Die Geburt der Wissenschaft (eBook)
232 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00076-6 (ISBN)
Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell' Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt.
Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell' Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt. Monika Niehaus, Diplom in Biologie, Promotion in Neuro- und Sinnesphysiologie, freiberuflich als Autorin (SF, Krimi, Sachbücher), Journalistin und naturwissenschaftliche Übersetzerin (englisch/französisch) tätig. Mag Katzen, kocht und isst gern in geselliger Runde. Trägerin des Martin-Wieland-Übersetzerpreises 2021.
Einleitung
Alle menschlichen Zivilisationen glaubten, die Welt bestehe aus dem Himmel oben und der Erde unten (Abbildung 1, links). Unter der Erde musste sich, damit sie nicht fällt, wiederum Erde und immer noch mehr Erde befinden, ad infinitum. Doch vielleicht ruhte sie auch auf einer großen Schildkröte, die auf einem Elefanten hockt, wie in einigen asiatischen Mythen. Oder auf gewaltigen Säulen wie jene, von denen die Bibel spricht. Dieses Weltbild teilten die ägyptische, die chinesische und die Maya-Kultur, das antike Indien, Schwarzafrika, die Hebräer der Bibel, die amerikanischen Indianer, die antiken babylonischen Reiche und alle anderen Kulturen, die uns ihre Spuren hinterlassen haben.
Alle bis auf eine: die griechische Zivilisation. Seit dem Klassischen Zeitalter stellten sich die Griechen die Erde wie einen im Raum treibenden Kiesel vor (Abbildung 1, rechts): Unter der Erde gab es weder bis ins Unendliche Erde noch eine Schildkröte oder Säulen, sondern denselben Himmel, den wir über uns sehen. Wie haben die Griechen entdeckt, dass die Erde im Raum treibt? Dass der Himmel sich unter unseren Füßen fortsetzt? Wer hat das begriffen und wie kam es dazu?
Abbildung 1: Die Welt vor und nach Anaximander.
Der Mann, der diesen riesigen Schritt tat, ist der Held dieser Seiten: Ἀναξίμανδρος, Anaximander, geboren vor 26 Jahrhunderten in der griechischen Stadt Milet an der Westküste Asiens, in der heutigen Türkei. Schon allein diese Entdeckung hätte genügt, ihn als großen Denker zu würdigen. Aber sein Erbe ist viel umfangreicher. Anaximander öffnete die Tür zur Physik, zur Geographie, zum Studium meteorologischer Phänomene und zur Biologie. Über diese wichtigen Beiträge hinaus setzte er den Prozess in Gang, der zum Neudenken unseres Weltbilds führte: unsere Art und Weise des Erkenntnisgewinns, der auf dem Aufstand gegen das Offensichtliche beruht. So gesehen, kann man Anaximander zweifellos als einen der Väter des naturwissenschaftlichen Denkens bezeichnen.
Das Wesen dieses Denkens ist das zweite Thema dieses Buches. Naturwissenschaft ist vor allem eine leidenschaftliche Erforschung neuer Möglichkeiten, die Welt zu denken. Sie gewinnt ihre Kraft nicht aus den Sicherheiten, die sie liefert, sondern ganz im Gegenteil aus einem geschärften Bewusstsein für das Ausmaß unseres Nichtwissens. Es ist dieses Bewusstsein, das uns ohne Unterlass dazu antreibt, an dem zu zweifeln, was wir zu wissen glauben, und uns daher erlaubt, unablässig zu lernen. Die Suche nach Wissen nährt sich nicht aus Gewissheiten, sondern ganz im Gegenteil aus einem radikalen Fehlen von Gewissheiten.
Ein solches fluides, ständig in Entwicklung begriffenes Denken besitzt große Kraft und eine geheimnisvolle Magie: Es ist in der Lage, die Ordnung der Welt umzustürzen und die Welt immer neu zu denken.
Diese evolutionäre und subversive Konzeption des rationalen Denkens unterscheidet sich deutlich von seiner positivistischen Spielart, ebenso von dem fragmentierten und ein wenig kargen Bild gewisser zeitgenössischer philosophischer Reflexionen. Der Aspekt des naturwissenschaftlichen Denkens, den ich auf diesen Seiten ins Zentrum rücken möchte, ist seine Fähigkeit zur Kritik und zur Rebellion, zum ständigen Neuerfinden der Welt.
Wenn dieses Bemühen, die Welt neu zu erfinden, tatsächlich ein zentraler Aspekt der wissenschaftlichen Suche nach Erkenntnis ist, dann hat dieses Abenteuer nicht erst mit den Pionierexperimenten Galileis oder den ersten mathematischen Modellen der alexandrinischen Astronomie seinen Anfang genommen. Es hat vielmehr schon sehr viel früher begonnen, und zwar mit dem, was man als die erste große «wissenschaftliche Revolution» in der Geschichte der Menschheit bezeichnen kann: die von Anaximander.
Indessen ist die Bedeutung Anaximanders in der Geschichte des Denkens weitgehend unterschätzt worden.
Dafür gibt es mehrere Gründe. In der Antike konnten seine methodologischen Vorschläge noch nicht die Früchte tragen, die wir heute nach langer Reifung und zahlreichen Kursänderungen ernten. Trotz der Anerkennung mancher stärker «naturwissenschaftlich» geprägten Autoren wie Plinius wurde Anaximander nicht selten – beispielsweise von Aristoteles – als Weihrauchschwenker eines als unsicher geltenden naturalistischen Ansatzes betrachtet und von alternativen kulturellen Strömungen heftig bekämpft.
Wenn Anaximanders Denken heute noch immer kaum bekannt und kaum verstanden ist, dann liegt das an der schädlichen Dichotomie zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Natürlich bin ich mir der Verzerrung bewusst, die meine vor allem naturwissenschaftliche Ausbildung mit sich bringt, wenn es darum geht, die Bedeutung eines Denkers einzuschätzen, der vor 26 Jahrhunderten gelebt hat. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die gegenwärtige Interpretation von Anaximanders Gedanken unter der umgekehrten Verzerrung leidet: unter der Schwierigkeit, die es vielen historisch-philosophisch geprägten Intellektuellen bereitet, die Tragweite von Beiträgen abzuschätzen, die ihrem Wesen und ihrem Erbe nach im Grunde «naturwissenschaftlich» sind. Selbst die in der vorherigen Fußnote zitierten Autoren, die die Bedeutung Anaximanders würdigen, haben Mühe, die Tragweite einiger seiner Gedankengänge wirklich zu begreifen. Diese Tragweite ist es, die ich auf diesen Seiten beleuchten möchte.
Ich sehe Anaximander daher nicht mit den Augen eines Historikers oder eines Experten für griechische Philosophie, sondern mit denen eines zeitgenössischen Naturwissenschaftlers, der sich Gedanken über das Wesen des wissenschaftlichen Denkens und auch über die Rolle dieses Denkens für die Entwicklung der Zivilisation macht. Im Gegensatz zur Mehrheit der Autoren, die sich für Anaximander interessieren, habe ich nicht das Ziel, seine Gedanken und sein konzeptuelles Universum so getreu wie möglich zu rekonstruieren. Für diese Rekonstruktion habe ich mich mit den Arbeiten von Hellenisten und Historikern wie Charles Kahn (1960), Marcel Conche (1991) oder in jüngerer Zeit Dirk Couprie (2003) beschäftigt. Ich will nicht versuchen, die Schlussfolgerungen dieser Rekonstruktionen zu modifizieren oder zu vervollständigen, sondern nur die in diesem Denken liegende gedankliche Tiefe beleuchten und die Rolle, die sie in der Entwicklung des Weltwissens gespielt hat.
Der zweite Grund für die Unterschätzung der Gedanken Anaximanders wie auch anderer Aspekte des wissenschaftlichen Denkens im antiken Griechenland ist ein unterschwelliges und diffuses Unverständnis für gewisse Aspekte des wissenschaftlichen Denkens.
Der Glaube an die Naturwissenschaft, wie er typisch für das 19. Jahrhundert war, ihre positivistische Glorifizierung als ein menschliches Unterfangen, das etwas Definitives über die Welt aussagen kann, er ist heute abgebröckelt. Hauptverantwortlich für diesen Vertrauensverlust ist die Revolution der Physik im 20. Jahrhundert, die uns gezeigt hat, dass die Newton’sche Physik trotz ihrer unglaublichen Effizienz in einem ganz bestimmten Sinne falsch ist. Große Teile der darauf folgenden Wissenschaftsphilosophie lassen sich wie Versuche lesen, das Wesen der Wissenschaft auf dieser tabula rasa neu zu definieren.
Manche Strömungen haben folglich versucht, die sicheren Fundamente der Wissenschaft wiederzufinden, zum Beispiel dadurch, dass sie den Erkenntnisgehalt naturwissenschaftlicher Theorien allein auf die Fähigkeit beschränken, Zahlen oder das Verhalten von direkt beobachtbaren Phänomenen vorherzusagen. Andere Ansätze betrachten wissenschaftliche Theorien als mehr oder minder willkürliche geistige Konstrukte, die – abgesehen von ihren ganz praktischen Konsequenzen – nicht direkt einander oder der Welt gegenübergestellt werden können. Durch diese Art der Analyse verliert man jedoch jene qualitativen und kumulativen Aspekte wissenschaftlicher Erkenntnis aus dem Blick, die nicht nur unauflöslich mit den rein numerischen Daten verflochten sind, sondern vor allem den Geist und die Daseinsberechtigung der Naturwissenschaften ausmachen.
Am anderen Ende des Spektrums steht ein Teil der zeitgenössischen Kultur, der das naturwissenschaftliche Wissen radikal entwertet und damit eine diffuse Wissenschaftsfeindlichkeit nährt. Nach dem 20. Jahrhundert erscheint das rationale Denken voller Unsicherheiten. In der öffentlichen Meinung wie auch in kultivierten Kreisen machen sich verschiedene Formen des Irrationalismus breit; sie speisen sich aus der Leere, die durch den Verlust der Illusion entstanden ist, die Naturwissenschaft könnte ein definitives Bild der Welt liefern – aus der Angst, unsere Unwissenheit zu akzeptieren. Falsche Sicherheiten sind besser als Unsicherheit …
Das Fehlen von Gewissheiten ist jedoch keineswegs eine Schwäche der Naturwissenschaft, sondern ganz im Gegenteil das Geheimnis ihrer Kraft und speist sich aus Neugier, Revolte und Bewegung. Naturwissenschaftliche Antworten sind nicht etwa deshalb glaubhaft, weil sie endgültig sind, sondern weil sie die besten sind, die wir beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens geben können. Genau deshalb ist uns bewusst, dass wir sie nicht als definitiv ansehen sollten, denn sie werden sich weiter verbessern.
So gesehen, kann man die drei Jahrhunderte Newton’scher Physik nicht mit «der Naturwissenschaft» gleichsetzen, wie es allzu oft getan wird. Sie stellen nicht mehr als eine...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2019 |
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Übersetzer | Monika Niehaus |
Zusatzinfo | Zahlr. s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Naturwissenschaften ► Physik / Astronomie ► Astronomie / Astrophysik | |
Technik | |
Schlagworte | Anaximander • Antike • Astronomie • Naturwissenschaft • Physik • Pythagoras • Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-644-00076-X / 364400076X |
ISBN-13 | 978-3-644-00076-6 / 9783644000766 |
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