NANDA-I-Pflegediagnosen: Definitionen und Klassifikation 2024-2026 (eBook)
744 Seiten
RECOM (Verlag)
978-3-89752-169-8 (ISBN)
1 Grundlagen der Pflegediagnosen
T. Heather Herdman, Susan Gallagher-Lepak, Camila Takáo Lopes
1.1 Eine kurze Einführung in die Diagnosestellung
Wir beginnen diesen Diskurs mit einer Untersuchung des Konzepts Diagnosestellung, das den Prozess der Diagnosefindung bei einem Patienten/einer Patientin umfasst. Es ist für Pflegefachpersonen von entscheidender Bedeutung, dass sie nicht nur Befunde erheben und dokumentieren, sondern auch einen kohärenten Assessmentprozess durchführen können, der zu einer akuraten Diagnose führt. Es reicht nicht aus, ein Assessment abzuschließen und schnell zur elektronischen Patient(inn)enakte oder zur Patient(inn)enkurve auf Papier zu wechseln, um dort willkürlich eine Diagnose auszuwählen, ohne dass ein logischer Zusammenhang mit dem abgeschlossenen Assessment besteht.
In diesem Kapitel wird zunächst ein kurzer Überblick über die Disziplin Pflege und den Pflegeprozess gegeben, bevor das Thema Pflegediagnose näher beleuchtet wird. Der Unterscheidung zwischen der Diagnosestellung und der anschließenden Dokumentation kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, wobei die Notwendigkeit einer logischen Verknüpfung zwischen Assessment und Diagnose in der pflegerischen Praxis betont wird.
Die Diagnosestellung, die zu den grundlegenden Aufgaben der Pflegefachpersonen gehört, entwickelt sich während der Interaktion der Pflegefachperson mit den Patient(inn)en und deren Familien. Dieser Prozess umfasst ein gründliches Assessment, das in einem separaten Kapitel ausführlich beschrieben wird, bei dem Pflegefachpersonen körperliche Untersuchungen und eine Anamnese durchführen, um mögliche gesundheitliche Probleme aufzudecken. Dabei sammeln die Pflegekräfte umfassende Daten über die medizinische und familiäre Vorgeschichte der Patient(inn)en sowie die aktuellen Anzeichen und Symptome.
Die Datensammlung umfasst die Prüfung von Patient(inn)enakten, einschließlich Laborergebnisse und andere diagnostische Testergebnisse, Medikation und Verlaufsnotizen verschiedener Fachdisziplinen. Darüber hinaus werden durch Gespräche mit den Patient(inn)en, den Familien oder anderen relevanten Personen wichtige Informationen gewonnen. Durch die sorgfältige Analyse der mit diesen vielfältigen Methoden gewonnenen Daten erkennen die Pflegefachpersonen Muster und identifizieren Anomalien. Im Idealfall decken sie auch die Stärken des Patienten/der Patientin auf, die für die Gesundheitsversorgung von Bedeutung sind.
Die Pflegefachpersonen nutzen ihr Fachwissen und setzen kritisches Denken ein, um aus den Rohdaten fundierte Schlussfolgerungen zu ziehen. Sie formulieren Hypothesen über mögliche Pflegediagnosen, die im individuellen Fall vorliegen könnten, und folgen damit einem strategischen und analytischen Ansatz für die klinische Entscheidungsfindung.
Was versteht man unter einer Inferenz oder Schlussfolgerung? Eine Inferenz ist eine aus Belegen und logischen Überlegungen gezogene Folgerung oder Ableitung, die über explizite oder direkt präsentierte Daten oder Aussagen hinausgeht. Im Wesentlichen handelt es sich um eine begründete Interpretation oder Erklärung, die hinter die Oberfläche der bereitgestellten Rohdaten blickt. Schlussfolgerungen werden durch die Kombination vorhandener Daten – bestehend aus Fakten und Beobachtungen – mit dem Vorwissen aus der Pflegetheorie und dem disziplinären Fachwissen sowie der klinischen Erfahrung gezogen.
Dieser Prozess ermöglicht die Formulierung eines neuen Verständnisses oder einer neuen Interpretation, die über die ursprüngliche Datengrundlage hinausgeht. Bei Schlussfolgerungen geht es oft darum, auf der Grundlage der verfügbaren Belege fundierte Vermutungen oder Vorhersagen zu treffen. Die Fähigkeit, korrekte Schlussfolgerungen zu ziehen, ist ein zentraler Aspekt des kritischen Denkens, der Problemlösung und des diagnostischen Prozesses in der Pflegepraxis.
Auf der Grundlage der Analyse der Schlussfolgerungen diagnostizieren die Pflegefachpersonen die aus den Daten abgeleiteten Reaktionen der betroffenen Person. Dabei können sie mit Patient(inn)en, Familien, Kolleg(inn)en und Fachleuten aus anderen Disziplinen zusammenarbeiten, um ihre Schlussfolgerungen zu überprüfen. Dieser gemeinschaftliche Prozess zielt darauf ab, diagnostische Hypothesen zu bestätigen oder in Frage zu stellen und so ein umfassendes Verständnis des Patient(inn)enverhaltens zu ermöglichen.
Ohne ein Verständnis der zugrundeliegenden Konzepte und Theorien der Disziplin Pflege ist es jedoch schwierig, aus den Rohdaten genaue Schlussfolgerungen zu ziehen. Das Verständnis dieser grundlegenden Prinzipien und Theorien ist für Pflegefachkräfte von entscheidender Bedeutung, um aus den bei der Patient(inn)enbeurteilung gewonnenen Daten genaue Schlüsse zu ziehen und sinnvolle Erkenntnisse zu gewinnen.
So sammelt beispielsweise James, eine neue Pflegefachkraft auf der Neugeborenen-Intensivstation, aus der Patient(inn)enakte und während der Pflege und beim Ernähren des Neugeborenen Samuel die folgenden Daten:
Samuel kam vor 11 Tagen als Frühgeborenes der 27. Schwangerschaftswoche zur Welt. Er hat ein moderates Atemnotsyndrom und erhält 2 l Sauerstoff über eine Nasenbrille. Heute gähnt er, spreizt die Finger und hat Schluckauf während der morgendlichen orogastralen Sondenernährung und hat drei Episoden, in denen seine Sauerstoffsättigung unter 85 % fällt. Sein Gewicht hat 5–10 g/Tag zugenommen und liegt auf der 28. Perzentile.
Als Neuling auf der Neugeborenen-Intensivstation erkennt James Anzeichen wie Gähnen, Fingerspreizen, Schluckauf und eine niedrige Sauerstoffsättigung vielleicht nicht sofort als Stressreaktionen bei Neugeborenen. Um diese Anzeichen als Stressreaktionen zu erkennen, bedarf es einer genauen Kenntnis der neurologischen Entwicklung dieser Patient(inn)engruppe. Möglicherweise nimmt er die Gewichtszunahme als positiv wahr, ohne zu erkennen, dass sie unterhalb des Normbereichs für diese Altersgruppe liegt, was darauf hindeutet, dass Samuel mehr Kalorien verbraucht als er zu sich nimmt.
Mit dem entsprechenden Wissen über neonatales Wachstum und Entwicklung würde James diese Stressreaktionen und Wachstumsprobleme jedoch erkennen können. Die Anzeichen deuten nämlich darauf hin, dass der Säugling Schwierigkeiten hat, die Nahrungszufuhr zu tolerieren und nicht genügend Kalorien für ein normales Wachstum aufnimmt. Mit den richtigen Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis könnte James Diagnosen in Betracht ziehen, die u. a. mit der neurologischen Entwicklung, der Stressreaktion und der Ernährung zusammenhängen, um auf dieser Grundlage weitere Untersuchungen zu veranlassen.
Um in diesem Kontext eine Diagnose zu stellen, sind eine ganzheitliche Datensammlung, eine fundierte Interpretation (Schlussfolgerungen), die Anwendung klinischer Fachkenntnisse und ein umfassendes disziplinäres Wissen erforderlich, was die Komplexität der neonatologischen Versorgung auf der Neugeborenen-Intensivstation unterstreicht.
Der Prozess der Diagnosestellung unterscheidet sich von dem der Dokumentation der Diagnose. Die Diagnosestellung ist ein kognitiver Prozess, während die Dokumentation den Pflegefachkräften als Mechanismus dient, um klinische Entscheidungsfindungen und Beurteilungen (Diagnosen) auf standardisierte Weise zu übermitteln und so eine nahtlose Kommunikation innerhalb des interdisziplinären Gesundheitsteams zu ermöglichen.
Standardisierte Begriffe tragen entscheidend dazu bei, dass alle Mitglieder des Pflegeteams die pflegerischen Belange der jeweils betroffenen Person sowie den Behandlungsplan umfassend verstehen und einheitlich dokumentieren können. Die Verwendung von standardisierten und kodierten Begriffen unterstützt auch Forschungsbemühungen, indem sie die Untersuchung von Patient(inn)enverhalten ermöglicht, die an verschiedenen Standorten, in verschiedenen Pflegeeinrichtungen und sogar in verschiedenen Ländern identische Definitionen und diagnostische Indikatoren aufweisen.
Durch die Einführung einer standardisierten Terminologie zur Beschreibung klinischer Beurteilungen und Interventionen wird die Konsistenz zwischen den verschiedenen Disziplinen des Gesundheitswesens (Pflege, Medizin, Physiotherapie, Psychologie und andere) gewahrt. Dieser einheitliche Ansatz gewährleistet eine wirksame Kommunikation und fördert ein gemeinsames Verständnis der Patient(inn)enversorgung in verschiedenen Gesundheitseinrichtungen.
1.2 Die Fachdisziplin Pflege
In der Pflegepraxis geht es darum, tatsächliche oder potenzielle individuelle, familiäre oder gemeinschaftliche Reaktionen auf Gesundheitsprobleme oder Lebensprozesse zu bewerten, zu diagnostizieren und zu bewältigen. Diese klinischen Beurteilungen, die als Pflegediagnosen bezeichnet werden, bilden die Grundlage für die Auswahl von Pflegeinterventionen, die darauf abzielen, Ergebnisse zu erreichen, für die die Pflegefachkräfte verantwortlich sind. Während die meisten Menschen mit medizinischen Diagnosen vertraut sind – der Identifizierung von Krankheiten oder Verletzungen, die die Anzeichen und Symptome einer Person erklären (Hansbauer, 2021) – ist vielen nicht bewusst, dass auch Pflegefachpersonen Diagnosen stellen. Interessanterweise behaupten einige Pflegefachpersonen in der heutigen Praxis, dass sie keine Pflegediagnosen stellen, sondern sich stattdessen strikt an ärztliche Anweisungen halten...
Erscheint lt. Verlag | 20.11.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Pflege |
ISBN-10 | 3-89752-169-5 / 3897521695 |
ISBN-13 | 978-3-89752-169-8 / 9783897521698 |
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Größe: 3,2 MB
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