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Sterbebegleitung und Patientenverfügung - Stephan Sahm

Sterbebegleitung und Patientenverfügung

Ärztliches Handeln an den Grenzen von Ethik und Recht

(Autor)

Buch | Softcover
265 Seiten
2006
Campus (Verlag)
978-3-593-38179-4 (ISBN)
CHF 53,20 inkl. MwSt
Kultur der Medizin Geschichte - Theorie - Ethik Herausgegeben von Andreas Frewer
Viele Menschen fürchten sich vor einer grenzenlosen medizinischen Behandlung am Ende ihres Lebens. Dabei wird übersehen:Einschränkungen etwa lebenserhaltender Maßnahmen gehören längst zur Routine des ärztlichen Alltags. Doch wer soll entscheiden? Stephan Sahm beleuchtet Fragen der Sterbebegleitung, konfrontiert die rechtliche Sicht mit der modernen Medizinethik, zeigtWidersprüche in der Rechtsprechung auf und verbindet seine Analyse mit einer Kritik an der aktiven Sterbehilfe. Besonders das Instrument der Patientenverfügung unterzieht er dabei einer genaueren Betrachtung.

Stephan Sahm, Dr. med., ist Chefarzt am Ketteler Krankenhaus in Offenbach und schreibt regelmäßig zu medizinethischen Themen in der FAZ.

Inhalt
Vorwort 11
1Einführung14
1.1Medizin am Lebensende 14
1.2Selbstbestimmung am Lebensende und die Frage der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen 22
1.3Fragestellungen und Gegenstand der Untersuchung25
2Widerstreitende Begriffe in Judikatur und medizinethischen Dokumenten der Ärzteschaft 29
2.1Rechtliche Einordnung medizinischer Handlungen am Lebensende 31
2.2Die Beschreibung medizinischer Handlungen am Lebensende in den Dokumenten der Ärzteschaft33
2.3Kritik der Konzepte der passiven und der indirekten Sterbehilfe 35
2.4Alternative Konzepte zur Beschreibung ärztlicher Handlungen am Lebensende 42
3Kritik der aktiven Sterbehilfe und des ärztlich assistierten Suizids 49
3.1Kritik der Gleichsetzung von Therapiebegrenzung und aktiver Sterbehilfe50
3.2Kritik der aktiven Sterbehilfe53
3.3Kritik der ärztlich assistierten Selbsttötung61
4Selbstbestimmung am Lebensende und ihre Grenzen64
4.1Autonomie und medizinische Indikation 64
4.2Medizinische Indikationsstellung: Pflicht zur Transparenz 67
4.3Medizinische Indikationsstellung als dialogischer Prozeß68
4.4Heteronome Aspekte der Selbstbestimmung und Grenzen der Autonomie des kranken Menschen69
5Exkurs: Künstliche Ernährung am Lebensende 73
5.1Ernährungstherapie bedarf einer Indikation73
5.2Grenzen der Ernährungspflicht76
6Die Patientenverfügung 79
6.1Politische und gesellschaftliche Entwicklungen79
6.2Formen der Vorabverfügung 81
6.3Handhabung und Rechtslage in anderen Ländern83
6.4Rechtslage in Deutschland85
6.5Medizinethische Aspekte89
6.6Angehörige als natürliche Stellvertreter91
7Akzeptanz von Patientenverfügungen
Eine empirische Untersuchung95
7.1Fragestellung 97
7.2.Methodik 98
7.3 Ergebnisse 117
7.4Diskussion der empirischen Befunde 151
8Ein Resümee177
8.1Medizinische Handlungen am Lebensende: Analyse und Kritik177
8.2Die empirische Untersuchung zur Verbreitung und Akzeptanz von Patientenverfügungen183
9Eine Alternative: der umfassende Versorgungsplan (advanced care planning)187
10Literatur194
11Anhang: Dokumente zur Medizinethik 211
Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung212
Deklarationen des Weltärztebundes zu medizinischen Handlungen am Lebensende218
Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende. Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften)219
AMA-Policy: Stellungnahmen der American Medical Association zu medizinischen Handlungen am Lebensende225
Stellungnahme der British Medical Association zur Sterbehilfe (Assisted Dieing) vom Juni 2005231
Zwischenbericht Patientenverfügungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Ethik und Recht der modernen Medizin (Kurzfassung)232
Stellungnahme des Nationalen Ethikrates Patientenverfügung - ein Instrument der Selbstbestimmung (Auszug)241
Patientenautonomie am Lebensende. Ethische, rechtliche und medizinische Aspekte zur Bewertung von Patientenverfügungen. Bericht der Arbeitsgruppe "Patientenautonomie am Lebensende" (Auszug)245
12Register258

Erwünscht, aber nicht gewollt
"Die Ergebnisse der Studie sind eine kleine Sensation." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.03.2007)

Leseprobe: Die Grenzen medizinischer Behandlung am Lebensende zu bestimmen, zählt seit Einführung der Intensivmedizin zu den großen ethischen Herausforderungen. Die Pflicht zum Lebenserhalt stößt an ihre Grenzen, wo vielmehr der Verzicht auf lebensverlängernde Behandlung bei Sterbenden geboten ist. Das Postulat, ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen, und die Verpflichtung, das Leben zu schützen und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten, umgrenzen das Spannungsfeld, in dem sich die Problematik medizinischer Behandlung am Lebensende entfaltet. Diesen divergierenden Ansprüchen gerecht zu werden, ist schwierig. Vieles spricht dafür, daß Patienten an ihrem Lebensende häufig "übertherapiert" werden. Eine solche Übertherapie kann Leiden vermehren und steht nicht selten im Widerspruch zum Willen der Betroffenen. Sie muß, und sei sie in der vermeintlich guten Absicht ausgeführt, nichts unversucht zu lassen, zu den Fehlern der ärztlichen Kunst gerechnet werden. Als Fehler der ärztlichen Kunst werden fehlerhaft durchgeführte Eingriffe in Diagnostik und Therapie oder Versäumnisse bei der Aufklärung angesehen. daß aber eine übermäßige Behandlung ebenso gegen etablierte medizinische Regeln verstößt, wird von Ärzten oft nicht erkannt. Die Behauptung, Übertherapie sei ein Kunstfehler, bezieht sich mithin auf die Medizin als praktische Wissenschaft und gilt ungeachtet juristischer Bewertung. Es gehört zu den zentralen ärztlichen Aufgaben, das richtige Maß medizinischer Behandlung am Lebensende zu bestimmen. Dies betrifft nicht nur die Frage der medizinischen Effektivität einzelner Maßnahmen. Grundlage jedes Urteils über das angemessene Ausmaß der Behandlung muß auch das Wissen um die ethischen und rechtlichen Grenzen sein. Weder die rechtlichen Regelungen (etwa das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland) noch Ethik und Moral gebieten einen Lebenserhalt um jeden Preis. Ärzte sind nicht verpflichtet, immer alle verfügbaren Mittel für die Erhaltung des Lebens einzusetzen. Vielmehr folgt aus den Bestimmungen des Grundgesetzes ein Recht auf menschenwürdiges Sterben. Daneben muß jede Entscheidung über eine medizinische Behandlung das Recht auf Selbstbestimmung des Menschen beachten. Es zählt zu den satzungsmäßigen Aufgaben der Bundesärztekammer, ein privatrechtlicher Zusammenschluß der Landesärztekammern, auf einheitliche Regelungen der Berufspflichten hinzuwirken. Dazu kann sie sich verschiedener Instrumente bedienen, etwa der Richtlinien, die jedoch erst durch Beschluß der Landesärztekammern - aufgrund der jeweiligen Landesheilberufsgesetze - berufsrechtlich relevant werden. Daneben existieren weitere Handlungsformen wie Leitlinien oder Empfehlungen. Doch Richtlinien schaffen kein Gesetz, ersetzen auch nicht ärztliches Standesrecht. Aber die Rechtsprechung verweist vielfach auf medizinethische Äußerungen der Ärzteschaft, nicht zuletzt der Bundesärztekammer. So wird etwa in einschlägigen Urteilen des Bundesgerichtshofes aus den Jahren 1994 und 2003 ausführlich auf Stellungnahmen der Bundesärztekammer Bezug genommen. Insofern vermögen Dokumente der Medizinethik auf die Rechtsprechung wesentlichen Einfluß zu nehmen. In diesem Sachverhalt verwirklicht sich, was als eine Kontrollfunktion medizinethischer Reflexion für die Entwicklung des Rechts bezeichnet werden kann. Die Bundesärztekammer hat, ebenso wie die ärztlichen Standesorganisationen anderer Länder, mehrfach zu den ethischen Fragen der Behandlung am Lebensende Stellung genommen. 1979 veröffentlichte die Kammer Richtlinien für die Sterbehilfe. Sie wurden 1993 überarbeitet und unter dem Titel Richtlinien für die Sterbebegleitung publiziert. Bereits wenige Jahre später schien eine erneute Überarbeitung notwendig. Anlaß waren die Entwicklung der Rechtsprechung in Deutschland und die internationale Diskussion über die Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe. Die Gesellschaft im Ganzen, in besonderer Weise aber die Ärzteschaft, sieht sich mit einer Herausforderung konfrontiert, der sie sich nicht leicht entziehen kann. Im Jahr 1997 präsentierte die Bundesärztekammer den Entwurf eines Dokumentes, der die ethischen Grundsätze und Positionen der Ärzteschaft zur Sterbebegleitung neuerlich zusammenfaßte. Die Ärzteschaft wollte damit ihre ethische Position ausdrücklich der öffentlichen Kritik stellen. Dieser Vorgang selbst ist bemerkenswert. Denn erstmalig veröffentlichte die Kammer ein bioethisches Dokument im Entwurf noch vor seiner Verabschiedung und gab so den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen Gelegenheit zur Kritik. Nach eingehender Diskussion wurden schließlich die Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung im Herbst 1998 verabschiedet. Im Jahre 2004 wurden die Grundsätze novelliert, wobei nur wenige und geringfügige Änderungen des Textes vorgenommen wurden. Die der Veröffentlichung der Grundsätze vorausgehende Debatte wurde kontrovers geführt und fand auch in den Medien ihren Niederschlag. , Einige Kritiker warfen der zuständigen Kommission der Bundesärztekammer vor, die Tür zur aktiven Sterbehilfe geöffnet zu haben. So wurde etwa behauptet, die Ärzteschaft strebe eine Änderung ihrer Haltung zur Sterbehilfe an. Der Vorwurf bezog sich auf eine Passage des Entwurfes, der sich mit der Frage der künstlichen Ernährung bei Patienten in einem persistent vegetative state, das heißt dem Wachkoma, befaßte. Vornehmlich Vertreter von Patientenorganisationen, die sich für deren Rechte einsetzen, kritisierten die entsprechende Formulierung. Die Kritiker befürchteten einen ethischen Dammbruch. Die Anschuldigung, die Ärzteschaft beschreite in ihren Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung einen Weg, der hin zur Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe führe, erwies sich jedoch als haltlos. Doch dokumentiert sich in dieser Verlautbarung ein bemerkenswerter konzeptioneller Wandel, der in der öffentlichen Debatte und der akademisch geführten Diskussion bislang noch wenig wahrgenommen wird. Die Ärzteschaft lehnt in den Grundsätzen die aktive Sterbehilfe eindeutig ab. Die Abgrenzung zwischen Therapieverzicht bzw. Beendigung spezifischer Therapiemaßnahmen und aktiver Sterbehilfe wird allerdings in eine neuartige begriffliche Konzeption gefaßt. Die medizinethische und rechtswissenschaftliche Literatur, geschweige denn die Rechtsprechung, hat diese Entwicklung bislang nur unzureichend zur Kenntnis genommen. Angesichts der nicht selten dramatischen Konflikte, denen sich Patienten, Angehörige und Behandlungsteams bei der Entscheidung über das Ausmaß medizinischer Behandlung am Lebensende ausgesetzt sehen, verdienen diese von der Ärzteschaft verwendeten Begriffe und Konzeptionen aber eine eingehende ethische Analyse. Es waren nicht zuletzt aufsehenerregende Rechtsfälle, die es notwendig erscheinen ließen, die Haltung der Ärzteschaft zu Fragen der Sterbehilfe neu zu formulieren. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht der so genannte Kemptener Fall. Der Arzt einer siebzig Jahre alten Patientin im Wachkoma und deren Sohn wollten die bislang durchgeführte künstliche Ernährung beenden. Eine Verbesserung des Zustandes der Patientin war nach übereinstimmender Ansicht der behandelnden Mediziner nach zweijährigem Verlauf nicht mehr zu erwarten. Die Entscheidung, die Ernährung abzubrechen, trafen der Sohn der Patientin und der behandelnde Arzt gemeinsam. Sie unterschrieben beide einen entsprechenden Vermerk in der Krankenakte, der die Anweisung an die Pflegenden enthielt, die Ernährung nicht länger fortzusetzen. Beide gingen davon aus, daß sich das Pflegepersonal an die Anweisung halten würde. Der Pflegedienstleiter rief jedoch das Vormundschaftsgericht an. Das Gericht entschied, daß die Ernährung fortzuführen sei. Daraufhin stellte der behandelnde Arzt dennoch die Behandlung ein. Die Patientin verstarb an einer akuten Komplikation ihrer Lungentätigkeit. Nach Schilderung des Falles in den Urteilen der Gerichte verwundert zunächst die Art und Weise, wie der Sohn der Betroffenen und der Arzt ihre Entscheidung den Pflegenden übermittelten - allein durch einen Eintrag in der Krankenakte. Hier liegt ein eklatantes Versagen der Kommunikation vor. Dessen ungeachtet ist aber die strafrechtliche Bewertung bedeutsam. Der behandelnde Arzt und der Sohn der Patientin wurden in erster Instanz wegen versuchten Totschlages verurteilt. Das Urteil wurde jedoch später vom Bundesgerichtshof mit der Begründung aufgehoben, der mutmaßliche Wille der Betroffenen sei in den Urteilen der Vorinstanz nicht hinreichend berücksichtigt worden. Damit wurde erstmalig in der Rechtsprechung das juristische Konstrukt des mutmaßlichen Willens als Kriterium zur Entscheidung über die Beendigung einer lebenserhaltenden Behandlung höchstrichterlich anerkannt. Nicht unerwartet wurden die Ausführungen des Gerichts in der Folge heftig kritisiert. Dabei wurde u.a. auf die Differenz zwischen mutmaßlichem Willen und erklärtem Willen hingewiesen. Die Kritiker bezweifelten insbesondere, ob Mutmaßungen über den Willen einer nicht einwilligungsfähigen Person an die Stelle einer Willenserklärung treten können. Ein zweites Urteil war nicht minder bedeutsam: Das Oberlandesgericht in Frankfurt am Main hatte 1998 über einen ähnlich gelagerten Fall in einem Zivilverfahren zu entscheiden. Die zur Betreuerin bestellte Tochter einer Patientin in dauerhaftem Wachkoma verlangte die Beendigung der künstlichen Ernährung. Das Behandlungsteam bestand darauf, die Zustimmung des Vormundschaftsrichters einzuholen. Hintergrund der Fragestellung ist die Regelung des §1904 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Danach unterliegt die Einwilligung eines Betreuers in eine potentiell lebensbedrohliche medizinische Behandlung einer Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht. Nur in Notfällen kann darauf verzichtet werden. Ob diese Bestimmung auch für die Ablehnung einer lebenserhaltenden Maßnahme durch einen Betreuer Geltung haben müsse, war rechtlich umstritten. In erster Instanz wies das Amtsgericht das Begehren zurück, da nach seiner Ansicht die Rechtsgrundlage fehlte. Das Oberlandesgericht entschied dagegen im Beschwerdeverfahren, daß das Vormundschaftsgericht vor einer beabsichtigten Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen angerufen werden müsse. Dieses Urteil wurde höchst unterschiedlich bewertet und kontrovers diskutiert. Manche Autoren und auch Vertreter von Selbsthilfegruppen fürchteten einen Einstieg in die Praxis der aktiven Sterbehilfe, wenn Richter regelmäßig gezwungen seien, Entscheidungen über die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen zu treffen. Andere beklagten dagegen eine unzulässige Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts von Patienten, deren Wille - etwa bei Vorliegen schriftlicher Aufzeichnungen - offensichtlich mißachtet werde, sofern nicht die betreuenden Personen ihm zu folgen verpflichtet wären. Da andere Oberlandesgerichte in ähnlichen Fällen keine Pflicht gegeben sahen, eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung einzuholen, wurde die Frage im Jahr 2003 dem Bundesgerichtshof vorgelegt. Dessen Urteil fand einen höchst widersprüchlichen Nachhall in der Öffentlichkeit und der akademischen Kritik. Denn die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen wurde zwar formal gestärkt, gleichzeitig aber inhaltlich eingeschränkt. Im Urteil heißt es, daß die Entscheidungsmacht eines Betreuers mit der eines einwilligungsfähigen Patienten nicht deckungsgleich sei. Der Senat des Bundesgerichtshofes erachtete es als notwendig, vor Beendigung einer lebenserhaltenden Behandlung eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung einzuholen. Ob das Vormundschaftsgericht nur dann anzurufen sei, wenn Behandlungsteams und Patientenvertreter keine Einigung erzielen können, oder grundsätzlich bei jeder Entscheidung über die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen, wenn Patienten nicht selbst entscheiden können, wurde von den Interpreten des Urteils unterschiedlich beurteilt. Nach der Veröffentlichung des Urteils setzte eine intensive Debatte zu Fragen der Sterbehilfe und zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen ein. Die Besonderheiten dieses Urteils und ihre Bedeutung für die Diskussion um die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen werden im Abschnitt 6.4 ausführlich behandelt. Für die aktuelle Diskussion sind auch die Entwicklungen in den Nachbarländern Belgien und Niederlande, die in Gesetzen die aktive Sterbehilfe liberalisierten, und die daran anschließenden weltweiten Debatten darüber von großer Bedeutung. Die vorübergehende Freigabe der aktiven Sterbehilfe im Northern Territory Australiens und die Liberalisierung der ärztlich assistierten Selbsttötung im US-Bundesstaat Oregon wurden ebenso aufmerksam verfolgt. In der Schweiz hat nach langer, heftiger Diskussion die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften im Jahre 2004 ihre Stellungnahme zum ärztlich assistierten Suizid geändert. Bislang hatte sie die Beihilfe zur Selbsttötung abgelehnt. Es hieß, "Beihilfe zum Suizid ist kein Teil der ärztlichen Tätigkeit." Diese eindeutige Aussage wurde nun geringfügig, aber entscheidend modifiziert. In der Überarbeitung ihrer Richtlinie zur Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende verweist die Schweizerische Akademie ausdrücklich auf die Rechtslage im Nachbarland. Nach Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuches ist die Beihilfe zum Suizid straflos, wenn sie ohne selbstsüchtige Motive erfolgt. In der neuen Version der Richtlinie heißt es nun: "Es ist nicht seine Aufgabe [des Arztes, Hinzufügung des Autors], von sich aus Suizidbeihilfe anzubieten, sondern er ist im Gegenteil dazu verpflichtet, allfälligen Suizidwünschen zugrunde liegende Leiden nach Möglichkeit zu lindern. Trotzdem kann am Lebensende in einer für den Betroffenen unerträglichen Situation der Wunsch nach Suizidbeihilfe entstehen und auf Dauer bestehen bleiben". In diesen Fällen sieht die Schweizerische Akademie nun unter Umständen einen schwer lösbaren Konflikt für den Arzt. Auf der einen Seite sei Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit, weil sie deren Zielen widerspreche. Demgegenüber stehe die Verpflichtung, den Willen der Patienten zu achten. Die Schweizerische Akademie spricht von einer "Dilemmasituation". In einer solchen Situation müßten Ärzte eine persönliche Gewissensentscheidung treffen. Und wenn ein Arzt im Einzelfall Beihilfe zum Suizid leiste, sei eine solche Entscheidung zu respektieren. Eine Pflicht zur Suizidbeihilfe wird abgelehnt. Sofern sich der Arzt aber dazu entschließe, habe er eine Reihe von Voraussetzungen zu beachten. Dazu gehört die Prüfung, ob ein Patient dem Lebensende nahe ist und alternative Handlungsmöglichkeiten und Zielvorstellungen erörtert worden sind. Die Tötung auf Verlangen lehnt die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften ab. Besonders kontrovers wird in der Schweiz in dieser Hinsicht die Suizidbeihilfe bei psychisch Kranken diskutiert. Diese Diskussion wurde durch die Aktivitäten zweier Vereinigungen angeregt, die Suizidhilfe offerieren. Der Verein "Exit - Vereinigung für humanitäres Sterben" wurde bereits 1982 gegründet, 1998 folgte die Organisation "Dignitas". Beide Vereinigungen bieten ihren Mitgliedern gegen eine Aufnahmegebühr und einen Jahresbeitrag Unterstützung bei der Selbsttötung an. In einer Reihe gut dokumentierter Fälle wurde offensichtlich psychisch kranken Menschen bei der Ausführung eines Suizids geholfen. , Im Jahre 2005 hat Dignitas ein Büro in Hannover gegründet. Bislang sind in Deutschland politische Bemühungen gescheitert, die Aktivitäten des Vereins gesetzlich zu untersagen. Allein durch ihre Präsens hat die Organisation aber auch in Deutschland die gesellschaftliche Debatte über Fragen medizinischer Handlungen und ihrer Grenzen am Lebensende erneut entfacht. Die Standesvertretung der Ärzte Großbritanniens, die British Medical Association, hat kürzlich ihren Widerstand gegen jede Form aktiver Sterbehilfe und ärztlicher Hilfe bei der Selbsttötung aufgegeben. Sie hat - für viele überraschend - eine neutrale Position eingenommen. Im Juli 2005 wurde auf der Jahresversammlung ein Antrag gebilligt, in dem die britische Ärzteschaft eine eigene ethische Stellungnahme verweigert. Die Ärzte Englands wollen Entscheidungen über die ärztlich assistierte Selbsttötung der gesellschaftlichen Debatte und dem Parlament überlassen. In der Entschließung heißt es, die British Medical Association sollte Änderungen des Strafrechts nicht ablehnen, sondern allein darauf drängen, daß durch entsprechende Richtlinien Patienten und Ärzte geschützt werden, die an diesen Handlungen nicht mitwirken wollen. Die Annahme dieser Entschließung hat in England heftige Diskussionen ausgelöst. Dies ist aus Sicht der Medizinethik verständlich. Die Beschäftigung mit den ethischen Grundlagen ärztlichen Handelns und die Rechtfertigung eines ethischen Standpunktes gehört seit der Antike zu den vornehmsten Aufgaben ärztlicher Berufsausübung. Die lange Geschichte professioneller ethischer Kodizes legt davon Zeugnis ab. Die Verweigerung einer Stellungnahme und Einnahme eines neutralen Standpunktes in einer zentralen Frage ärztlicher Tätigkeit ist aber selbst nicht ethisch neutral.

Erscheint lt. Verlag 6.11.2006
Reihe/Serie Kultur der Medizin ; 21
Zusatzinfo 10 Grafiken
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 142 x 214 mm
Gewicht 377 g
Themenwelt Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete
Studium 1. Studienabschnitt (Vorklinik) Med. Psychologie / Soziologie
Schlagworte HC/Medizin/Klinische Fächer • Medizinethik • Medizinische Ethik • Medizinsoziologie • Patientenverfügung • Sterbebegleitung • Sterbehilfe • Sterben • Tötung auf Verlangen
ISBN-10 3-593-38179-6 / 3593381796
ISBN-13 978-3-593-38179-4 / 9783593381794
Zustand Neuware
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