Weißbuch Freitodbegleitung (eBook)
180 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-044393-8 (ISBN)
Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben e. V. mit Sitz in Berlin. Die DGHS setzt sich seit ihrer Gründung im Jahr 1980 dafür ein, die Bedingungen für Schwerstkranke und Sterbende in Deutschland zu verbessern und deren Menschenwürde und Selbstbestimmung beim Sterben zu erhalten.
Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben e. V. mit Sitz in Berlin. Die DGHS setzt sich seit ihrer Gründung im Jahr 1980 dafür ein, die Bedingungen für Schwerstkranke und Sterbende in Deutschland zu verbessern und deren Menschenwürde und Selbstbestimmung beim Sterben zu erhalten.
1 Reflexionen zur Rolle der Freiverantwortlichkeit bei Selbsttötung und Suizidassistenz
»Dass noch der Konservativste die Radikalität des Sterbens aufbringt!«
Franz Kafka (1995, S. 242)
Dass die Thematik der Suizidassistenz seit dem Verfassungsgerichtsurteil von 2020 nicht mehr juristisch mit dem Stempel der Illegalität versehen werden kann, macht ein wichtiges Element des gesellschaftlichen Umgangs mit der Thematik aus. Ein anderer Blickwinkel, der von der Frage: »Ist es möglich, auf legale Weise Suizidassistenz zu erhalten?« ausgehend auf eine konkretere Ebene abzielt, präzisiert: »Unter welchen Bedingungen ist es möglich, Suizidassistenz zu erhalten?« Ein Begriff, der, wenn es um solche Bedingungen geht, eine unverzichtbare Rolle im vorgenannten Urteil einnimmt, ist die Freiverantwortlichkeit, genauer: die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung eines Menschen für die Inanspruchnahme einer Suizidassistenz. Sogleich können sich verschiedene Fragen anschließen: Wann liegt denn Freiverantwortlichkeit vor – und wann kann sie in Zweifel gezogen werden? Worauf bezieht sie sich bei einer Freitodbegleitung? Sind freiverantwortliche Suizide denn überhaupt möglich? Sind sie moralisch verwerflich, selbst wenn sie freiverantwortlich sein sollten? Es ließen sich noch viele weitere Fragen formulieren. Die folgenden Erörterungen können allerdings nur einen kurzen Streifzug unternehmen und Ausschnitte der umfassenden, oft in interdisziplinäres Terrain reichenden Debatten behandeln; sie sollen sich nicht an einer vermeintlichen »großen Lösung« verheben, sondern bleiben fragmentarische Reflexionen zu einigen philosophischen und psychologischen Dimensionen der umfangreichen Thematik.
1.1 Die Phalanx der Ablehnung; die Existenz der Befürwortung
Zunächst lassen sich einige grundsätzliche ablehnende Haltungen gegen die freiverantwortliche Umsetzung einer Selbsttötung adressieren, die allein schon aufgrund ihrer Wirkung in den mit dieser Thematik befassten Bereichen der Wissenschafts- und Geistesgeschichte zum Verständnis der bis heute von konträren Standpunkten bestimmten Diskussion von Relevanz sind – wobei aber auch befürwortende Stimmen nicht ignoriert werden sollen.
Natürlich aber können sie schwerlich übergangen werden: die vielen Generalverbote, von der Antike bis in den heutigen Tag reichend, die von vornherein jeder aktiven Umsetzung individueller Sterbewünsche eine Absage erteilen, meist aus einer moralischen oder religiösen Position heraus, und die einer Einschätzung zu Fragen von Freiverantwortlichkeit und Selbstbestimmtheit des Sterbens bereits die Diagnose der Unverantwortlichkeit jeglicher Selbsttötung und mehr noch – wenn sie überhaupt noch Erwähnung findet – jeglicher Form von Suizidassistenz vorschalten. Ein klassisch zu nennendes Suizid- und Suizidassistenzverbot, dessen Echo wir auch heute noch antreffen können, paraphrasiert Lacina (2009, S. 74) wie folgt:
»Die mittelalterliche ars moriendi bezeichnet das rechte Sterben im Vertrauen auf Gott, der über Leben und Tod der Menschen verfügt. Niemandem stand es nach christlicher Auffassung zu, über das Ende seines eigenen Lebens zu entscheiden. Mit dem Tötungsverbot als zentrale ethische Bestimmung wurde auch die Lebensverkürzung mit ärztlicher Hilfe untersagt. Krankheit und Leiden waren Prüfungen Gottes und sollten ertragen werden.«
Solche und ähnliche Präskriptionen, die anderen Menschen paternalistisch vorschreiben, unabhängig von der Frage der Freiverantwortlichkeit des Sterbewunsches, einen solchen keinesfalls in die Tat umsetzen zu dürfen, da Leben zu geben und zu nehmen allein göttliches Vorrecht darstellt, finden sich in der europäischen Kulturgeschichte von (moral)philosophischer und religiöser Seite seit vielen Jahrhunderten. Es sind im Kern scharf ablehnende Haltungen gegenüber der doch fraglos gegebenen Möglichkeit des Menschen, sein Leben eigenhändig zu beenden.
Als eine der wenigen Ausnahmen in der Plethora der kategorischen Ablehnung jeder Selbsttötung ist – wenn man so will, im Sinne einer Existenzaussage – zumindest die philosophische Schule der Stoiker anzuführen. In dieser wurde das Weiterleben um des Weiterlebens willen nicht zum Prinzip erhoben, sondern folgendes erkannt: »Leben und Tod an sich sind indifferent, Adiaphora. Wert gibt ihnen erst ihr Vollzug. Stoisches Denken ist qualitativ. Nicht Lebensdauer, Lebensintensität entscheidet. Sinnvolles Leben bestimmt sich so als höchstmöglicher Selbstvollzug, der Freude macht« (Hammer 1975, S. 61). Ist ein sinnvolles, erfülltes Leben nicht mehr in der Praxis umsetzbar, so wird die Selbsttötung durch eine freie und vernünftige Entscheidung »zu seinem gewollten Ende, das mehr ist als stumpfes Verdämmern« (a. a. O., S. 62). Der freiverantwortliche und selbstbestimmte Suizid ist somit an sich betrachtet kein Übel. Sterben und Tod des Individuums sind Teil der Ordnung des Weltganzen, in dem alles Sein in kontinuierlichem Wandel ist – sodass Marc Aurel (1992, S. 57) affirmierend anmerken kann: »Als ein Teil des Ganzen hast du bisher existiert, und du wirst verschwinden in dem, was dich erzeugt hat. Vielmehr du wirst nach dem Gesetz der Umwandlung zurückgenommen werden in den Lebenskeim der Welt.«1
Vereinzelt lassen sich also geistesgeschichtliche Positionen ausmachen, die die Legitimität einer freiverantwortlichen Selbsttötung zumindest nicht ausschließen – allerdings gibt es in der Neuzeit für jeden Hume, der darzulegen versucht, dass »es sich beim Freitod um keine Pflichtverletzung gegenüber Gott handelt« (Hume, 2018, S. 10), mindestens einen Kant, der die individuelle Entscheidung zur Selbsttötung nicht akzeptieren kann, weil deren Verallgemeinerung zwecks Untersuchung der Tauglichkeit als Maxime ergäbe, dass letztere »dem obersten Prinzip aller Pflicht gänzlich widerstreite« (Kant 2011, S. 55).
Selbst wenn sich der Diskurs zum selbstbestimmten Sterben sowohl gesamtgesellschaftlich als auch in den beteiligten Fachwissenschaften in den letzten Jahrzehnten zu einem gewissen Grad liberalisiert hat, konnten historisch ablehnende Haltungen zu Suizid und Suizidassistenz lange dominieren; und sie wirken in der Gegenwart noch spürbar nach. Dennoch können sie allesamt keinen legitimen Anspruch auf Allgemeingültigkeit stellen. Menschen mit einer bestimmten religiösen (oder analog dazu: einer bestimmten moralischen) Überzeugung etwa sind frei, individuell den jeweiligen Suizidverboten zu folgen, doch in »einer pluralistischen Gesellschaft, in der Gläubige und Ungläubige zusammenleben müssen, lässt sich [...] durch religiöse Überzeugungen weder ein allgemeines moralisches noch ein rechtliches Verbot begründen. Wenn es überhaupt allgemein verbindliche Gründe für das Verbot der Selbsttötung geben sollte, dann müssten diese unabhängig von der Religion sein« (Wittwer 2009, S. 87).
Philosophischen oder einzelwissenschaftlichen Behauptungen, jegliche Selbsttötung des Menschen verstoße gegen dessen »Wesen« und sei »widernatürlich«, kann an dieser Stelle ebenfalls eine Absage erteilt werden, wie Wittwer verdeutlicht: »Unter den wesentlichen Eigenschaften einer Gegenstandsklasse versteht man gewöhnlich die Eigenschaften, die für diese Klasse konstitutiv sind. Nun ist es aber ganz offensichtlich eine allgemein menschliche und spezifisch menschliche Eigenschaft, dass Menschen sich töten können, weil sie ihren Tod begrifflich antizipieren und handeln können. Es kann also keine Rede davon sein, dass der Suizid gegen das Wesen des Menschen ,verstoße' und in diesem Sinn unnatürlich sei« (a. a. O., S. 88). Damit wird keineswegs jegliches menschliche Verhalten legitimiert, da es nicht um einzelne Handlungen, sondern um einen Grundbestandteil der menschlichen Existenz geht, und nur der menschlichen, denn die »Möglichkeit der [Selbsttötung] steht nur dem [...] Menschen offen; sie zeigt, dass er nicht einfach da ist, sondern sich zu sich selbst verhält, in diesem Sinne frei ist, dabei eine radikale Verfügungsmacht hat, die ihm auch eine besondere [...] Verantwortung aufbürdet« (Höffe 2008, S. 274). Menschen wissen, dass sie sterben werden und dass sie in der reflexiven Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Existenz absichtsvoll etwas zu tun imstande sind, um den eigenen Tod früher herbeizuführen, als er ohne dieses Handeln eingetreten wäre.
1.2 Suizidalität: Prinzipiell pathologisch – oder auch als freiverantwortlich denkbar?
Nun lässt sich entgegnen, dass spätestens in den letzten Jahrzehnten frühere Haltungen, die einen realisierten oder versuchten Suizid als moralisches Übel herabwürdigten, gesetzlich und gesellschaftlich spürbar weniger relevant geworden sind. Hier haben ohne Frage auch Erkenntnisse aus Psychiatrie, Psycho(patho)logie und...
Erscheint lt. Verlag | 16.10.2024 |
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Zusatzinfo | 5 Abb. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Pflege |
Schlagworte | Rechtsprechung • Sterbehilfe • Sterben |
ISBN-10 | 3-17-044393-3 / 3170443933 |
ISBN-13 | 978-3-17-044393-8 / 9783170443938 |
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