zartem Rosa zu sattem Rot färbte. Ich schöpfte Hoffnung, morgen den perfekten Sonnenaufgang zu sehen. Um 5 Uhr weckte mich das Gerassel vom Wecker. Ein kurzer Blick aus dem Zelt: Sterne verblassen in der Dämmerung, keine Wolke war zu sehen, außer, wie soll’s auch anders sein, über Cerro Torre und Geschwistern. Die konnten mir nichts anhaben, glaubte ich fest. Mit klappernden Zähnen stand ich am Ufer der Laguna Torre, in der sich das schmale Wolkenband spiegelte, bis ich mit einer Handvoll Steine Unruhe ins Bild brachte. Es war immer dasselbe hier, warten und warten. Mir wurde es langsam selbst zu blöde, dauernd den Cerro Torre auf einer Schwarz-Weiß-Postkarte anzustarren, nur einmal möchte ich ihn im Original sehen. Einmal! Der Wolkenschleier war laufend in Bewegung, drehte wie eine gewaltige Walze und plötzlich: eine glänzende Spitze strahlte zu mir herüber. Er ist es! Wie auf Kommando begann gleichzeitig ein Versteck- und Farbenspiel, bei dem in allen möglichen Rottönen Himmel und Berge, ach was, einfach alles, nahtlos ineinander übergingen. Mittendrin der Cerro Torre, mal sichtbar oder versteckt unter seiner dünnen Wolkenhaube. Ich konnte es nicht fassen, diesen Augenblick nur mit dem Wind genießen zu dürfen. Minutenlang dauerte die Zeremonie brennender Himmel, ehe sich der Cerro Torre hinter der grellweißen Wolkenwand wieder versteckte. Das Geheimnis des Fuchses Das Tal des Río Túnel war weniger spektakulär als das zur Laguna Torre bzw. die Wege zum Fuß des Fitz Roy, also total langweilig, ohne die krönende Kulisse an den Flanken und im Abschluss, dafür zeigte sich das weitläufige Tal ruhig. Die reinste Einöde, wo die naturverachtende Vernichtung des ursprünglichen Urwaldes durch den Menschen allgegenwärtig ist. Fast das gesamte Tal fiel vor etlichen Jahrzehnten der Brandrodung zum Opfer, sodass verkohlte Baumriesen zwischen kräftig grüner Weide meine Wegbegleiter waren. Gerade mal gelbe Teppiche blühenden Löwenzahns sorgten für Abwechslung auf der trostlosen Tour. Dazu teilweise sumpfiges Gelände, das auch nicht gerade dazu beitrug, dass ich den Lago Toro leichtfüßig erreichte. Vielmals kam ich in die Versuchung zu glauben, ich sei falsch, aber viel falsch zu machen gab’s hier nicht. Immer auf der rechten Seite des Río Túnel haltend bildeten die spitzen braunen Türme des Cerro Solo die Führung ins Tal hinein, wo am Ende der breite Sattel des Paso del Viento sichtbar war. Hinter einer Felsbarriere, nur ein paar Minuten vom Lago Toro, unter verkrüppelten Bäumen war das Lager. Gleich wurde ich von einem Fuchs begrüßt, der jede Bewegung von mir genauestens verfolgte. Selbst als ich bis auf circa fünf Meter an ihn heran war, wich er nicht von der Stelle. Ist wohl doch keine Begrüßung? drängte sich mir die Frage auf. 'Ja, du bist hier der Chef!' rief ich ihm zu und ging zum Lager. In sicherem Abstand verfolgte mich das Tier. Der hat wohl nix kapiert oder ich? Ach so, der spricht ja Spanisch, fiel mir ein. '¡El jefe tu!' Irgendwas stimmte hier nicht, ich bewaffnete mich vorsichtshalber mit einem dicken Stock beim Wasser holen. Der Fuchs blieb, wo er war, na gut, dann geh ich eben einen weiten Bogen zum Fluss. Aus dem Windschatten der Felswand heraus entwickelten die Windböen dermaßen Kraft, dass ich nur im Zickzack, schutzsuchend hinter jedem Strauch und Baum, vorwärtskam. Aber auf dem Rückweg erwischte es mich doch. Eine Böe, genau wie jede andere, heulte auf mich zu, ergriff den Topfdeckel, welcher als Diskus mit dem Wind davonfegte. Noch damit beschäftigt herauszufinden, wo er gelandet sein könnte, hatte ich nur noch den Griff vom Topf in der Hand. Topf mit Wasser zerstreuten sich ebenfalls Dutzende Meter weit in der Luft. An der Grenze meiner Konzentration hatte ich Mühe, dem Deckel und dem Topf zu folgen. Wenigstens pfiff das Zeug nicht Richtung Fuchs, sodass ich mich voll und ganz auf die Suche einstellen konnte. Schließlich fand ich den Diskus gut zweihundert Meter vom zerbeulten Topf in der Krone eines Strauches. Hätte nie gedacht, dass Wasser holen so anstrengend sein konnte. Der Fuchs hatte inzwischen fest seine Stellung bezogen, sodass die Hoffnung, den Abstand zu meinen Sachen zu vergrößern, schnell erlosch. Wie angewachsen starrte er mich an. Bellte, als ob er mich jeden Augenblick in die Flucht schlagen wollte. Das hatte auch vorerst Erfolg, klang doch das Bellen richtig schauderhaft. Alles beobachtete er, wie ich den Stock neben dem Rucksack ablegte und mein Zelt aufbaute. Ich traute dem Fuchs genauso wenig, versuchte, ihn ebenfalls nicht aus den Augen zu verlieren, und besonders meine Essensvorräte! Konnte ja sein, er hatte bloß Hunger. Nachdem ich alles gesichert hatte, wollte ich herausfinden, warum sich der Fuchs so merkwürdig verhielt, bewaffnete mich wieder mit dem Stock für den Ernstfall. Am Waldrand, zwischen Felsen, schlich ich unentdeckt im weiten Bogen um den Fuchs, dachte ich zumindest. Wieder bemerkte er diese Attacke und bellte umso aggressiver. Erschrocken sah ich auf einmal den Nachwuchs vor seinem Bau spielen. Damit die Kleinen mich gar nicht erst wahrnahmen und zur allgemeinen Befriedigung des Chefs ging ich wieder zurück und beobachtete das bunte Treiben lieber mit dem Fernglas. Mit einem mulmigen Gefühl verkroch ich mich ins Zelt, war aber glücklich, für das komische Verhalten des Fuchses eine Erklärung gefunden zu haben. Erst spät versank ich im Schlaf, nicht nur der Fuchs, auch die nächste Etappe zum Pass bereitete mir Kopfzerbrechen. Seelisch und moralisch versuchte ich, mir das zu Erwartende vorzustellen, natürlich immer mit erfolgreichem Ausgang. Erst Treibgut, dann vom Fieber ergriffen Wieder zeigte sich das patagonische Wetter von seiner angenehmen Seite, was ich auch brauchte für die anstehende Flussquerung zwischen Lago Toro und dem Río-Túnel-Gletscher. In meiner Beschreibung, die ich zu diesem Abschnitt hatte, stand zu lesen, dass der Fluss an seiner schmalsten Stelle zu queren sei. So ein Quatsch, da kann ich ja gleich über die Fontäne am Gletschertor springen. Es muss eine andere Stelle geben, die weniger Risiko bedeutet. Zunächst suchte ich die Stelle vergebens. Dort, wo es am schmalsten ist, schoss das Wasser laut und in einem atemberaubenden Tempo vorbei, dass jeder Querungsversuch bereits im Kopf scheiterte. Etwas weiter abwärts zum Lago Toro fand ich nach ausgiebiger Suche schließlich eine Möglichkeit, die mir die größten Chancen bot, heil herüberzukommen. Hier lag der Fluss seicht, ohne Gedonner und schäumender Wildheit auf einer Breite von circa acht Metern vor mir. Bekleidet mit Sandalen, Slip und Jacke führte ich einen Test bis zum ersten Drittel durch. Alles ging glatt, nur meine Füße, die ich noch so dringend brauchte, schienen vor Kälte abzufallen. Aber kein Thema dachte ich, mit dem schweren Rucksack durch den ruhigen, dafür etwas tieferen Abschnitt des Flusses einigermaßen schnell zu kommen. Füße aufgewärmt, Rucksack auf und rein in die eiskalten Fluten. Wunderbar, das klappte. Mit Erfolg bestand ich die ersten Meter in die Flussmitte, wo das Wasser eine Tiefe erreichte, dass meine Lenden den Scheitelpunkt markierten. Im selben Augenblick merkte ich auch, dass es ab jetzt kein Zurück mehr gab. Nun war die Kacke am Dampfen oder besser: am Frieren. Ich sah mich bereits mit den Fluten Richtung Lago Toro treiben, erst recht, als ich kurz meinen rechten Fuß hob, um den nächsten Schritt zu machen. Unverzüglich belastete ich wieder beide Füße, stemmte mich krampfhaft auf den Stock. Die Kälte in mir kroch mit beständiger Schnelligkeit aufwärts, angefangen von den Zehen bis über die Knie glaubte ich, alles sei ab. Nur dass ich noch die gleiche Körpergröße hatte, überzeugte mich vom Gegenteil. In Sekundenbruchteilen schossen mir die grausigsten Gedanken durch den Kopf, angefangen vom Paso del Viento, den ich nie erreichen würde, über den Verlust meines Rucksacks, welcher die unangenehmen bürokratischen Wege zur Folge hätte, bis zum Absaufen, und dass ich den Kondoren und der Fuchsfamilie als Futter diene. Dass ich mich vor der Tour bei der Nationalparkverwaltung abgemeldet hatte, nützte mir im Augenblick gar nichts. Wenn die mich finden sollten, ist eh alles zu spät. Nur eins war mir bewusst, von dieser ungemütlichen Stelle im Fluss musste ich mich fortbewegen, was so viel hieß wie 'lass die Karre laufen'. Diesmal hob ich den anderen Fuß, doch bevor ich ihn sicher setzen konnte, kippte ich mit der Strömung in die Eiskälte des nahen Todes. Dem Gewicht des Rucksacks konnte ich nichts entgegensetzen, der tauchte mich vollkommen in die Tiefe. Unaufhaltsam trieb ich abwärts, jede Überlebenskraft mobilisierend kämpfte ich mit den schier unbändigen Wassermassen. Vom Grund stemmte ich mich mit aller Energie über die Wasseroberfläche, schnappte nach Luft, um sogleich wieder in der Strömung zu versinken. Mit dieser Froschtechnik sprang ich dem rettenden Ufer zu. Total am Ende klammerten sich meine zittrigen Hände in den Kies. Die Zähne klapperten, Kiesreste spuckte ich zwischen die Ufersteine. Los steh auf! sagte ich mir. Schliff meine Füße aus dem Wasser, schaffte es aber nicht aufzustehen. Schleppte mich zur nahen Felswand, an der ich mich hochzog und sogleich den Rucksack wutentbrannt hinschmetterte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich der Hölle entkommen war. Alle Klamotten um mich schmeißend, rannte ich wütend im Kreis und übertrug dabei mein ganzes Repertoire an Ausdrücken und Tiernamen auf mich. Wie nahe ich der Linie zwischen Leben und Tod gekommen war, vor allem mit welcher Gedankenlosigkeit, schockierte mich so stark, dass der Versuch, eine normale Handlungsfähigkeit zu erlangen, bereits im Anfangsstadium zum Erliegen kam. Einer wesentlichen Steigerung des Effekts trug die Feststellung bei, dass ich auf der Uferseite war, wo das ganze Elend seinen Anfang nahm. Für Nichts hatte ich mich dieser Gefahr ausgesetzt. Planlos verstreut lag meine gesamte Ausrüstung an der flachen Böschung, über die ich wie Rumpelstilzchen sprang. Wenigstens der Inhalt des Rucksacks war einigermaßen vom Wasser verschont geblieben, sodass ich mir ein paar halbnasse Klamotten überziehen konnte. Einen hundertprozentigen Wasserschaden hatte dagegen mein Fotoapparat, der jedoch nach intensiver wie erbarmungsloser Trocknung über dem Kocher zwei Tage später wieder die heißesten Bilder schoss. Dass heute nichts mehr ging, war klar. Na dann wieder zurück zur bewährten Stelle vor dem Lago Toro bei Familie Fuchs. Während des weiteren Trocknens der Sachen überarbeitete ich den Plan neu, doch auf den Paso del Viento vorzudringen. Die Möglichkeiten hatte ich selbst eingegrenzt. Jede Art einer Flussquerung kam absolut nicht mehr infrage. Demzufolge gab’s nur noch den Weg über die Gletscherzunge, um zum Pass zu kommen. Das klang gut, beschloss ich einstimmig. Dass ich weder Pickel noch Steigeisen mithatte, klang schlecht. Trotz der Tatsache, dass ich wie ein Friseur herumreiste, war ich mir für einen Versuch nicht zu schade. Selbst wenn ich den Gletscher nicht packe, erkunde ich wenigstens die Lage für spätere Touren. Frischen Mutes und mit dem Antrieb, etwas Neues entdecken zu können, blickte ich unmittelbar vor dem Gletscher zum einzigen Übergang. Steil unter mir das Gletschertor mit Fontäne, welche in die canyonartige Schlucht spritzte. Vor mir wölbte sich die nächste Stufe des blanken Gletschers, schon der Anblick löste Angstgefühle in mir aus. Was ohne dreißig Kilo auf dem Rücken keine große Schwierigkeit darstellt, türmte sich hier als gewaltiges Hindernis auf, wovor ich ungeheuren Respekt hatte, zumal ich noch gezeichnet war vom missglückten Ertränkungsversuch vor zwei Tagen. Auf vereinzelt eingefrorenen Steinen zitterte ich mich die Stufe hinauf. Nicht einen Fehler konnte ich mir erlauben, raste ich sonst zur Fontäne abwärts, dem Lago Toro entgegen. Das erste steile Stück überwunden ging es ohne weitere Schwierigkeiten im Auf und Ab zur Moräne, welche ich irrtümlicherweise mühsam hinaufstieg. Ich glaubte, weit oben am Hang einen Pfad zu sehen. Wie wahr. Nur war es ein sich verlaufender Guanakosteig. Um keinen unnötigen Höhenverlust zu erleiden, versuchte ich zu queren, was bei der ersten tief eingeschnittenen Rinne ein Ende fand. Wieder auf dem schneefreien Gletscher, ich hoffte, auf der richtigen Route, hielt ich mich immer in der Nähe der Moräne dem Pass entgegen. Ab Verlassen des Gletschers fand sich ein wenig erkennbarer Pfad zum Tagesziel. Bei starker Bewölkung war es gerade mal Mittag, als ich die letzten Meter zum Pass aufstieg. Der graue Himmel hatte etwas Unscheinbares, etwas Spannendes an sich. Er sagte mir aber auch, dass ich vom Paso del Viento keine klare Sicht haben würde. Allen Erwartungen entgegen wurde ich nicht enttäuscht. Die Wolken hatten sich nicht auf das Eisfeld gelegt, den Cordón Mariano Moreno trübte kein Nebel ein und Richtung Süden war die Sicht auf ein riesiges Eisplateau frei. Das grandiose Panorama überwältigte mich. Ich konnte es einfach nicht mehr zurückhalten. Hier schäme ich mich nicht, einen weichen Kern zu haben. Unaufhaltsam kullerten mir Tränen aus den Augen, sodass sich erst aufgrund meines verschwommenen Sehvermögens die Lage etwas beruhigte. Spätestens jetzt wurde mir eines klar, hier gehöre ich hin! Das Patagonienfieber hatte mich vollkommen in Besitz genommen und ich wusste, dass sich jede noch so kleine Lücke in meinem Gehirnkasten mit diesem Begriff, mit diesen zehn Buchstaben, ausfüllt. Das ist Patagonien! Zwischen den kleinen Seen schlug ich mein Lager auf. Durch den Namen Paso del Viento angeregt bzw. beunruhigt schleppte ich massig Steine um das Zelt, schichtete einen Schutzwall gegen die schlimmsten Stürme. Zum Abend klarte es mehr und mehr auf. Eine ganze Palette rot gefärbter Eispilze auf dem Cerro Grande hatten meine ganze Aufmerksamkeit, als die Sonne brennend hinter dem Cordón Mariano Moreno versank. Abschied und ein Versprechen Bitterkalt und sternenklar neigte sich die Nacht dem Ende zu. Alle Hosen, die mir zur Verfügung standen, sollten der Kälte Einhalt gebieten, leider ohne Erfolg. Nur mit dem Nötigsten ausgerüstet erkundete ich den Grat Richtung Cerro Huemúl. Stellenweise griffig scharf wie ein Nagelbrett war die Oberfläche des Gesteins beschaffen und ermöglichte ein schnelles Vorankommen. Als ich vor einem tiefen Einschnitt weit über dem Paso del Viento stand, kämpfte sich im Osten die Sonne in den Morgen hinein. Genau der richtige Moment, sich am Postkartenpanorama sattzusehen. Aus den tiefroten Spitzen und Gipfeln wurden im Zeitlupentempo strahlend weiße Eisskulpturen in den stahlblauen Himmel getaucht. Messerscharf zeichneten sich die wildesten Abstürze und Eisformationen ab, an deren Kanten die Eiskristalle im ersten Morgenlicht glänzten. So langsam, wie die Schatten auf dem Gletscher kleiner wurden, begann ich mit dem Rückzug zum Pass. Ab nun die gewaltige Eisfläche vor mir. Grenzenlos in den Süden reichte die Aussicht bis weit hinter Cerro Murallón und Don Bosco. Gleich war ich wieder neu angesteckt von dem Gedanken Eisfeld, einmal diese Weite, unberührte Natur, ja einen dieser letzten weißen Flecken auf unserer Erde zu durchstreifen. Ich konnte und wollte mich nicht dagegen wehren, diese Eingebung einfach wegzuwerfen. Nein, erst musste ich das Thema Eisfeld hautnah erleben. Nur mit dem 'einen' Traum im Kopf starrte ich stundenlang aufs Abenteuer. Am Horizont, erst als kleiner Wolkenstreifen sichtbar, hatte sich inzwischen hinter dem Cordón Mariano Moreno eine ganze Wolkenwalze aufgestaut, welche gerade die Sonne verschluckte. Später im Zelt rang ich mit einer schlaflosen Nacht bei totaler Windstille auf dem Pass des Windes. War das die Ruhe vor dem Sturm? Stark beunruhigt von der Wolkenwalze schaute ich aus dem Zelt, sah nur noch gleichmäßiges Grau. Von einer Sturmfront keine Spur. Erst am Morgen weckte mich eine steife Brise. Im Schneetreiben schaute ich ein letztes Mal zum Eisfeld und leise rutschte mir 'hasta luego' über die Lippen. Bevor ich wieder in die Zivilisation eindrang, schlang ich Massen an Calafatebeeren hinunter, von denen man sagt: wer sie isst, kehrt immer wieder nach Patagonien zurück. Ich bekam den Hals nicht voll. Nach dem Motto: viel hilft viel, verbrachte ich den halben Tag an den stachligen Sträuchern, sodass ich nach Patagonien zurückkehren musste.

Illustrationen Axel Pfefferkorn
Vorwort Silvia Metzeltin Buscaini
Sprache deutsch
Maße 140 x 210 mm
Gewicht 485 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Reisen Reiseführer Südamerika
Schlagworte Abenteuer • Argentinien • Bergsteiger • Carretera Austral • Cerro Cochrane • Cerro Torre • Chaitén • Chile • Cochrane • Coyhaique • Eisfeld • El Calafate • el chaltén • Expedition • Feuerland • Fitz Roy • Glaciar Perito Moreno • Hielo Patagonico • Klettern • Laguna San Rafael • Magellanstraße • Monte Sarmiento • Nationalpark Los Glaciares • Patagonien • Pfefferkorn, Axel • Puerto Montt • Punta Arenas • San Lorenzo • San Valentin • Südamerika • Torres del Paine • Trekking
ISBN-10 3-00-042434-2 / 3000424342
ISBN-13 978-3-00-042434-2 / 9783000424342
Zustand Neuware
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