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Strukturwandel des öffentlichen Rechts (eBook)

Entstehung und Demokratisierung der europäischen Gesellschaft
eBook Download: EPUB
2022 | 1., Originalausgabe
525 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77014-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Strukturwandel des öffentlichen Rechts - Armin von Bogdandy
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Viele Beobachter kritisieren die Entwicklung, die das öffentliche Recht in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs genommen hat, als eine entfremdende Verrechtlichung. In seinem neuen Buch plädiert Armin von Bogdandy für eine andere Lesart dieses Prozesses, nämlich als Strukturwandel zu einer europäischen demokratischen Gesellschaft. Dieses Narrativ erlaubt eine Neubewertung wichtiger Ereignisse, Urteile, Begriffe sowie aktueller Herausforderungen. Bogdandy zeigt überdies, wie der aus dem Globalen Süden stammende Ansatz des transformativen Konstitutionalismus einen Weg bietet, sowohl autoritären als auch hegemonialen Tendenzen in der europäischen Gesellschaft zu begegnen und ihre demokratische Verfasstheit zu stärken.



<p>Armin von Bogdandy ist Direktor am Max-Planck-Institut f&uuml;r ausl&auml;ndisches &ouml;ffentliches Recht und V&ouml;lkerrecht.</p>

13Aufriss


§1 Idee und Programm


Auch nach siebzig Jahren EU-zentrierter Europäisierung fragen sich viele Europäerinnen und Europäer, wie sie diesen Prozess begreifen sollen. Die beschwichtigende Antwort, die Union sei nun mal sui generis, zieht nicht mehr: Infragestellungen wie der Brexit, Enttäuschungen wie bei der Bekämpfung von COVID-19, Konflikte wie diejenigen zu innereuropäischen Finanztransfers, außereuropäischer Zuwanderung oder dubiosen mitgliedstaatlichen Justizreformen verlangen substantiellere Antworten. Zur Beantwortung dieser Frage rekonstruiere ich eine Frucht dieses Prozesses: das europäische öffentliche Recht.[1] 

Da die Europäisierung ein Prozess ist, erschließe ich das europäische öffentliche Recht in seinem Wandel. Ausgangspunkt ist das staatszentrierte Recht der europäischen Mächte: Mablys droit public de l’Europe, Carl Schmitts Jus Publicum Europaeum (§§5-7). Wie ist das heutige europäische Recht zu verstehen? Ich bin ein deutscher Jurist und starte deshalb, vielleicht hypertextualistisch, mit dem positiven Recht. Laut Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) bilden die Europäerinnen und Europäer der siebenundzwanzig Mitgliedstaaten inzwischen eine Gesellschaft. Danach hat der Prozess zwar keinen europäischen Staat und kein europäisches Volk, wohl aber eine europäische Gesellschaft hervorgebracht. Das europäische Recht ist das Recht der europäischen Gesellschaft. Diesem selbstverständlich, vielleicht gar trivial erscheinenden Gedanken ist dieses Buch gewidmet.

Die europäische Gesellschaft und das europäische Recht, insbesondere das europäische öffentliche Recht, sind engst verwoben. Der Vertragsgesetzgeber, also die siebenundzwanzig mitgliedstaatlichen politischen Systeme in Zusammenarbeit mit den Unionsinstitutionen, charakterisiert diese Gesellschaft über öffentlich-rechtliche Standards. Nach Art. 2 EUV ist die europäische Gesellschaft 14eine, »die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet« unter den Werten »der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören« (Art. 2 EUV).

In hegelianischer Tradition kann man dieses vermeintliche (§29) Potpourri von Grundbegriffen als Manifest, Identität und Verfassungskern einer sittlichen oder freiheitlichen oder, so dieses Buch, einer demokratischen Gesellschaft deuten.[2]  Das ist keine Spekulation im akademischen Elfenbeinturm: Die Denkschrift der Bundesregierung sagt klipp und klar, dass die Werte des Art. 2 EUV »das Wesen einer demokratischen Gesellschaft ausmachen«.[3]  Die Antwort auf die Frage der Europäerinnen und Europäer, wie sie den Prozess der Europäisierung begreifen sollen, lautet somit, dass er sie in eine europäische demokratische Gesellschaft geführt hat. Die folgende, diese Antwort ausbuchstabierende Rekonstruktion des europäischen öffentlichen Rechts als Recht der europäischen demokratischen Gesellschaft nimmt den Stier bei den Hörnern: Demokratie bildet den Schlüsselbegriff im Ringen um die europäische Grundstruktur.

Mancher wird zweifeln, ob Art. 2 EUV als identitätsstiftender Verfassungskern taugt. Er wirkt kompromisshaft. In der Tat muss er zwischen vielen Identitäten, Ideen, Interessen, Traditionen und Weltanschauungen vermitteln. In hegelianischer Tradition erscheint das allerdings nicht als Manko: »Der Weg des Geistes ist die Vermittlung, der Umweg.«[4]  Entsprechend ist auch eine recht verstandene Verfassung ein System der Vermittlung,[5]  und Art. 2 EUV legt die Maßstäbe nieder, unter denen die europäische Gesellschaft 15ihre Kompromisse sucht. Wirkliche Demokratien leben von ihren vielen Vermittlungen,[6]  hybride oder autoritäre Regime hingegen vom Versprechen der Unmittelbarkeit.[7] 

Die in Art. 2 EUV zum Ausdruck kommende Kompromisshaftigkeit ist das demokratische Herz der europäischen Gesellschaft. Hegelianisch formuliert: Das Brüsseler Geschacher ist vernünftig, wenn es Vermittlungen generiert, die den Maßstäben des Art. 2 EUV genügen. Auch diese Vermittlungen werden regelmäßig kompromisshaft sein und jeder Position in je anderer Hinsicht als unzulänglich erscheinen. Die entsprechende selbstkritische Grundeinstellung der europäischen Gesellschaft ist ein demokratisches Faustpfand.

Dieses Buch entfaltet das heutige europäische öffentliche Recht als Struktur der europäischen demokratischen Gesellschaft. Der Leser sei gewarnt. Folgt man dem Staatsrechtslehrer Christoph Schönberger, so ist dieses Programm nicht Rechtswissenschaft, sondern »verfassungsrechtliche Science-Fiction«, welche »die blaue Blume der Demokratie […] jenseits aller institutionellen Erdenreste« sucht.[8]  Schönberger begreift das neue europäische öffentliche Recht denn auch in der Logik des alten Jus Publicum Europaeum: »[D]ie Brüsseler Verhandlungsmaschine [ist] die heutige Form jenes alteuropäischen diplomatischen Konzerts.« Noch ärger sieht es der Politikwissenschaftler Philip Manow: »Wer Europa sagt, will betrügen.«[9] 

Der Wandel des europäischen öffentlichen Rechts zur Struktur einer europäischen demokratischen Gesellschaft ist offensichtlich und vielleicht sogar konstitutiv unvollendet. Assoziationen der Brüsseler Institutionen mit einem entfremdenden Betrieb, exekutivem Gezänk oder einem bürokratischen Monster liegen nahe und werden oft erfolgreich bemüht.[10]  Es greift daher zu kurz, alle 16Brexiteers als dumm oder böse abzuqualifizieren. Der Wandel ist weiter unvollendet, weil in einigen Mitgliedstaaten die demokratische Verfasstheit wankt. Grundbegrifflich ist festzuhalten, dass Kompromisse auch kompromittieren können.[11]  Dieses Buch will demokratische Strukturen im europäischen öffentlichen Recht rekonstruieren, aber nicht den Status quo legitimieren, sondern sie im Lichte eines transformativen Konstitutionalismus weiterdenken.

Ich schreibe nicht in hegelianischem Fortschrittsvertrauen: Der weitere Strukturwandel des europäischen öffentlichen Rechts kann in viele Richtungen gehen, ebenso wie die Interpretation der Maßstäbe des Art. 2 EUV. Ein transformativer Konstitutionalismus für eine europäische demokratische Gesellschaft ist eine Option unter vielen. Die Optionen eines europäischen Konzerts der mächtigen Staaten, deutscher Hegemonie, exekutiven Föderalismus, nationalen Rückzugs und nicht zuletzt der Ideen, die Viktor Orbán personifiziert, kursieren in der europäischen Gesellschaft.[12]  Es gibt eine europäische demokratische Gesellschaft, aber sie wirkt nicht konsolidiert und ist vielleicht sogar prekär.

§2 Die europäische Gesellschaft


Dieses Buch rekonstruiert das europäische öffentliche Recht als das Recht der europäischen Gesellschaft. Das ist keine rechtswissenschaftliche Science-Fiction, sondern eine naheliegende Interpretation des Worts Gesellschaft in Art. 2 EUV.[13] 

17Es gibt viele europäische Gesellschaften: fast 3000 europäische Aktiengesellschaften in der Rechtsform der Societas Europaea und Tausende von zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen, die von der European Society of International Law über die Europäische Gesellschaft für Kardiologie bis zur Europäischen Gesellschaft für Spirituelle Rückführungen reichen. Das Wort in Art. 2 EUV umfasst all das, meint aber offensichtlich mehr. Art. 2 EUV spricht als...

Erscheint lt. Verlag 17.1.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Recht / Steuern EU / Internationales Recht
Schlagworte EU Europäische Union • Europarecht • Jura • Justiz • Legislative • Leibniz-Preis 2014 • neues Buch • STW 2356 • STW2356 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2356
ISBN-10 3-518-77014-4 / 3518770144
ISBN-13 978-3-518-77014-6 / 9783518770146
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