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Der Tod an der Grenze -  Helmut Schweckendieck

Der Tod an der Grenze (eBook)

Über Opfer, Täter und ihre Richter - Eine Bilanz
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
124 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7526-0307-1 (ISBN)
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Ausführlich, fesselnd, gut verständlich und mit viel Insider-Wissen widmet sich der Autor den Strafverfahren wegen der Toten an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. Das Verfahren gegen Erich Honecker wird anschaulich geschildert, ebenso der Strafprozess gegen Egon Krenz und Günter Schabowski. Sodann wendet sich der Autor den "Mauerschützenverfahren" zu, vornehmlich den unter seinem Vorsitz geführten. Der vielen Todesopfer wird angemessen gedacht, der Autor würdigt die Persönlichkeiten der Angeklagten, die Eigentümlichkeiten des einen oder anderen beteiligten Richters und Rechtsanwaltes werden in amüsanter Form erwähnt. Die Tötung eines Grenzsoldaten durch einen westlichen Fluchthelfer im Jahre 1962 und der 37 Jahre später stattfindende Prozess finden ebenfalls Erwähnung. Abschließend geht der Autor der Frage nach der Rechtsstaatlichkeit der geschilderten Verfahren nach und setzt sich insbesondere kritisch mit den Ergebnissen der von ihm geleiteten "Mauerschützenverfahren" auseinander.

Helmut Schweckendieck, geboren 1952, aufgewachsen in Berlin (West), Studium der Rechtswissenschaften in Marburg und Berlin, nach dem zweiten Staatsexamen seit 1979 Richter am Kriminalgericht Moabit, von 1991 bis zur Pensionierung 2017 Vorsitzender Richter einer Großen Strafkammer am Landgericht Berlin, Verfasser einer Vielzahl von Fachaufsätzen zum Strafrecht

II.


Das Strafverfahren gegen Erich Honecker


Das erste nach der Vereinigung der beiden Deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 wegen der Toten an der Grenze durchgeführte Großverfahren vor dem Kriminalgericht Moabit in Berlin richtete sich gegen sechs Mitglieder des „Nationalen Verteidigungsrates“ der DDR, unter ihnen Erich Honecker.

Der 1960 gegründete „Nationale Verteidigungsrat“ war das höchste militärische Gremium in der DDR. In dem Zeitraum von 1971 bis Herbst 1989 war Erich Honecker dessen Vorsitzender. Außerdem gehörten im fraglichen Zeitraum diesem Gremium neben weiteren Personen der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, der Minister für Nationale Verteidigung Heinz Kessler, der Vorsitzende des Ministerrates der DDR Willi Stoph, der frühere Stabschef der Nationalen Volksarmee Fritz Streletz, und der ehemalige 1. Sekretär der Bezirksleitung Suhl der SED Hans Albrecht an.

Am 12. November 1992 begann das Strafverfahren gegen die genannten sechs Personen vor der 27. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin. Mit der Anklage hatte die Staatsanwaltschaft den Angeklagten ursprünglich vorgeworfen, in insgesamt 68 Fällen für den Tod bzw. die Verletzung von Flüchtlingen strafrechtlich verantwortlich zu sein. Zur besseren Handhabung beschränkte die Kammer das Verfahren, teilweise bereits vor deren Beginn, teilweise auch im Laufe der mehrmonatigen Verhandlung, auf sieben Fälle, in denen es zum Tode der jeweiligen Flüchtlinge gekommen war.

Nicht alle bei Beginn des Verfahrens vor der Strafkammer 27 beteiligten Akteure waren auch noch bei der Urteilsfällung am 16. September 1993 zugegen.

Der wichtigste und prominenteste der sechs Angeklagten war zweifellos Erich Honecker.

Geboren am 25. August 1912 in Neunkirchen im Saarland, war er bereits ab 1928 in diversen kommunistischen Gruppierungen und Vereinigungen aktiv und agitierte ab 1933 auch gegen das nationalsozialistische System. Das führte dazu, dass er im Juni 1937 vom Volksgerichtshof wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ zu einer Zuchthausstrafe von 10 Jahren verurteilt wurde. Bereits ab Dezember 1935 saß er wegen dieser Vorwürfe ein. Während eines Bombenangriffs im März 1945 gelang Honecker unter nicht gänzlich geklärten Umständen, die ihm seitens der Genossen auch Kritik einbrachten, die Flucht. Später machte er in der jungen DDR schnell Karriere, war – wie schon dargelegt – zur Zeit des Mauerbaus innerhalb der SED für Sicherheitsfragen zuständig, war ab 1971 Nachfolger von Walter Ulbricht als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und ab 1976 auch Staatsratvorsitzender. Zwar nahmen in den 80-er Jahren die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR zu, gleichwohl befand sich Erich Honecker zu dieser Zeit auf dem Gipfel seiner Macht. Er war ein angesehener Staatsmann und wurde allseits respektiert. Gerhard Schröder, ein Spezialist für die politisch-moralische Einstufung von Staatsmännern („Putin ist ein lupenreiner Demokrat“), nannte Honecker laut einem Artikel im „Vorwärts“ vom 21. Dezember 1985 einen „zutiefst redlichen Mann“. Im September 1987 war der höchste Repräsentant der DDR auf Staatsbesuch in Bonn, wurde mit den dazugehörigen auch militärischen Ehren von Bundeskanzler Helmut Kohl empfangen, traf sich mit dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, Wirtschaftsbosse gaben sich auf dem Weg zu Honecker die Klinke in die Hand. Alle hatten Kenntnis von den vielen Toten an der Mauer, aber das war damals offensichtlich kein Thema. Ich meine mich vage zu erinnern, dass die insofern von einem Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland gegen Honecker erstattete Anzeige mit irgendwelchen juristischen Tricks in einer Weise bearbeitet worden ist, dass sie jedenfalls kein Hindernis für den Besuch in Bonn darstellte. Von der Wiedervereinigung, obwohl in der Präambel des Grundgesetzes festgeschrieben, war bei den Gesprächen im September 1987 offensichtlich auch keine Rede. Die Existenz zweier Deutscher Staaten war die von kaum jemandem in Zweifel gezogene Realität. Noch ein Jahr später soll sich Willy Brandt laut der Frankfurter Rundschau vom 15. September 1988 so geäußert haben: “Die Wiedervereinigung ist die Lebenslüge der zweiten Deutschen Republik“. Und wenige Wochen später, am 27. November 1988, soll Egon Bahr bei einer Rede in München recht drastisch formuliert haben:“ Wiedervereinigung ist objektiv und subjektiv Lüge, Heuchelei und politische Umweltverschmutzung.“ Da haben sich diese beiden renommierten Politiker geirrt!

Dass sich das Blatt schnell wenden kann, hätte auch Erich Honecker nicht gedacht. Kaum zwei Jahre nach seinem Besuch in Bonn war die friedliche Revolution in der DDR schon in vollem Gange. Am 18. Oktober 1989 wurde Honecker von seinen Genossen zum Rücktritt gedrängt und – wenn auch nur für kurze Zeit – von Egon Krenz beerbt. Anfang Januar 1990 mussten er und seine Frau Margot die DDR-Prominenten-Siedlung Wandlitz verlassen; sie erhielten „Asyl“ bei einem Pfarrerehepaar in Lobetal bei Bernau im Land Brandenburg. Wegen seiner Krebserkrankung kam Honecker drei Monate später in ein sowjetisches Militärkrankenhaus in der Nähe von Beelitz, wo er sich fast ein Jahr aufhielt. Am 13. März 1991 setzte er sich von dort nach Moskau ab. Zu wohl nicht nur meiner großen Überraschung wurde Erich Honecker aufgrund eines vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin bereits am 30. November 1990 erlassenen Haftbefehls am 29. Februar 1992 von den sowjetischen Behörden ausgeliefert – auf den „Großen Bruder“ war auch kein Verlass mehr! – und als Untersuchungshäftling in die Justizvollzugsanstalt Moabit eingeliefert. Nun saß er schon zum zweiten Mal in einem deutschen Gefängnis ein.

In den ersten Tagen des Prozesses vor dem Landgericht Berlin, der als einer der wichtigsten in der deutschen Nachkriegsgeschichte angesehen werden kann und ein ungeheures Medieninteresse hervorruft, kommt es hauptsächlich zu Kontroversen zwischen den Verteidigern von Erich Honecker (zwei von den insgesamt drei Verteidigern sind mir aus diversen Moabiter Verfahren gut bekannt) und dem Gericht, insbesondere dem Vorsitzenden, um die Frage der Haft- und Verhandlungsfähigkeit des 79-jährigen und schwer an Krebs erkrankten Angeklagten. In diese Diskussionen schaltet sich auch häufig und intensiv einer der Nebenklägervertreter (dieser vertritt in Strafverfahren die Opferseite) ein, eine schillernde Erscheinung aus der Zunft der Rechtsanwälte, der mit seinen obskuren und mitunter von wenig Rechtskenntnissen getrübten Anträgen Generationen von Berliner Richtern zur Weißglut gebracht hat. So bezweifelt er die Identität des Angeklagten Honecker und argwöhnt, dass ein Doppelgänger für ihn auf der Anklagebank Platz genommen hat; auch glaubt er nicht an eine Krebserkrankung des Angeklagten, sondern vermutet einen Befall durch einen Fuchsbandwurm. An einem der ersten Verhandlungstage bin ich als Zuhörer im Gerichtssaal anwesend; dieses doch einmalige Verfahren möchte ich jedenfalls an einem Tag live erleben. So werde ich Zeuge einer der Ernsthaftigkeit des Verfahrens nicht angemessenen Auseinandersetzung zwischen dem Vorsitzenden und besagtem Nebenklägervertreter. Den neben der Sache liegenden Ausführungen des Nebenklägervertreters begegnet der Vorsitzende nicht immer mit der gebotenen Souveränität und Sachlichkeit.

Immerhin kommt es dann doch bereits am 5. Verhandlungstag, dem 30. November 1992, zur Verlesung der Anklageschrift. Am 6. Verhandlungstag, dem 3. Dezember 1992, äußert sich Erich Honecker zu den Anklagevorwürfen, ein früher Höhepunkt dieses Verfahrens. Er verliest mit der ihm eigenen monotonen Singsang-Stimme eine 26-seitige Erklärung, von der unklar ist, ob er oder seine Verteidiger oder beide Seiten im Zusammenwirken sie verfasst haben. Er nennt das Verfahren einen politischen Schauprozess und spricht dem Gericht der „Frontstadt Westberlin“ das Recht ab, über ihn und seine Genossen zu urteilen. Interessant sind die folgenden Passagen: „Man nennt die heute Verbrecher, die man gestern ehrenvoll als Staatsgäste … begrüßt hat“ und an anderer Stelle „Entweder haben die Herren Politiker der BRD bewusst, freiwillig und sogar begierig Umgang mit einem Totschläger gesucht oder sie lassen jetzt bewusst und genussvoll zu, dass Unschuldige des Totschlags bezichtigt werden.“ Ja, was soll man darauf antworten? Politik und Recht sind wohl „zwei Paar Schuhe“.

Auch an den Folgetagen wird kaum zur Sache verhandelt, es geht in erster Linie weiterhin um die Verhandlungs- und Haftfähigkeit von Erich Honecker. Nach Anhörung medizinischer Sachverständiger entscheidet das Gericht am 21. Dezember 1992, dem elften Verhandlungstag, der Angeklagte Honecker sei weiterhin verhandlungsfähig. Das Kammergericht bestätigt diese Entscheidung. Daraufhin rufen die Verteidiger den erst Ende 1990 gegründeten Berliner Verfassungsgerichtshof an, der seine Arbeit im Mai 1992 aufgenommen hatte. Die Verfassungsrichter entscheiden am 12. Januar 1993, dass die Fortsetzung des Verfahrens...

Erscheint lt. Verlag 8.1.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Recht / Steuern Allgemeines / Lexika
ISBN-10 3-7526-0307-0 / 3752603070
ISBN-13 978-3-7526-0307-1 / 9783752603071
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