Beinhart (eBook)
272 Seiten
Delius Klasing Verlag
978-3-7688-8306-1 (ISBN)
Alpencowboy in Saas-Fee
»Carstili, bisch öben a Fischgrind.«
(Du bist eben ein Fischkopf)
(Arbeitskollegen über meine Herkunft aus Norddeutschland)
Winter 1993. Zwei Uhr morgens, 3500 Meter Höhe, zwölf Grad unter null, eine sternenklare Nacht. Schnee- und eisbedeckte Berggipfel und weit aufklaffende Gletscherspalten – das Panorama meines Arbeitsplatzes. Ich arbeite als Pistenfahrzeugfahrer in der Schweiz. Saas-Fee heißt das Bergdorf, nur acht Flugminuten mit dem Hubschrauber entfernt von seinem berühmten Nachbarn Zermatt und dessen noch berühmteren Berg, den die Einheimischen S’ Hörnli nennen, dem Matterhorn.
Ich fixiere die von den Scheinwerfern ausgeleuchteten Meter vor dem Pflug. Höchste Konzentration und eine exakte Handhabung des Geräts sind erforderlich, um perfekte Skipisten herzustellen. Meine Augen sind starr geworden, trocken, rot, und sie brennen, denn ich bin seit 18 Stunden im Einsatz. Ein ganz normaler Arbeitstag am Berg in den für diese Region ökonomisch wichtigen Wintermonaten. Die Skitouristen bezahlen eine Menge Franken, um auf 180 Kilometern Pisten Sport zu treiben, und sie verlangen dafür natürlich viel. Meine Aufgaben bestehen vorwiegend darin, Abfahrten zu präparieren, Gletscherspalten mit Schnee zuzuschütten, gefährliche Abschnitte zu sichern, dem Rettungsdienst bei Einsätzen Hilfe zu leisten und das eigene Fahrzeug instand zu halten.
Insbesondere die Stäbe des Kettenfahrzeugs sind wartungsintensiv, denn sie brechen im Einsatz auf eisigen und schneearmen Pisten und müssen ständig ausgewechselt werden.
Pistenfahrzeugfahrer: bei schönen Wetterbedingungen ein absoluter Traumjob vor einer traumhaften Kulisse. Der Blick reicht bis ins Berner Oberland.
So ein Bully, in dem der Fahrer ähnlich wie in einem modernen Bus sitzt, hat je nach Modell zwischen 130 und 330 PS. Vorn am Fahrzeug befindet sich ein Pflug, der unterschiedliche Arbeiten ausführen kann, und am hinteren Teil ist eine Schneefräse montiert, die den Schnee komprimiert. Sie kann dem jeweiligen Zustand des Schnees entsprechend im Anpressdruck und im Winkel verstellt werden. Das Fahren ist einfach und vergleichbar mit dem Autoscooter fahren auf dem Hamburger Dom: Gas geben und er fährt, Gas wegnehmen und der Pistenbully bleibt stehen. Der professionelle Einsatz dieses Gefährts in unterschiedlichem Gelände, auf steilen oder ausgesetzten Hängen, engen Trassen, in Neu- oder in Firnschnee, ist hingegen kompliziert, und es kann Jahre dauern, bis man es unter diesen unterschiedlichsten Bedingungen richtig beherrscht. Der Job ist gefährlich und man riskiert viel, wenn man erstmalig in einen Neuschneehang einfährt und nicht mit Sicherheit weiß, ob er die drei Tonnen Gewicht des Bullys hält. Hält er nicht, dann rutscht der Fahrer wie in einem Riesenschlitten mit rasender Geschwindigkeit den gesamten Hang hinunter, was besonders dann einen Adrenalinkick auslöst, wenn am Ende dieses Hangs ein 100 Meter tiefer Abgrund wartet oder eine 60 Meter tiefe, offene Gletscherspalte. In der Kabine die richtigen Handbewegungen zu machen, ist von essenzieller Bedeutung, immerhin geht es um den Schutz der eigenen Gesundheit.
Diese und viele andere Gefahren des Jobs brachten unserem Team den Namen »Alpencowboys« ein. Wir alle genossen es, nach einem langen Tag am Berg wieder ins Dorf zu kommen. Mit einheitlichen Jacken gekleidet, fielen wir dann ab und zu in eine der zahlreichen Bars ein. Meine Lieblingsbar hieß »Nestis«. Der lang gezogene, enge Raum verwandelte sich so manchen Abend in einen wilden Partyschuppen. Besonders wenn Heißgetränke wie Café Lutz oder Café Pflümli (Kaffee mit Schnaps) flossen, vergaß sich das eine oder andere Skihaserl und begann, auf dem langen Tresen stehend, seine Skiklamotten Stück für Stück auszuziehen. Immer wurde das mutige Mädchen, begleitet von lauter Musik, frenetisch angefeuert. An vorderster Front dabei natürlich die wilden Jungs vom Berg, die Alpencowboys. Ich war der einzige Deutsche in einem Team aus Schweizer Urgesteinen. Mit den Jahren verstand ich die vielen unterschiedlichen Dialekte, die gesprochen wurden, egal, ob es Berner, Walliser, Glarner oder Urner waren, mit denen ich zusammenarbeitete. Es war fast wie das Erlernen einer neuen Fremdsprache, und Worte wie »Chuchichästli« (Küchenschrank) und »Milchmelchterli« (Milchmelkmaschine) fanden erst nach langem Üben Eingang in den Sprachgebrauch des Fischkopfes aus der norddeutschen Tiefebene. Ich fühlte mich willkommen und bekam den Spitznamen »Carstili«.
Einige Jahre lang dachte ich, ich wäre angekommen, hätte meinen Platz gefunden. Es war ein autofreier und damit herrlich ruhiger Ort inmitten 4000 Meter hoher Berge, meine Arbeit war spannend und bestens bezahlt, die Arbeitskollegen gut drauf, ich konnte im Sommer viel Sport in sauberer, klarer Luft treiben und jedes Jahr hatte ich drei Monate Ferien, denn Mengen von Überstunden mussten abgebummelt werden. Doch dann reiste ich im September 1994 für drei Monate nach Südafrika.
Auf meinen vorangegangenen Reisen war ich immer als Rucksacktourist unterwegs gewesen. Diesmal wollte ich etwas Neues probieren und Rad fahren. Fit war ich, denn ich hatte im Sommer zuvor am Swiss Alpine Marathon teilgenommen, der jedes Jahr im Juli in Davos, im Kanton Graubünden, stattfindet. Monatelang hatte ich für diesen 67 Kilometer langen Berglauf, der über den 2739 Meter hohen Sertig-Pass führt, trainiert.
In Durban angekommen, kaufte ich ein Fahrrad und Packtaschen, dann fuhr ich los. Die Radtour durch Südafrika weckte schnell meine Leidenschaft für diese Art des Reisens. Ich war mittlerweile 33 Jahre alt und schon seit längerer Zeit auf der Suche nach dem ultimativen Abenteuer. Nach nur wenigen Wochen des Unterwegsseins reifte, was zunächst nur ein flüchtiger Gedanke gewesen war, zu einer Vision, die mich nicht mehr losließ: Mit dem Fahrrad um die Welt fahren. Jahrelang unterwegs sein, durch alle Kontinente. Raus aus allen Zwängen und einfach weg.
Zurück in der Schweiz, nahm mein Plan konkretere Formen an. Schnell wurde mir klar, dass solch ein großes Projekt viel Geld verschlingen würde. Also verbrachte ich drei weitere Jahre in Saas-Fee und versuchte, so viele Überstunden wie möglich zu machen. Mein Chef versetzte mich auf eine Winden-Maschine. Das ist ein Pistenbully, auf dem eine Trommel mit einem 300 Meter langen Kabel aufgebaut ist. Dieses Stahlseil wird in einen festen Anker eingehängt, was den Fahrzeugführer in die Lage versetzt, auch steilste Skipisten zu präparieren. Mit einer Zugkraft von bis zu drei Tonnen zieht sich die Maschine selbst die Hänge hinauf.
Von jetzt an arbeitete ich meistens allein, oftmals in gefährlichem Gelände, doch mit der Möglichkeit, viele Überstunden abzureißen. Genau das wollte ich. 60 Arbeitsstunden pro Woche wurden die Regel, nicht die Ausnahme. Ich war Carstili, der Mann am Stahlseil, der sich langsam in Dagobert Duck verwandelte. Der wichtigste Tag war der Zahltag am Monatsende. Ich konnte zwar nicht in Franken baden wie Dagobert in seinen Geldbergen, aber die Habenseite meines Bankkontos wuchs und wuchs. Das motivierte mich.
Während der vielen Stunden am Berg plante ich meine ungefähre Route. Ich legte nur fest, in welcher Reihenfolge ich die Kontinente bereisen wollte: Europa, Asien, Australien, Amerika, Afrika und zurück nach Europa. Die Reihenfolge der Länder plante ich nicht, denn ich wollte ja ungezwungen unterwegs sein und mich nicht schon vor der Abfahrt zum Sklaven meiner Pläne machen.
Die Wintermonate vergingen meist rasend schnell, es waren vor allem die Sommermonate, die mich ganz langsam, aber immer mehr ausbrannten. In Saas-Fee findet das Skilaufen zum Teil auf dem gewaltigen Fee-Gletscher statt. Die Pisten führen im oberen Bereich direkt an spektakulären, bei entsprechendem Einfall des Sonnenlichts tiefblauen Gletscherspalten vorbei. Skilaufen ist hier an 365 Tagen im Jahr möglich. Der Aufwand allerdings, der während des Sommers vom Pistendienst betrieben werden muss, um diesen Spaß zu ermöglichen, ist enorm. Durch die Wärme und die dünne Schneedecke, insbesondere nach schneearmen Wintern, reißen überall auf der Piste Spalten auf. Berge von Schnee müssen herangeschoben werden, um sie wieder aufzufüllen. Dazu gesellen sich oft dichter Nebel oder extreme Sonneneinstrahlung.
In den Sommermonaten tummeln sich hier Snowboarder und Ski-Nationalmannschaften, die für die nächste Wintersaison trainieren. Einige erfolgreiche Skiläufer lernte ich zwanglos kennen, vor allem Schweizer wie z. B. Peter Müller, Heidi und Pirmin Zurbriggen, Chantal Bournissen und Vreni Schneider. Weniger angenehm war es manchmal, die Bekanntschaft der Snowboarder zu machen, besonders dann, wenn sie fast zerquetscht in einer 30 Meter tiefen Gletscherspalte hingen. Viele von ihnen kümmerten sich wenig um die Schilder, die vor dem Verlassen der präparierten Piste warnten, nur das Kurvenziehen abseits der Pisten war cool. Für uns war es nicht cool, sondern lebensgefährlich, die Jungs und Mädchen mit ihren überweiten Schlabberhosen und ihren Pudelmützen aus den Spalten zu retten.
An einem wunderschönen Tag im Juli war es dann wieder einmal so weit. Ich fuhr gerade mit meinem Bully zurück zur Bergstation Mittelallalin, um dort die Mittagspause mit knusprigen Rösti und Leberkäs einzuläuten. Unterwegs beobachtete ich einen »Snöber«, der abseits der Piste 19 fuhr. Ich hielt, um ihn zu ermahnen, doch da war es auch schon passiert. Er brach ein und war binnen einer Sekunde einfach weg. Ich machte mit meinem Funkgerät sofort Meldung beim Rettungsdienst. Innerhalb von wenigen Minuten erreichte mich ein Patrouilleur mit einem...
Erscheint lt. Verlag | 21.12.2011 |
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Verlagsort | Bielefeld |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Welt / Arktis / Antarktis |
Schlagworte | Carsten Janz • Erlebnisbericht • Fahrrad • Fahrrad reise • Globetrotter • Reise & Abenteuer • Reise & Abenteuer • Reisebericht • Reise und Abenteuer • Weltumrundung |
ISBN-10 | 3-7688-8306-X / 376888306X |
ISBN-13 | 978-3-7688-8306-1 / 9783768883061 |
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