Vom Rhein bis zu den Karpaten (eBook)
688 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01187-8 (ISBN)
Martyn Rady, geboren 1955, lehrte als Professor für Mitteleuropäische Geschichte am University College London, wo er den Masaryk-Lehrstuhl innehatte. Darüber hinaus trat er als Übersetzer und Herausgeber mittelalterlicher Texte hervor. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein viel gelobtes Buch «Die Habsburger. Aufstieg und Fall einer Weltmacht», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «Ein Buch, das seinen Stoff wirkungsvoll verdichtet, Thesen und Zuspitzungen nicht scheut und vor allem eines ist: eine fesselnde Lektüre.»
Martyn Rady, geboren 1955, lehrte als Professor für Mitteleuropäische Geschichte am University College London, wo er den Masaryk-Lehrstuhl innehatte. Darüber hinaus trat er als Übersetzer und Herausgeber mittelalterlicher Texte hervor. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein viel gelobtes Buch «Die Habsburger. Aufstieg und Fall einer Weltmacht», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «Ein Buch, das seinen Stoff wirkungsvoll verdichtet, Thesen und Zuspitzungen nicht scheut und vor allem eines ist: eine fesselnde Lektüre.»
Einleitung Mitteleuropa, die Hundsköpfigen und die Eichenwälder von Berehowe
Im Mittelalter platzierten Schreiber, wenn sie ihre Manuskripte illustrierten, an den Seitenrändern oft kleine Skizzen – als unterhaltsame Rätsel für die Leser oder um die eigene Langeweile ein wenig zu lindern. Sie zeichneten Rankenwerk, Blumen, Tiere und Menschen, oft aber auch Fabelwesen. Das konnten Einhörner oder Nixen sein, Monster oder feuerspeiende Drachen, bemooste Wildleute (anthropomorphe Urwesen) oder kopflose Kreaturen mit Gesichtern auf der Brust. Besonders beliebt waren Hundsköpfige (Kynokephale): Menschenkörper mit Hundeköpfen. Diese besaßen der damaligen Vorstellung nach ein Sozialleben wie Menschen, konnten aber nur bellen – weshalb sie oft gestikulierend dargestellt wurden.
Das Motiv der Hundsköpfigen stammte aus der klassischen Literatur, sie galten jedoch als reale Kreaturen, die am Rande der Zivilisation lebten. Frühchristliche Gelehrte diskutierten darüber, ob bei diesen Gestalten das Menschliche oder das Hündische überwog. Waren sie überwiegend menschlich, folgte daraus nämlich, dass sie eine Seele besaßen – und dass man sie zum Christentum bekehren müsse. Doch die Hundemenschen entzogen sich den Missionaren ebenso wie den Kriegern der christlichen Herrscher. Sie blieben ungreifbar. Gleichwohl wurden immer wieder Geschichten laut, was Hundsköpfige jenseits des Horizonts angeblich alles so trieben: Priester ermorden, Gefangene verzehren, sich mit Amazonen vergnügen … Kein zotteliger Hundemensch wurde je gefangen, aber für alle, die nicht daran glaubten, empfahl es sich trotzdem, auf Nummer sicher zu gehen. In einem Bericht aus dem 9. Jahrhundert heißt es zum Beispiel, ein Missionsbischof im Gebiet des heutigen Österreichs habe heidnischen Stammesführern, die ihn besuchten, einen Platz an seinem Tisch verweigert und ihnen stattdessen Näpfe auf den Boden gestellt.[1]
Als die christliche Missionierungswelle nach Osten schwappte und aus einst heidnischen Volksgebieten christliche Königreiche machte, wurden die Hundsköpfigen anscheinend aus Europa vertrieben und nunmehr an den Rändern der Welt angesiedelt. Die Weltkarte in der englischen Kathedrale von Hereford («Mappa Mundi») aus dem späten 13. Jahrhundert zeigt ganz im Osten eine Gruppe von Hundemenschen, die von einem Engel aus dem Garten Eden gejagt wird. Eine zweite Gruppe wird im anschließenden Exil dargestellt; sie ist auf einem Vorgebirge weit im Norden zu sehen. Die Hundsköpfigen teilen sich den Raum am Rande der Welt mit den Troglodyten, kopflosen Menschen, die in Höhlen leben, und mit einbeinigen Riesenfüßlern, die auf dem Rücken liegend im Schatten ihrer riesigen Füße schlafen. Es sollte sich allerdings zeigen, dass die Verbannung der Hundsköpfigen in den weiten Norden nicht von Dauer war. Schon als die Mönche in Hereford ihre Weltkarte zeichneten, schienen die Hundemenschen ins Zentrum Mitteleuropas zurückgekehrt zu sein – in neuer, schrecklicher Gestalt. Doch diesmal war von echten Menschen die Rede: vom Einfall der Mongolen.
Mitteleuropa wird im Westen vom Rhein begrenzt, der die Alpen mit der Nordsee verbindet. Im Osten hingegen gibt es keine gleichartige physisch-geographische Demarkation. Die Karpaten, die nordöstlich von Wien in der heutigen Slowakei beginnen, winden sich um Ungarn und Siebenbürgen (Transsylvanien) herum und bilden auf diese Weise die Südostgrenze Mitteleuropas. Doch nördlich davon gibt es nur flaches, offenes Land. Das nördliche Mitteleuropa ist eine riesige Ebene – mehr als dreitausend Kilometer lang von den Niederlanden bis zum Ural in Russland. An ihrem Südrand geht die europäische Tiefebene in Steppe über, die von der heutigen Ukraine bis nach Zentralasien reicht.
Über diese weite Steppenlandschaft kam 1241 ein Volk aus Zentralasien und fiel in Polen und Ungarn ein. Sie nannten sich selbst Mongolen und zeigten sich, wie man damals glaubte, den «Hundemenschen» durchaus ähnlich. Bereits der Titel ihres Anführers, Khan, ähnelte dem lateinischen Wort canis, «Hund». Doch auch durch ihr Verhalten bewiesen die Mongolen einem französischen Zeitzeugen zufolge, dass sie aus einer höllischen Unterwelt kamen: «Sie fraßen die Körper ihrer Opfer auf, fast wie Brot.» Weil die Geschichtsschreiber der Zeit all dies glaubten, berichteten sie ganz selbstverständlich, dass die Mongolen die Hundemenschen aus der Antike seien. Man zählte sie zu den apokalyptischen Völkern Gog und Magog, die Alexander der Große einst – so ist es in den biographischen Erzählungen des Alexanderromans zu lesen – im Kaukasus eingemauert hatte, zusammen mit diversen Riesen, korrupten Nationen und den unreinen Völkern, die Mäuse und Flöhe aßen. Offenbar hatte sie jemand aus ihrem Gefängnis herausgelassen.[2]
Die Mongolen waren, wie man damals glaubte, Hundemenschen, die aus der Hölle oder der Unterwelt, dem antiken Tartarus, kamen – weshalb man sie, in einer irrtümlichen Vermischung mit dem von ihnen regierten Volk der Tataren, auch als «Tartaren» bezeichnete oder als Höllenhunde. Obwohl das Mongolenreich schnell wieder zerfiel, blieb auch bei den Nachfolgestaaten die Verbindung zu den mythischen Wesen erhalten. Vom 15. Jahrhundert an veranstalteten die Khans der Krimtataren mehrfach Feldzüge nach Westen in die christlichen Königreiche. Sie waren auf Beute aus, insbesondere auf junge Sklaven, die sie in der Hafenstadt Kaffa (heute Feodosia) auf der Krim verkauften, je nach Geschlecht als Konkubinen oder Eunuchen. Jahrhundertelang war in der Folklore der Völker rund um die Karpaten von den Schandtaten der «hundsmäuligen Tartaren» die Rede, oft in Verbindung mit anderen Erzählungen über Teufel und Dämonen. In ungarischen Berichten war die Gleichsetzung von Tataren und Hundemenschen so verbreitet, dass vor dem 12. Jahrhundert Tataren so gut wie nie ohne das Beiwort «hundsköpfig» vorkamen.[3]
Und es waren nicht nur Tataren, die als Hundemenschen galten. Aus Anatolien, dem Hauptgebiet der heutigen Türkei, kommend, eroberten und besetzten die osmanischen Türken im späten 14. und 15. Jahrhundert die Balkanhalbinsel. Die Kaiserhauptstadt Konstantinopel, das heutige Istanbul, fiel 1453; das Oströmische Reich ging unter. Weniger als ein Jahrhundert später besetzten die Türken auch Zentralungarn und stießen von dort weit in die benachbarten Länder vor. So überrascht es kaum, dass auch die Türken als Agenten des Teufels galten, mit unersättlichem Blutdurst. Westliche Autoren warfen den Türken alle möglichen Extravaganzen vor, darunter bestialisches Verhalten und sexuelle Beziehungen zu Fischen. Von Anfang an wurden auch die Türken zu den Hundemenschen in Beziehung gesetzt. Laut Martin Luther heirateten die Türken Hunde, und aus diesen Verbindungen gingen besagte Hybridwesen hervor. Weil der Prophet Mohammed ebenfalls angeblich ein Hund war und gelegentlich mit einem Hundekopf dargestellt wurde, bot es sich an, gleich alle Muslime als potenzielle Hundemenschen zu betrachten.[4]
In der Geschichte der Hundemenschen kommt zugleich die Geschichte Mitteleuropas zum Ausdruck: Die Hundemenschen waren Räuber, und räuberische Invasionen waren in Mitteleuropa ein stetig wiederkehrendes Thema. Die Liste der Möchtegern-Eroberer beginnt mit den Goten und Hunnen im 4. Jahrhundert, im 7. und 9. Jahrhundert ging es weiter mit Awaren, Slawen und Ungarn. Anschließend kamen im späten Mittelalter die Mongolen und die osmanischen Türken. Ab 1500 ist das Bild noch komplexer, denn nun rückten Invasoren aus allen Richtungen an – aus dem Westen die Franzosen, aus dem Norden die Schweden und aus dem Nordosten die Russen. Von diesen Angreifern waren die Russen die hartnäckigsten: Sie stießen im späten 18. Jahrhundert nach Mitteleuropa vor und besetzten nach 1945 große Teile dieses Gebiets.
Allerdings war Mitteleuropa niemals nur ein passives Opfer; auch seine Königreiche und Imperien agierten als Räuber und rissen mehr oder weniger große Gebiete aus den Nachbarstaaten an sich. Konflikte, die in Mitteleuropa entstanden, weiteten sich oft in andere Regionen aus. Der zwischen 1618 und 1648 in Mitteleuropa ausgefochtene Dreißigjährige Krieg bezog fast den gesamten Kontinent ein, mit Nebenschauplätzen in Afrika, in der Karibik und sogar im weit entfernten Taiwan. Die Annexion des zu Österreich gehörenden Schlesiens durch den Preußenkönig Friedrich den Großen im Jahr 1740 führte zu kriegerischen Verwicklungen, die mehr als zwei Jahrzehnte anhielten. Frankreich und Großbritannien wurden in den Konflikt hineingezogen, weshalb sich der Siebenjährige Krieg (1756–1763) auch in Nordamerika und auf dem indischen Subkontinent abspielte. Die Einigung des Deutschen Reiches 1871 war erst möglich, nachdem die Preußen unter Otto von Bismarck Frankreich besiegt und Paris eingenommen hatten. Im 20. Jahrhundert wurde Mitteleuropa dann Ausgangspunkt zweier Weltkriege, und heute im 21. Jahrhundert findet hier der zerstörerischste Krieg statt, den Europa seit sieben Jahrzehnten erlebt hat.
Mitteleuropa ist oft ex negativo charakterisiert worden – durch das, was es nicht ist. Das gilt auch für die erste gedruckte Definition des Begriffs. An den Gegebenheiten des napoleonischen Zeitalters orientiert, heißt es in Georg Hassels «Statistischer Umriss der sämtlichen europäischen Staaten» von 1805 klipp und klar, Mitteleuropa sei jener Teil Europas, der weder zu Frankreich noch zu Russland gehöre. Übrig blieben auf dem Kontinent somit nur jene deutschen...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2024 |
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Übersetzer | Henning Thies |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Naturwissenschaften ► Geowissenschaften ► Geografie / Kartografie | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Deutschland • Eiserner Vorhang • Erster Weltkrieg • Geschichte • Mitteleuropa • Ostblock • Österreich • Rumänien • Tschechien • Ungarn • Zeitgeschichte • Zentraleuropa • Zwanzigstes Jahrhundert • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-644-01187-7 / 3644011877 |
ISBN-13 | 978-3-644-01187-8 / 9783644011878 |
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