Sieben kurze Lektionen über Physik (eBook)
96 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05221-5 (ISBN)
Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell' Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt.
Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell' Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt.
Erste Lektion Die schönste der Theorien
Als junger Mann bummelt Albert Einstein ein Jahr lang herum. Wer keine Zeit vergeudet, kommt nirgendwohin, was die Eltern von Heranwachsenden leider oft vergessen. Nachdem er in Deutschland von der Schule abgegangen war, weil er die Zucht und Strenge auf dem Gymnasium nicht ertrug, folgte er seiner Familie nach Pavia. Das war zu Anfang des Jahrhunderts, und Italien stand am Beginn der industriellen Revolution. Sein Vater errichtete als Ingenieur in der Poebene die ersten Elektrizitätswerke. Albert las Kant und hörte zum Zeitvertreib Vorlesungen an der Universität von Pavia. Rein zum Vergnügen, ohne immatrikuliert zu sein und ohne Examina abzulegen. So wird man ein ernsthafter Wissenschaftler.
Schließlich schreibt er sich in Zürich am Polytechnikum ein und vertieft sich in die Physik. Nur wenige Jahre später, 1905, schickt er drei Artikel an die damals renommierteste wissenschaftliche Zeitschrift, die «Annalen der Physik». Alle drei sind nobelpreiswürdig. Der erste beweist die tatsächliche Existenz der Atome. Der zweite öffnet die Tür zur Quantenmechanik, von der in der nächsten Lektion die Rede sein wird. Der dritte stellt seine erste Theorie der Relativität vor (heute «Spezielle Relativitätstheorie» genannt), die erklärt, dass die Zeit nicht für alle gleich schnell vergeht: Zwei Zwillinge treffen sich unterschiedlich gealtert wieder, wenn einer von beiden mit sehr hoher Geschwindigkeit eine große Entfernung zurückgelegt hat.
Unversehens wird Einstein zum renommierten Wissenschaftler und bekommt Angebote von verschiedenen Universitäten. Doch etwas stört ihn: Seine Relativitätstheorie, wie gefeiert auch immer, stimmt nicht mit dem überein, was man über die Schwerkraft weiß, also darüber, wie die Dinge fallen. Dies wird ihm klar, als er für eine Zeitschrift einen Artikel über seine Theorie schreibt, und er fragt sich, ob die altehrwürdige Gravitationslehre des großen Vaters Newton nicht ebenfalls revidiert werden muss, damit sie mit der neuen Relativität kompatibel wird. Er vertieft sich in das Problem. Bis es gelöst ist, dauert es zehn Jahre. Zehn Jahre lang verrückte Forschungen, Versuche, Irrtümer, Verwirrung, misslungene Artikel, Geistesblitze, Fehlschlüsse. Im November 1915 schließlich gibt er einen Artikel in den Druck, der die vollständige Lösung enthält: eine neue Theorie der Gravitation, der er den Namen «Allgemeine Relativitätstheorie» gibt, sein Meisterwerk. Der große russische Physiker Lew Landau nannte sie die «schönste der wissenschaftlichen Theorien».
Es gibt vollkommene Meisterwerke, die uns tief berühren, Mozarts «Requiem», die «Odyssee», die Sixtinische Kapelle, «König Lear» … Sie in all ihrem Glanz zu erfassen, mag eine entsprechende Ausbildung voraussetzen. Doch der Lohn ist Schönheit pur. Und nicht nur das: Auch ein neuer Blick auf die Welt tut sich vor unseren Augen auf. Eines dieser Meisterwerke ist die Allgemeine Relativitätstheorie, das Juwel von Albert Einstein.
Ich erinnere mich, wie aufgeregt ich war, als ich anfing, etwas davon zu begreifen. Es war Sommer. Ich war an einem Strand in Kalabrien, in Condofuri, eingetaucht in das Licht dieser griechisch geprägten Mittelmeerküste, im letzten Jahr meines Studiums. Die Ferienzeit eignet sich am besten zum Lernen, weil man nicht durch die Lehrveranstaltungen abgelenkt ist. Das Buch, das ich zum Lernen benutzte, war an den Rändern von Mäusen angenagt, weil ich damit nachts in dem etwas hippiemäßigen, verwahrlosten Haus in den umbrischen Hügeln, wohin ich gelegentlich vor der Langeweile der Universitätsvorlesungen in Bologna geflohen war, immer die Löcher dieser armen Tierchen verstopft hatte. Hin und wieder blickte ich vom Buch auf und betrachtete das Funkeln des Meeres. Es kam mir vor, als sähe ich das Sichkrümmen von Raum und Zeit, wie es Einstein sich vorgestellt hatte.
Es war wie ein Zauber: als ob ein Freund mir eine einzigartige verborgene Wahrheit ins Ohr flüsterte, einen Schleier vor der Realität fortnahm und eine einfachere, tiefere Ordnung enthüllte. Seit wir gelernt haben, dass die Erde rund ist und sich wie ein rasender Kreisel dreht, haben wir begriffen, dass die Realität nicht so ist, wie sie uns erscheint. Wenn wir ein neues Detail erahnen, ist das jedes Mal aufregend. Ein weiterer Schleier fällt.
Immer wieder hat sich unser Wissen im Lauf der Geschichte sprunghaft voranbewegt. Doch der Sprung, den Einstein vollbrachte, ist wohl ohnegleichen. Warum? Vor allem, weil die Theorie, hat man erst einmal verstanden, wie sie funktioniert, so einfach ist, dass es einem den Atem nimmt. Ich fasse die Idee zusammen:
Newton hatte versucht zu erklären, warum die Dinge fallen und die Planeten kreisen. Er entwickelte die Vorstellung von einer «Kraft», die alle Körper zueinander hinzieht, und nannte sie «Gravitation». Wie diese Kraft es anstellt, weit voneinander entfernte Dinge ohne irgendeine Vermittlung zueinander hinzuziehen, das blieb dem Wissen vorenthalten, und der große Vater der Wissenschaft hütete sich wohlweislich, Vermutungen zu riskieren. Weiter stellte sich Newton vor, dass sich die Körper im Raum bewegen und der Raum ein großer leerer Behälter ist, eine Riesenschachtel für das Universum. Ein gewaltiges starres Gebilde, in dem die Dinge geradlinig ihre Bahn ziehen, bis eine Kraft sie ablenkt. Woraus dieser von Newton erdachte «Raum», dieser Weltbehälter, bestand, auch das blieb dem Wissen entzogen.
Doch wenige Jahre vor Alberts Geburt hatten zwei große britische Physiker, Faraday und Maxwell, die leere Welt Newtons um eine weitere Zutat ergänzt: das elektromagnetische Feld. Das Feld ist eine allgegenwärtige reale Entität, die die Radiowellen trägt, den Raum füllt, wie die Oberfläche eines Sees wogen und schwanken kann und die Elektrizität «ringsum verteilt». Einstein fasziniert das elektromagnetische Feld von Kindheit an, es bewegt die Generatoren in den von Papa erbauten Elektrizitätswerken, und schon früh begreift er, dass ebenso wie die Elektrizität auch die Gravitation von einem Feld getragen sein muss. Entsprechend dem «elektrischen Feld» muss es auch ein «Gravitationsfeld» geben; und er denkt darüber nach, wie dieses «Gravitationsfeld» beschaffen sein könnte und mit welchen Gleichungen es sich beschreiben ließe.
Und dann hat er die verblüffende Idee, den genialen Einfall: Das Gravitationsfeld ist nicht im Raum ausgebreitet, sondern es ist der Raum. Das ist der Grundgedanke der Allgemeinen Relativitätstheorie.
Newtons «Raum», in dem sich die Dinge bewegen, und das «Gravitationsfeld» als Träger der Schwerkraft sind ein und dasselbe.
Es ist eine Erleuchtung. Eine eindrucksvolle Vereinfachung der Welt: Der Raum ist nicht länger etwas anderes als die Materie. Er ist eine der «materiellen» Komponenten der Welt. Eine wogende, sich biegende, sich krümmende, sich verformende Entität. Wir sind nicht in einem unsichtbaren starren Gebilde gefangen, sondern gewissermaßen in eine Art Molluske, in einen riesigen verformbaren Weichkörper, eingebettet. Die Sonne biegt den Raum um sich herum, und die Erde dreht sich nicht deshalb um die Sonne, weil sie von einer geheimnisvollen Kraft gezogen wird, sondern weil sie sich geradlinig in einem Raum bewegt, der gebogen ist. Wie eine Kugel, die in einen Trichter rollt. Es gibt keine geheimnisvollen «Kräfte», die in der Mitte des Loches entstehen, sondern die Krümmung der Wände lässt die Kugel rollen. Die Planeten kreisen um die Sonne, und die Dinge fallen, weil der Raum sich krümmt.
Wie kann man die Krümmung des Raums beschreiben? Der größte Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts, Carl Friedrich Gauß, der «Fürst der Mathematiker», hatte eine Mathematik zur Beschreibung gekrümmter zweidimensionaler Flächen wie der Oberfläche von Hügeln verfasst. Dann forderte er einen begabten unter seinen Studenten auf, das Ganze auf drei- oder mehrdimensionale gekrümmte Räume zu verallgemeinern. Der Student, Bernhard Riemann, fertigte eine jener mühevollen Doktorarbeiten an, die vollkommen nutzlos erscheinen. Mit dem Ergebnis, dass die Merkmale eines gekrümmten Raums von einem bestimmten mathematischen Werkzeug erfasst werden, das wir heute Krümmungstensor nennen und mit R bezeichnen. Einstein stellt eine Gleichung auf, die besagt, dass R der Energie der Materie proportional ist. Das heißt, der Raum krümmt sich dort, wo Materie ist. Das ist alles. Die Gleichung besteht aus einer halben Zeile, mehr nicht. Eine Vision – der sich krümmende Raum – und eine Gleichung.
Aber in dieser Gleichung ist ein funkelndes Universum enthalten. Die Theorie erweist sich als faszinierend fruchtbar und löst eine phantastische Folge von Vorhersagen aus, die den Wahnideen eines Verrückten gleichen, und doch werden alle später experimentell bestätigt.
Zunächst einmal beschreibt die Gleichung, wie sich der Raum um einen Stern krümmt. Aufgrund dieser Krümmung kreisen nicht nur die Planeten um den Stern; auch das Licht breitet sich nicht länger geradlinig aus, sondern weicht von seiner Bahn ab. Einstein sagt voraus, dass die Sonne das Licht ablenkt. 1919 wird die Messung durchgeführt, und die Vorhersage erweist sich als zutreffend.
Aber nicht nur der Raum krümmt sich, sondern auch die Zeit. Einstein sagt voraus, dass die Zeit in der Höhe schneller vergeht als unten, in Erdnähe. Das wird nachgemessen, und es stimmt. Der Unterschied ist gering, aber der Zwilling, der am Meer lebt, findet den Zwilling, der in den Bergen gelebt hat, ein wenig älter vor, als er selbst es ist. Und das ist erst der Anfang.
Wenn ein...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2015 |
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Übersetzer | Sigrid Vagt |
Zusatzinfo | Mit 10 s/w Ill. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Naturwissenschaften ► Physik / Astronomie ► Astronomie / Astrophysik | |
Technik | |
Schlagworte | Einstein • Hawking • Kosmologie • Loop-Theorie • Philosophie • Quantentheorie • Raum • Relativitätstheorie • Schleifenquantengravitation • Theoretische Physik • Zeit |
ISBN-10 | 3-644-05221-2 / 3644052212 |
ISBN-13 | 978-3-644-05221-5 / 9783644052215 |
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