II. Rechtshandlung
1. Begriff
6 Unter dem weit auszulegenden Begriff der Rechtshandlung ist jedes von einem Willen getragene Verhalten zu verstehen, das eine rechtliche Wirkung auslöst und das Vermögen des Schuldners zum Nachteil der Insolvenzgläubiger verändern kann.
st. Rspr. vgl. zuletzt BGH, Urt. v. 9.7.2009 – IX ZR 86/08, ZIP 2009, 1674 Rn. 21 = WM 2009, 1750 = NZI 2009, 644 = ZInsO 2009, 1585;
BGH, Urt. v. 22.10.2009 – IX ZR 147/06, ZIOP 2010, 90 Rn. 14 = WM 2009, 2394 = ZInsO 2009, 2334;
BGH, Urt. v. 15.12.2011 – IX ZR 118/11, ZIP 2012, 333 Rn. 8 = WM 2012, 276 = ZInsO 2012, 241;
BGH, Urt. v. 4.7.2013 – IX ZR 229/12, BGHZ 198, 77 = ZIP 2013, 1629 = WM 2013, 1615 = NZI 2013, 804 Rn. 15, dazu Plathner/Luttmann, EWiR 2013, 657;
BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, ZIP 2014, 584 = WM 2014, 572 Rn. 9 = NZI 2014, 321, dazu Spliedt, EWiR 2014, 215.
7 Dass die rechtliche Wirkung sofort eintritt, ist nicht erforderlich, so dass es genügt, dass sie in dem nach § 140 InsO maßgeblichen Zeitpunkt vorliegt.
BGH, Urt. v. 22.10.2015 – IX ZR 248/14, ZIP 2015, 2328 Rn. 10 = WM 2015, 2251, dazu Mohr, EWiR 2016, 53.
8 Eine Rechtshandlung setzt nur ein verantwortungsgesteuertes, selbstbestimmtes, willensgeleitetes Handeln voraus.
BGH, Urt. v. 10.2.2005 – IX ZR 211/02, BGHZ 162, 143 = ZIP 2005, 494 = ZVI 2005, 204 = WM 2005, 564 = NJW 2005, 1121 = NZI 2005, 215 = ZInsO 2005, 260, dazu Eckardt, EWiR 2005, 607.
9 Anfechtbar ist also auch jedes Geschäft, das – wie zum Beispiel eine Zession – zum Erwerb einer Gläubiger- oder Schuldnerstellung führt.
BGH, Urt. v. 9.7.2009 – IX ZR 86/08, ZIP 2009, 1674 Rn. 22 = WM 2009, 1750 = NZI 2009, 644 = ZInsO 2009, 1585;
BGH, Urt. v. 11.12.2008 – IX ZR 195/07, BGHZ 179, 137 = ZIP 2009, 186 Rn. 12 = WM 2009, 178 = NJW 2009, 363 = NZI 2009, 103 = ZInsO 2009, 185, dazu Runkel/J.M. Schmidt, EWiR 2009, 419;
BGH, Urt. v. 24.6.2010 – IX ZR 97/09, NZI 2010, 903 Rn. 9.
a) Beispiele
10 Zu den Rechtshandlungen zählen neben Willenserklärungen wie z. B. Kündigungen
BGH, Urt. v. 12.1.2017 – IX ZR 130/16, ZIP 2017, 489 Rn. 9 = WM 2017, 439 = NZI 2017, 352, dazu Loszynski, EWiR 2017, 275
und rechtsgeschäftsähnlichen Handlungen
BGH, Urt. v. 15.10.1975 – VIII ZR 62/74, WM 1975, 1182
einschließlich der Genehmigung von Lastschriftbuchungen im Einzugsermächtigungsverfahren
BGH, Urt. v. 30.9.2010 – IX ZR 177/07, WM 2010, 2319 = NZI 2010, 981 Rn. 10;
BGH, Urt. v. 21.10.2010 – IX ZR 240/09, NZI 2011, 17 Rn. 7 = ZInsO 2010, 2293;
vgl. ferner die zu Rn.
61 Genannten
auch Realakte wie Verwendungen auf eine fremde Sache oder einen Miteigentumsanteil
BGH, Urt. v. 20.2.1980 – VIII ZR 48/79, ZIP 1980, 250 = NJW 1980, 1580 = WM 1980, 409,
das zu Steueransprüchen führende Erbringen von Lieferungen und Leistungen
BGH, Urt. v. 22.10.2009 – IX ZR 147/06, ZIP 2010, 90 Rn. 14 = WM 2009, 2394 = ZInsO 2009, 2334
oder das Brauen von Bier, das die Biersteuer und die Sachhaftung des Bieres entstehen lässt
BGH, Urt. v. 9.7.2009 – IX ZR 86/08, ZIP 2009, 1674 Rn. 21 ff = WM 2009, 1750 = NZI 2009, 644 = ZInsO 2009, 1585,
das zu einem Vermieterpfandrecht führende Einbringen von Sachen in die gemieteten Räume
BGH, Urt. v. 14.12.2006 – IX ZR 201/03, BGHZ 170, 196 Rn. 10 = ZIP 2007, 191 = ZVI 2007, 72 = WM 2007, 370 =
ZInsO 2007, 91, dazu Gundlach/Frenzel, EWiR 2007, 185
sowie Maßnahmen der Zwangsvollstreckung (vgl. § 141 InsO).
BGH, Urt. v. 21.3.2000 – IX ZR 138/99, ZIP 2000, 898 = NZI 2000, 310 = WM 2000, 1071 = ZInsO 2000, 333, dazu M. Huber, EWiR 2000, 687.
11 Zu den Rechtshandlungen gehören nach § 129 Abs. 2 InsO auch Unterlassungen; dies aber nur, wenn das Unterlassen bewusst und willentlich geschieht.
BGH, Urt. v. 24.10.1996 – IX ZR 284/95, ZIP 1996, 2080 = WM 1996, 2250, dazu Gerhardt, EWiR 1997, 33;
BGH, Urt. v. 3.2.2011 – IX ZR 213/09, ZIP 2011, 531 Rn. 8 ff = WM 2011, 501 = NZI 2011, 249 = ZInsO 2011, 574, dazu M. Huber, EWiR 2011, 289;
BGH, Urt. v. 15.3.2012 – IX ZA 107/11, ZIP 2012, 833 Rn. 8 = WM 2012, 716 = NZI 2012, 415;
BGH, Urt. v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, ZIP 2014, 275 Rn. 12 = WM 2014, 272 = NZI 2014, 218, dazu Cranshaw, EWiR 2014, 251.
12 Nötig ist das Bewusstsein, dass das Nichthandeln irgendwelche Rechtsfolgen haben wird. Auf eine konkrete Rechtsfolge brauchen sich die Vorstellungen des Schuldners nicht zu richten; sie müssen auch nicht rechtlich zutreffend sein. Anfechtbar ist es deshalb, wenn aus einer Situation, die naheliegenderweise materiell-rechtliche Ansprüche auslöst, bewusst keine Konsequenzen gezogen werden.
BGH, Urt. v. 22.12.2005 – IX ZR 190/02, BGHZ 165, 343 = ZIP 2006, 243 = NJW 2006, 908 = NZI 2006, 155 = WM 2006, 242 = ZInsO 2006, 151;
BGH, Urt. v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, ZIP 2014, 275 Rn. 12 = WM 2014, 272 = NZI 2014, 218.
13 Allerdings fehlt es an einer Rechtshandlung des Schuldners, wenn sein Vermögensverlust auf einem hoheitlichen Rechtsakt beruht. Deshalb kann eine Anfechtung nach §§ 133, 134 InsO grundsätzlich nicht darauf gestützt werden, dass der Gläubiger Befriedigung im Wege der
Zwangsvollstreckung erworben hat (vgl. näher unten Rn.
641).
BGH, Urt. v. 29.6.2004 – IX ZR 258/02, BGHZ 159, 397 = ZIP 2004, 1619 = NJW 2004, 2900 = WM 2004, 1689, dazu Stickelbrock, EWiR 2005, 53.
14 Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Schuldner die Zwangsvollstreckung ermöglicht hat, etwa indem er in Erwartung des Vollstreckungsbeamten Geld in die Kasse legt, Geld auf ein gepfändetes Konto einzahlt oder sonst wie pfändbares Vermögen anbietet.
BGH, Urt. v. 3.2.2011 – IX ZR 213/09, ZIP 2011, 531 Rn. 11 ff = WM 2011, 501 = NZI 2011, 249 = ZInsO 2011, 574, dazu M. Huber, EWiR 2011, 289;
BGH, Urt. v. 19.9.2013 – IX ZR 4/13, ZIP 2013, 2113 Rn. 9 f = DB 2013, 2496 = WM 2013, 2074, dazu Lau, EWiR 2014, 153;
BGH, Urt. v. 21.11.2013 – IX ZR 128/13, ZIP 2014, 35 Rn. 10 = WM 2014, 44 = ZInsO 2014, 31. dazu Fehst, EWiR 2014, 119.
15 Auf einem Unterlassen im anfechtungsrechtlichen Sinne und damit auf einer Rechtshandlung des Schuldners beruht der Erwerb im Wege der Zwangsvollstreckung nur dann, wenn der Gläubiger bei Vornahme der dem Schuldner möglichen und von ihm bewusst vermiedenen Rechtshandlung den zwangsweise erworbenen Vermögensgegenstand nicht erlangt hätte oder ihn vor Insolvenzeröffnung hätte zurückgewähren müssen. So verhält es sich beispielsweise, wenn dem Vollstreckungsbeamten der erforderliche richterliche Durchsuchungsbeschluss fehlt und der Schuldner es bewusst unterlässt, wegen dieses Umstands den Zutritt zur Wohnung zu verweigern oder (nicht von vornherein aussichtslose) Rechtsbehelfe einzulegen.
BGH, Urt. v. 3.2.2011 – IX ZR 213/09, ZIP 2011, 531 Rn. 7 ff = ZVI 2011, 220 = WM 2011, 501 = NZI 2011, 249 = ZInsO 2011, 574;
BGH, Urt. v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, ZIP 2014, 275 Rn. 15 = WM 2014, 272 = NZI 2014, 218.
16 Ohne diese ursächliche Verbindung zwischen der Unterlassung und der Gläubigerbenachteiligung fehlt es an einer Rechtshandlung des Schuldners. Deshalb stellt ein Unterlassen des Insolvenzantrags in der Absicht, den Beklagten zum Nachteil der übrigen Gläubiger zu begünstigen, keine Rechtshandlung des Schuldners dar, auf die eine Insolvenzanfechtung nach § 133 InsO gestützt werden könnte.
BGH, Urt. v. 10.2.2005 – IX ZR 211/02, BGHZ 162, 143 = ZIP 2005, 494 = ZVI 2005, 204 = NJW 2005, 1121 = NZI 2005, 215 = WM 2005, 564 = ZInsO 2005, 260, dazu Eckardt, EWiR 2005, 607.
17 Bei mehreren Rechtshandlungen ist grundsätzlich jede Handlung selbstständig auf ihre Anfechtbarkeit zu prüfen, auch wenn sie gleichzeitig vorgenommen wurden oder sich wirtschaftlich ergänzen.
BGH, Urt. v. 7.2.2002 – IX ZR 115/99, ZIP 2002, 489 = WM 2002, 561 = NJW 2002, 1574 = NZI 2002, 255 = ZInsO 2002, 276;
BGH, Urt. v. 2.6.2005 – IX ZR 263/03, ZIP 2005, 1521 = WM 2005, 1712 = ZInsO 2005, 884, dazu Beutler/Weißenfels, EWiR 2006, 21;
BGH, Urt. v. 20.7.2006 – IX ZR 226/03, ZIP 2006, 1639 = WM 2006, 1731 = NZI 2006, 583 = ZInsO 2006, 937;
BGH, Urt. v. 16.11.2007 – IX ZR 194/04, BGHZ 174, 228 = ZIP 2008, 125 Rn. 18 = WM 2008, 173 = NJW 2008, 655 = NZI 2008, 163 = ZInsO 2008, 106, dazu Ch. Keller, EWiR 2008, 211;
BGH, Beschl. v. 21.12.2010 – IX ZA 14/10, WM 2011, 276 Rn. 2;
BGH, Urt. v. 26.1.2012 – IX ZR 99/11, ZIP 2012, 636 Rn. 12 = WM 2012, 517 = NZI 2012, 661, dazu M. Huber, EWiR 2012, 229;
BGH, Urt. v. 22.10.2015 – IX ZR 248/14, ZIP 2015, 2328 Rn. 18, dazu Mohr, EWiR...