Autonomie am Lebensende?
Campus (Verlag)
978-3-593-38432-0 (ISBN)
Mit der Formel "leben machen, sterben lassen" definierte Michel Foucault Mitte der 1970er Jahre die grundlegende Logik moderner Biomacht. Inzwischen hat der von ihm geprägte Begriff der Biopolitik längst Eingang gefunden in Ethikkommissionen und Regierungsprogramme. Gleichzeitig wird er in neueren sozialwissenschaftlichen Arbeiten weiterentwickelt. Stefanie Graefe untersucht die Reichweite dieser Perspektive am Beispiel der Debatte um Sterbehilfe und Patientenverfügungen. Das für moderne Biopolitiken zentrale Versprechen auf Autonomie erweist sich hier als Element einer Ökonomisierung des sozialen Lebens, die vor dem Prozess des Sterbens nicht Halt macht.
Stefanie Graefe, Dr. phil., Soziologin, lebt als Autorin, Dozentin und Übersetzerin in Hamburg.
Inhalt
Einführung
1.Biopolitik: Fragen an einen Begriff
Ausgangspunkt: Die Machtanalytik Foucaults - Theoretische und politische Dimensionen von Biopolitik - Autonomie am Lebensende? -Vorab: Die Frage des Subjekts - Zum Aufbau des Buchs
2. Macht über Menschen als Lebewesen
Disziplinierung und Regulierung - Sexualität und Hygiene - Die Neujustierung der Machtkritik - Wie Menschen regiert werden -Fazit: Biopolitik als Ökonomisierung des Lebens
Biopolitik zwischen Produktivität und Selektion
3. Kreuzungspunkt Staatsrassismus
Rassismus als Schnittstelle - Eine "Zäsur biologischen Typs"? - Mythos Volksgemeinschaft - Die "Herrschaft des Weißen Mannes" -Rassismus zwischen Biomacht, Subjektivität und Staat - Fazit
4. Leben machen, sterben lassen
Abwertung des Todes in der biopolitischen Moderne? - Produktivität an den Grenzen des Lebens - Fazit
5. Im Zentrum der Souveränität: Biopolitik bei Giorgio Agamben
Homo Sacer: Figur an der Grenze - Subjektsein: Ausnahmezustand im Selbst - Sozialer Tod, soziales Leben4 - Umkämpfte Drohung: Nacktes Leben - Fazit
Zwischenbilanz
Biopolitik und die Ökonomisierung des Sozialen
6. Zur Ökonomie disziplinierender Biomacht
Die Disziplinierung der Fabrikgesellschaft - Sexualität und Distinktion - Normalisierung und soziale (Klassen-)Verhältnisse -Fazit
7. Im Regime des Homo Oeconomicus: Neoliberale Gouvernementalität
Vom Verschwinden des Sozialen - Ökonomie als "ökonomische Rationalität"? - Selbsttechnologien zwischen Freiheit und Fügung - Innere Landnahme, entgrenzte Körperwelten - Fazit
8. Von den Grenzen der Inwertsetzbarkeit: Leben im "Empire"
Die Normalisierung der Maßlosigkeit - Postdisziplinärer Rassismus - Leben zwischen "Generation" und "Korruption" - Fazit
Zwischenbilanz
Die Politisierung der Grenzen des Lebens
9. Autonomie am Lebensende? Subjektmodelle in der Debatte um Sterbehilfe
Von der "Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" -"Patientenautonomie am Lebensende" - Fragen an die Texte - Die Souveränität des Subjekts und ihr Schutz durch die Staatsmacht - Sterbehilfe als individuelle Aneignung universaler Autonomie -Die "Volkswirtschaftsgemeinschaft" und der "Negativwert" - Patientenautonomie und die Entnennung der sozialen Frage -Resümee: Sterbehilfe als Angebot, Subjekt zu bleiben
10. Biopolitiken an den "Grenzen des Lebens"
Nachgedanke - Rückblick - Ausblick
Literaturverzeichnis
Biopolitik und die Ökonomisierung des Sozialen "Ökonomisierung bedeutet zunächst nichts anderes als Rationalisierung, Effizienzsteigerung und Leistungsorientierung. Wer konsequent ökonomisch handelt, erledigt seine Arbeit so, dass er dasselbe oder ein besseres Resultat in kürzerer Zeit und mit verbesserten Mitteln erreicht. Durch den Einsatz neuer Technologien etwa, durch Arbeitsteilung oder besseres Zeitmanagement. Der Gewinn ist übrigens jedes Mal - freie Zeit. Zeit für andere Tätigkeiten oder all die schönen Dinge jenseits der Arbeit." "Ökonomisierung" als Rationalisierung, als Effizienzsteigerung, als permanente Steigerung der Produktivität. Aus einer Perspektive auf Biopolitik(en) wäre ein solcher Begriff von Ökonomisierung zumindest um folgende drei Punkte zu ergänzen: Erstens handelt es sich bei Ökonomisierung um eine zentrale Technik moderner Macht, oder besser: um ein unter diesem Etikett geschnürtes Bündel zentraler Machttechniken. Deren Einsatzgebiet reicht zweitens über den Bereich "der Arbeit" weit hinaus. Drittens ist Ökonomisierung nicht unbedingt dazu geeignet, das Leben "schöner" zu machen, sondern vor allem dazu, es effektiver zu unterwerfen. Foucault beschreibt eine Linie, die sich von der Disziplinierung der Individuen über die Einpflanzung sexueller Identitäten, die Regulierung der Bevölkerung bis zur Regierung des "ökonomischen Subjekts" zieht: Das soziale wie das biologische Leben der Menschen wird "produktiv gemacht". Der Glaube an ein Reservat "freier Zeit" jenseits der Ökonomisierung erscheint aus dieser Perspektive als Illusion: Gerade im Bereich der Reproduktion, im Privaten und Intimen entfaltet Ökonomisierung ihre besondere Wirksamkeit. Im Mittelpunkt des dritten Teils meiner Untersuchung steht die Frage, wie sich mit Foucault und mehr als zwei Jahrzehnte nach Foucault die Ökonomisierung des Lebens denken lässt. In welcher Beziehung stehen die Prozesse der Disziplinierung und Sexualisierung zur politischen Ökonomie des Kapitalismus? Dieser Frage gehe ich in Kapitel 6 entlang der Argumentation Foucaults in Überwachen und Strafen sowie in Der Wille zum Wissen nach. Auf welche Weise schreiben sich in diesen Texten - und damit im "Disziplinarregime" - biopolitische Zugriffe auf Subjektivität und Leben in die kapitalistische Ökonomie ein? Kapitel 7 diskutiert die Gegenwarts-Diagnose einer neoliberalen "Ökonomisierung des Sozialen", wie sie die Governementality Studies (GS) vornehmen. Die GS machen eindringlich klar, dass sich Bedingungen und Modi des "Regierens" in der Gegenwart gegenüber dem von Foucault beschriebenen Disziplinarregime verändert haben. Was bedeutet hier Ökonomisierung und in welchem Verhältnis steht sie zur Konzeption von Biopolitik? Der Entwurf von Biopolitik im Empire, den Michael Hardt und Antonio Negri vorgelegt haben (Hardt/ Negri 2002), greift die Themen Souveränität, Subjektivität, Ökonomisierung im Zeichen marktliberaler Globalisierung neu auf. Im Mittelpunkt von Kapitel 8 steht deshalb die Frage, in welcher Weise Hardt/Negris Konzeption der "biopolitischen Produktion" die hier verhandelte Thematik weiterbringt. Schließlich werde ich die verschiedenen aus der Diskussion der theoretischen Ansätze entwickelten Fäden wiederum in einer Zwischenbilanz zusammenführen. Dabei greife ich erneut zurück auf die Mehrdimensionalität der Kategorie Lebenswert - diesmal allerdings steht deren mögliche "Neuzusammensetzung" unter den Bedingungen "postdisziplinärer" Biopolitik zur Diskussion. 6.Zur Ökonomie disziplinierender Biomacht Welchen Stellenwert hat nun "Ökonomie" im Zusammenhang mit Biomacht bei Foucault? Prinzipiell stellt er klar: Machtbeziehungen sind ökonomischen Prozessen nicht äußerlich und existieren nicht unabhängig von diesen (Foucault 1978: 111). Zwar hängt der Aufstieg der Biomacht eng mit der Entwicklung des Kapitalismus zusammen (Foucault 2003: 484), doch es wäre zu einfach, diesen Zusammenhang auf das Phänomen der Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft und Lebenszeit zu reduzieren. Die Macht der Ökonomie beruht vielmehr auf einer ihr vorgängigen "politische[n] Ökonomie des Körpers" (Foucault 1994: 37). "Politische Ökonomie des Körpers" - das heißt: eine spezifische Rationalität der Machtbeziehungen (vgl. Foucault 1994a: 244). Im Regime der Biomacht setzt sich diese Rationalität in dreierlei Hinsicht ins Werk: einmal, insofern sie - Rationalität der Disziplin - Zeiten, Räume und Tätigkeiten normiert, parzelliert und überwacht. Zweitens, insofern sie - Rationalität des Sex - Menschen über ihren Körper und ihre Sexualität an die Erfüllung der Norm und die Erforschung ihres Selbst bindet. Schließlich, insofern sie - Rationalität der Bevölkerung - Leben, Sterben, Krankheiten und Bewegungen der Gesamtheit der Regierten steuert und reguliert. Die "biopolitische Ökonomie des Körpers" verbindet alle drei Bereiche - zum Beispiel dort, wo Individuen als verantwortliche Subjekte einer "Volksgesundheit" angerufen werden. In Der Wille zum Wissen spricht Foucault auch von einer "restriktive[n] Ökonomie" des Diskurses über den Sex (Foucault 1991: 28). Damit ist nicht Ökonomie als Produktion von Waren und Akkumulation von Reichtum, sondern sind Machtprozesse gemeint, die in regelmäßiger Form auf Menschen zugreifen und dabei einer bestimmten Systematik oder Logik folgen. "Restriktiv" ist diese Ökonomie, insofern sie zwar produktiv im Hinblick auf Disziplinen, Sexualitäten, Subjektivitäten, Normen ( vgl. Foucault 2003: 337), eben darin aber streng geregelt ist. Die Produktivität der Biomacht ist also nicht frei fließend, sondern zugleich kanalisiert und kanalisierend: eine ebenso ergiebige wie kontrollierte Ökonomie. Foucault löst den Begriff der Ökonomie aus dem mit Arbeit, Warenproduktion und Markt verbundenen Bedeutungsrahmen und erweitert ihn zugleich: Biopolitik ist in dem Sinne ökonomisch, dass sie - im Zusammenhang mit dem Sexualitätsdispositiv zum Beispiel - effizient die Produktion von Erkenntnissen und Subjektivitäten vorantreibt. Sie ist aber auch nicht-ökonomisch, insofern sie auf eine einfache Funktionalität im Sinne der "Steigerung der Arbeitsproduktivität" (Foucault 1991: 148) nicht zu reduzieren ist. In diesem Sinne "entthronisiert" die Biomachtkonzeption die Ökonomie innerhalb der Machtanalytik und erweitert im selben Atemzug den Begriff der Ökonomie um die Dimensionen der Normalisierung, Disziplinierung und Sexualisierung. Diese Erweiterung werde ich im Folgenden "Ökonomisierung" nennen und damit von der "Ökonomie" im engeren Sinn unterscheiden.
Erscheint lt. Verlag | 11.2.2008 |
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Reihe/Serie | Campus Forschung ; 923 |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 142 x 214 mm |
Gewicht | 467 g |
Themenwelt | Studium ► 1. Studienabschnitt (Vorklinik) ► Med. Psychologie / Soziologie |
Schlagworte | Biomacht • Biopolitik • Gouvernementalität • HC/Medizin/Allgemeines • Sterbehilfe |
ISBN-10 | 3-593-38432-9 / 3593384329 |
ISBN-13 | 978-3-593-38432-0 / 9783593384320 |
Zustand | Neuware |
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