Verbrechen im Blick
Campus (Verlag)
978-3-593-38932-5 (ISBN)
Rebekka Habermas (1959–2023) war Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Göttingen.
Gerd Schwerhoff ist Seniorprofessor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der TU Dresden.
Inhalt
Vorbemerkung
Rebekka Habermas/Gerd Schwerhoff
I. Perspektiven
Rechts- und Kriminalitätsgeschichte revisited - ein Plädoyer
Rebekka Habermas
Jenseits von Diskursen und Praktiken: Perspektiven kriminalitätshistorischer Forschung
Achim Landwehr
II. Kriminalität und Strafrecht in der Sattelzeit um 1800
Die Entwicklung des Strafrechts in Mitteleuropa 1770-1848: Defensive Modernisierung, Kontinuitäten und Wandel der Rahmenbedingungen
Karl Härter
Die glückliche Verdrängung des mittelalterlichen Strafvollzugs? Zur Geschichte freiheitsentziehender Sanktionen in Sachsen (18. und 19. Jahrhundert)
Falk Bretschneider
Modern times, modern crimes? Kriminalität und Strafpraxis im badischen Raum 1700-1850
Peter Wettmann-Jungblut
Gibt es eine Geschichte der Gewalt? Zur Praxis des Konflikts heute, in der Vormoderne
und im 19. Jahrhundert
Joachim Eibach
III. Soziale Kontrolle zwischen Gericht und Öffentlichkeit
Gerichtsnutzung ohne Herrschaftskonsens: Kriminalität in Görlitz im 15. und 16. Jahrhundert
Lars Behrisch
Der "Berliner ›Jack the Ripper‹"? Zu Polizei, Presse und den Vielen im Berlin des Kaiserreichs
Philipp Müller
Berlin sitzt zu Gericht: Die Berliner Öffentlichkeit und die Berliner Rechtspflege
im Kaiserreich und in der Weimarer Republik
Benjamin Carter Hett
IV. Kriminalitäts-Medien - Zeitungen und Literatur
Kriminalitätsgeschichte - Kriminalgeschichten: Verbrechen und Strafen im Medienverbund
des 16. und 17. Jahrhunderts
Gerd Schwerhoff
Formen des Sensationalismus in frühneuzeitlichen Kriminalberichten
Joy Wiltenburg
Räuber im Oktavformat: Über die printmediale Aufbereitung von Kriminalität
im 18. Jahrhundert
Holger Dainat
Literaturen des Kriminellen
Thomas Weitin
V. Kriminalitäts-Medien - Wissenschaften und Öffentlichkeit
Sichtbar/Unsichtbar: Entstehung und Scheitern von Kriminologie und Kriminalistik
als semiotische Disziplinen
Miloš Vec
Verdächtige darstellen: Polizeiliche Strategien und Selbstregierung
Susanne Regener
Autorinnen und Autoren
Vorbemerkung Rebekka Habermas/Gerd Schwerhoff Die - wenngleich verspätete - Erfolgsgeschichte der historischen Kriminalitätsforschung in Deutschland ist bereits häufiger beschrieben worden. Angeregt von der französischen und angelsächsischen Kriminalitätsgeschichte, die sich bereits seit den 1960er Jahren stärker ausfächerte, zeigte endlich auch die deutschsprachige Geschichtswissenschaft ab den 1980er Jahren ein verstärktes Interesse an kriminalitätsgeschichtlichen Fragestellungen. Gegenüber der klassischen Rechtsgeschichte, aber auch gegenüber älteren Spielarten einer vorwiegend quantifizierenden Sozialgeschichte zeichnete sich diese neue Kriminalitätsgeschichte durch eine dezidiert kulturgeschichtliche Perspektive aus. Im Zuge der Abkehr von der Normzentrierung der traditionellen Rechtsgeschichte wurden die verschiedensten Akteure in der Arena des Rechts in den Mittelpunkt gerückt und mit ihnen die verschiedenen Ausprägungen von horizontaler und vertikaler Sozialkontrolle. Die Quellenbasis für diese Form der Kriminalitätsgeschichte waren Gerichtsakten, die in ihrer vielfältigen Nutzbarkeit (etwa auch als Ego-Dokumente) erst nach und nach breit anerkannt sind. Auch an organisatorischen Parametern lässt sich die Arrondierung eines eigenen Forschungsfeldes "Kriminalitätsgeschichte" ablesen. So trifft sich seit 1990 jährlich der Arbeitskreis für historische Kriminalitätsforschung in Stuttgart, wo unter anderem auch eine Buchreihe mit einem eindeutigen kriminalitätsgeschichtlichen Schwerpunkt aus der Taufe gehoben wurde. Die historische Kriminalitätsforschung versuchte von Anfang an die enge Beschränkung auf das Justizsystem zu überwinden, wie programmatisch etwa die Debatten um "l'infrajudiciaire" zeigen. Sie ist zugleich eng mit historischen Nachbarfeldern vernetzt. Methodisch gibt es zahlreiche Bezüge zum Beispiel zur historischen Anthropologie und zur Geschlechtergeschichte. Ebenso wie die Forschungen zur "guten Policey" diskutiert sie die "großen" Fragen der neueren Geschichtswissenschaft wie die nach dem Werden und der Gestalt der modernen Staatsgewalt, nach der Selbstbehauptung der Untertanen oder nach der Ausgrenzung von Minderheiten und Randgruppen. Man kann die Kriminalitätsgeschichte als ein Laboratorium für weiterführende Fragestellungen ansehen, eine Tatsache, die sich auch in der extensiven Nutzung und Weiterentwicklung fachimmanenter (Sozialdisziplinierung, Zivilisationstheorie) wie interdisziplinärer (Labeling-Approach) Konzepte und Theorien niederschlägt. Einzelne in diesem Zusammenhang entwickelte Konzepte haben inzwischen Karriere gemacht, etwa der Begriff der "Justiznutzung". Gerade weil das Feld der kriminalitätsgeschichtlichen Forschungen so gewachsen ist und mittlerweile zahlreiche Einzelstudien zu unterschiedlichsten Aspekten vorliegen, lassen sich Brüche und Ungleichzeitigkeiten schärfer herauspräparieren. Dabei sticht zunächst eine epochenspezifische Besonderheit hervor: Betrachtet man nämlich die bundesrepublikanische Kriminalitätsgeschichtsschreibung der letzten 20 Jahre, so fällt auf, dass nach frühen Arbeiten zum 19. Jahrhundert - hier ist vor allem an die Studien von Dirk Blasius aus den 1970er Jahren zu erinnern - die Kriminalitätsgeschichte eine Domäne der Frühneuzeitforschung wurde. Erst in jüngster Zeit nimmt die Zahl einschlägiger Arbeiten zum 19. und frühen 20. Jahrhundert sprunghaft zu. Dieses Ungleichgewicht zugunsten der frühneuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte geht einher mit unterschiedlichen Schwerpunkten in Fragestellung, Methoden und auch genutzten Quellen. Während spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Kriminalitätsstudien Delinquenzprofile erstellen, nach der Logik der Kriminellen und nach dem Umgang mit Recht, Rechtsinstitutionen durch die Bevölkerung sowie nach den Vorstellungen von Recht und Unrecht der dörflichen und städtischen Gesellschaften fragen, konzentriert sich die Forschung zum 19. Jahrhundert auf andere Schwerpunkte. Im Zentrum stehen hier die Rekonstruktion kriminologischer Diskurse und Konzepte, sei es der Experten, sei es der Praktiker, und die Bedeutung, die Kriminalität in der Öffentlichkeit (qua Presse und anderen Medien) erlangte. Ausgewertet werden in erster Linie Zeitungen, aber auch Fachbücher der Kriminologie und Psychiatrie. Diese unterschiedlichen Schwerpunkte entsprechen unterschiedlichen Erkenntnisinteressen: Einerseits sind dies eben die Kriminellen selbst, wie sie in frühneuzeitlichen Studien häufig im Mittelpunkt stehen, andererseits ihre Verfolger bzw. die Presse oder Wissenschaft, die sich mit Fragen der Kriminalität beschäftigten und denen eine gewisse Definitionsmacht zugesprochen wird. Diese unterschiedlichen Erkenntnisinteressen gehen einher mit unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen: Im Mittelpunkt der Frühneuzeitforschung stehen ebenso quantitative wie qualitative, häufig mit den Mitteln der Geertzschen dichten Beschreibung operierende Analysen von Gerichtsakten; mit ihrer Hilfe sollen die unterschiedlichen Bedeutungen bestimmter Delikte rekonstruiert, aber auch die soziale und ökonomische Situation der Kriminellen ausgeleuchtet und schließlich das gesellschaftliche - städtische wie dörfliche - Bedingungsgefüge von Kriminalität erforscht werden. Die neueren Arbeiten zum 19. Jahrhundert sind teilweise stark geprägt durch die frühen Arbeiten Michel Foucaults, der sich mit Kriminalität insbesondere unter dem Aspekt der Entstehung einer Disziplinargesellschaft beschäftigte und sich auf die Rekonstruktion jener Diskurse konzentrierte, die er für besonders definitionsmächtig erachtete. Dementsprechend liegt für das 19. Jahrhundert ein Schwerpunkt auf der Erforschung kriminologischer, psychiatrischer, medizinischer Diskurse und der Konstruktion des Kriminellen in der Presse. Auch gibt es für diese Zeit einige wenige Arbeiten, die Kriminalität quantitativ erfassen, qualitative Arbeiten fehlen hingegen fast vollkommen. Durch diese unterschiedlichen Schwerpunkte wird unter der Hand eine Foucaultsche Perspektive, die ja bekanntlich davon ausgeht, dass um 1800 eine Disziplinargesellschaft entsteht, bestätigt. Implizit nämlich zeichnen die frühneuzeitlichen Arbeiten durch eine solche methodische Fokussierung auch eine Vorstellung vom 19. Jahrhundert, genauso wie die Arbeiten des 19. Jahrhunderts eine klare Vorstellung vom 17. und 18. Jahrhundert entwickeln, ohne dies unbedingt explizit zu machen. Damit ist ein Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes markiert. Er will die Kriminalitätsgeschichtsforschung zur Frühen Neuzeit und zur Moderne stärker miteinander in Berührung bringen, um zum einen die impliziten Grundannahmen über die jeweils andere Epoche erstmals überhaupt explizit zu machen und dann zu überprüfen. Gleichzeitig soll es darum gehen, die Dialogfähigkeit zu erweitern, das heißt Optionen zum gegenseitigen Lernen, insbesondere hinsichtlich theoretischer und methodischen Prämissen, zu eröffnen. Bis dato wurden nämlich beide Epochen weitgehend getrennt betrachtet, was nicht nur zur unüberprüften Fortschreibung etwa Foucaultscher Perspektiven führte, sondern auch die Vorstellungen der klassischen Rechtsgeschichte über die Entstehung des modernen Rechtsstaates bisher unhinterfragt ließ. Kurzum, die Verbindung der beiden Epochen erlaubt eine kritische Hinterfragung forschungsleitender Fragen zu Struktur und Entwicklung von Kriminalität einerseits und der Rechtsinstitutionen andererseits. Das heißt auch, dass die bisherigen Deutungen zur Entstehung des modernen Rechtsstaates auf dem Prüfstand stehen sollen. Vormoderne und Moderne sollen jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer Methoden und Fragen, ihrer impliziten Annahmen und expliziten Erkenntnisinteressen zusammen in den Blick genommen werden, gleichzeitig soll der historische Ort, an dem sie sich begegnen - die Sattelzeit -, genauer betrachtet werden. Gerade eine Analyse der Situation um 1800 erlaubt nämlich eine präzise Überprüfung unserer Vorstellungen von frühneuzeitlicher und moderner Rechtsordnung: Was entstand hier Neues, was veränderte sich, was erhielt nur eine neue Gestalt und zeitigte doch altbekannte Folgen, wo genau liegt eigentlich die von der Forschung immer wieder hochgezogene Grenze zwischen altem und neuem Rechtswesen?
Erscheint lt. Verlag | 11.5.2009 |
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Co-Autor | Lars Behrisch, Falk Bretschneider, Holger Dainat, Joachim Eibach, Rebekka Habermas, Karl Härter, Benjamin Carter Hett, Achim Landwehr, Philipp Müller, Susanne Regener, Gerd Schwerhoff, Milos Vec, Thomas Weitin, Peter Wettmann-Jungblut, Joy Wiltenburg |
Zusatzinfo | 32 Abbildungen, 2 Tabellen |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 142 x 214 mm |
Gewicht | 590 g |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Allgemeines / Lexika |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Allgemeine Geschichte | |
Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Militärgeschichte | |
Recht / Steuern ► Rechtsgeschichte | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Anwalt • Frühe Neuzeit • Gericht • Geschichte • Geschichte der Krimininalität • Hardcover, Softcover / Geschichte/Allgemeines, Lexika • Historische Kriminalitätsforschung • Justiz • Kriminalität • Kriminologie • Medien • Neuzeit; Recht • Polizei • Rechtsgeschichte • Rechtsprechung • Verbrecher |
ISBN-10 | 3-593-38932-0 / 3593389320 |
ISBN-13 | 978-3-593-38932-5 / 9783593389325 |
Zustand | Neuware |
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