Kurzlehrbuch Pharmakologie und Toxikologie (eBook)
756 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-245349-4 (ISBN)
1 Pharmakotherapie – Grundlage ärztlicher Tätigkeit
Thomas Herdegen
1.1 Vorbemerkung
Key Point
Die Verordnung von Medikamenten ist Teil der ärztlichen Tätigkeit und leistet einen wesentlichen Beitrag zu einer erfolgreichen Therapie. Die Zunahme der Lebensqualität und -erwartung in den Ländern der ersten Welt beruht auch auf der stetigen Weiterentwicklung effizienter Medikamente. Jedoch können Interaktionen und unerwünschte Nebenwirkungen von Arzneimitteln klinisch relevante Störungen verursachen und selbst wiederum zu Arztbesuchen oder Krankhauseinweisungen führen. Das Nebenwirkungspotenzial und die hohen Kosten einer flächendeckenden Versorgung mit wirksamen Arzneimitteln erfordern daher auch die Fähigkeit, die (fehlende) Notwendigkeit und die (mangelnde) Wirksamkeit einer Verordnung abzuschätzen, erst recht in Zeiten fehlender Verfügbarkeit von Arzneimitteln.
Mehr als 75 % aller Arztbesuche enden mit der Ausstellung eines Rezepts. Damit ist die Verordnung eines Arzneimittels die zahlenmäßig häufigste therapeutische Entscheidung von Ärzt*innen. Die Notwendigkeit, über die Wirkung von Arzneistoffen Bescheid zu wissen, geht weit über das eigene Fach(arzt)gebiet hinaus:
Patient*innen nehmen oft Medikamente, die andere Ärzt*innen verschrieben haben, die keiner Rezeptpflicht unterliegen oder die gar nicht als Arzneimittel wahrgenommen werden, wie pflanzliche Präparate, Elektrolyte und Vitamine, Wirkstoffe für die Schilddrüse oder OTC-Schmerzmittel (over the counter = frei verkäuflich).
Mit steigender Zahl von Medikamenten erhöht sich das Risiko von Arzneimittelinteraktionen und damit auch von unerwünschten Nebenwirkungen. Gerade der letzte Aspekt gewinnt immer mehr an Bedeutung. Bis zu 20 % der Krankenhauseinweisungen auf internistisch-geriatrische Stationen werden auf unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten zurückgeführt (einschließlich Applikations- und Übertragungsfehlern).
Bei aller Kritik und Vorsicht gegenüber Medikamenten darf dennoch nicht übersehen werden, dass die Weiterentwicklung und Neueinführung von Arzneistoffen bedeutend für eine wachsende Lebensqualität und in hohem Maße mitverantwortlich für unsere steigende Lebenserwartung sind. Dazu gehört auch beispielsweise die schnelle Entwicklung der COVID-19-Impfstoffe, die Tausenden das Leben gerettet haben.
Eine differenzierte Sicht bzw. ein solides pharmakologisches Wissen ist auch bei der Einschätzung neuer Medikamente gefordert. Ihre unbekannten Risiken stehen der angeblichen Sicherheit der „altbewährten“ Medikamenten gegenüber.
Die Nutzen-Risiko-Bewertung von Pharmaka muss so sachlich wie möglich durchgeführt werden: Eine „gefühlte“ Sicherheit älterer Medikamente oder eine grundsätzliche Ablehnung von Neuerungen sind fehl am Platz, ebenso ein Generalverdacht gegen die forschende und produzierende Pharmaindustrie. Dennoch sind mehr Studien mit Kindern und Jugendlichen oder mit Älteren anzufordern, da viele Medikamente an diesen Populationen nicht getestet wurden.
1.2 Zielsetzung des Buches
Zunehmende Bedeutung der Pharmakologie in der Ausbildung Die aktuellen Approbationsordnungen für Mediziner*innen und Pharmazeut*innen fordern eine auf die Klinik bzw. Praxis ausgerichtete, intensive Vermittlung von Lerninhalten. Diese klinische Ausrichtung des Faches wird besonders betont im Querschnittsbereich Klinische Pharmakologie und Therapie. Im sog. „Hammerexamen“ haben viele Fragen eine pharmakologische Komponente. Bei den Pharmazeut*innen sind klinisch-pharmazeutische und pharmakologische Lerninhalte und Lehrveranstaltungen neu hinzugekommen oder wurden noch stärker auf die Praxis ausgerichtet.
Einbindung in den klinischen Kontext Die Vermittlung von Wissen über pharmakologische Lehrinhalte muss immer auf die Einbindung in den klinischen Kontext abzielen. Es ist die bewusste Intention der Autor*innen, die über viele Jahrzehnte gelehrte Einteilung in eine allgemeine und spezielle Pharmakologie aufzubrechen. In den ersten Kapiteln werden die Grundlagen pharmakologischer Wirkungen von Arzneistoffen und deren systemische Effekte dargestellt. Die Wirkstoffe werden dann im Einzelnen entweder innerhalb einer chemisch definierten Wirkstoffgruppe (z.B. Penicilline, Benzodiazepine), im Rahmen von klinischen Wirkungen (z.B. Schmerzhemmung, Immunsuppression, Sedierung), im Rahmen von Krankheitsentitäten (z.B. Hypertonie, Diabetes mellitus, Depression) oder orientiert am betroffenen System (z.B. Blut, Gastrointestinaltrakt) behandelt.
Einordnung in den pathophysiologischen Kontext und in klinische Therapieschemata Das pharmakologische Therapiekonzept richtet sich nach der Pathophysiologie der Krankheit – diese Zusammenhänge aufzuzeigen ist ein wichtiges Ziel dieses Lehrbuches. Weiterhin wird versucht, Antworten auf die folgenden Fragen zu geben: Was muss ein Arzneistoff leisten, um klinisch relevante Verbesserungen zu erzielen? Was kann ein Arzneistoff mit seinem (möglichst selektiven) Angriffspunkt im Rahmen einer meist komplexen, multifaktoriellen Pathologie überhaupt leisten?
Chemische Grundlagen Die strukturchemischen Grundlagen und Stoffwechselwege von Wirkstoffen sind bis auf das Notwendigste zurückgenommen. Chemische Reaktionen und Strukturformeln werden dann vorgestellt, wenn sich mit dem chemischen Wissen klinische Wirkungen oder Nebenwirkungen prima vista ableiten lassen bzw. relevante pharmakologische Inhalte besser vermittelt werden können.
Auswahl von Arzneistoffen Bei vielen Medikamentengruppen wurde eine Auswahl der Wirkstoffe getroffen, Auswahlkriterien waren Verordnungshäufigkeit, Bekanntheitsgrad oder bemerkenswerte Stoffeigenschaften. Pro Arzneistoff wird in der Regel neben dem wichtigen Freinamen (international non-propriety name, INN) nur ein registrierter Handelsname angegeben (Auswahl nach Bekanntheitsgrad, Originalpräparat oder Verordnungshäufigkeit).
1.3 Das pharmakologische Denken – wichtige Grundlage im Umgang mit Medikamenten
1.3.1 Verordnung von Arzneistoffen entsprechend dem pathophysiologischen Kontext.
Die ärztliche Therapie handelt entweder kausal oder symptomorientiert. Dies gilt auch für die Pharmakotherapie. Die Auswahl eines Medikamentes sollte sich, sofern möglich, am pathophysiologischen Kontext orientieren, nicht nur an den Krankheitssymptomen. Obwohl die Behandlung von Symptomen die Lebensqualität erheblich verbessern und Krankenhauseinweisungen verhindern kann, bedeutet die Verbesserung der Symptome nicht automatisch die Linderung oder gar Heilung des Krankheitsprozesses bzw. der Krankheit. Dies gilt besonders für chronische Erkrankungen. Beispiele sind Antihypertensiva, orale Antidiabetika oder Lipidsenker, die zwar den Blutdruck, den Blutzucker oder die Blutfette verbessern oder normalisieren können, über diese Normalisierung einzelner Parameter hinaus aber nicht zwingend die Inzidenz von schweren Ereignissen und Krankenhauseinweisungen – oder gar die Letalität – senken; Opioide mindern bei Rückenschmerzen oder Arthrose die Schmerzen, aber verbessern nicht die Beweglichkeit. Andererseits reduzieren cannabinoide Arzneimittel wie THC nicht immer den Schmerz per se, aber verbessern die Lebensqualität bzw. die Patient*innen können besser mit dem Schmerz leben.
Auch bei der Abschätzung von möglichen Nebenwirkungen ist die gesamte Krankheitssituation jenseits des zu behandelnden Ziels zu berücksichtigen, da unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten oft erst durch begleitende Krankheiten (Komorbidität) ausgelöst werden.
1.3.2 ... und im Rahmen einer evidenzbasierten Medizin
Der Stellenwert einer Pharmakotherapie erschließt sich auch aus evidenzbasierten Studien am Menschen. Das kritische Verständnis von Studienergebnissen erfordert ein pharmakologisches Denken, welches Studienziele, ausgewählte Kollektive und Interpretationen von Ergebnissen hinterfragt. Ärzt*innen sollten einerseits Medikamente nur für solche Indikationen verordnen, für die eine therapeutische Wirkung nachgewiesen wurde. Das vorliegende Lehrbuch verweist daher auf klinische Studien. Andererseits muss auch ihre Erfahrung mit Medikamenten in ihre Pharmakotherapie einfließen.
Merke
Die evidenzbasierte Medizin ruht auf drei Säulen: der individuellen klinischen Erfahrung (Erfahrungsheilkunde), den Werten und Wünschen des Patienten/der Patientin und dem aktuellen Stand der klinischen Forschung.
Am Ende eines jeden Kapitels wird auf Empfehlungen von Fachgesellschaften und/oder der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (www.akdae.de) zur rationalen Pharmakotherapie verwiesen. Diese Empfehlungen helfen dabei, den Stellenwert und die Bedeutung der erlernten Wirkstoffe einzuschätzen. Weiterführende Hinweise auf Websites führen zu fachlich anerkannten Quellen, die auch an Leitlinien und sachlichen Informationen für Ärzt*innen und Patient*innen beteiligt sind.
1.3.3 Das Wissen über strukturchemische Eigenschaften
Inwieweit sind für die ärztlichen Verordnungen Kenntnisse über die chemische Struktur von Arzneistoffen notwendig? Es ist nur selten möglich, von der chemischen Struktur und der Metabolisierung auf das pharmakodynamische Wirkprofil zu schließen. Wer kann z.B. aus den Strukturunterschieden der trizyklischen Antidepressiva Amitriptylin,...
Erscheint lt. Verlag | 10.7.2024 |
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Reihe/Serie | Kurzlehrbuch |
Co-Autor | Ruwen Böhm, Peter Gohlke, Juraj Culman, Gerd Luippold |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Pharmakologie / Pharmakotherapie |
Schlagworte | Arzneimittel • Arzneimittelinteraktionen • Intoxikationen • Medikamente • medikamentöse Therapie • Nebenwirkungen • Pharmaka • Pharmakologie • Toxikologie • Wirkstoffe |
ISBN-10 | 3-13-245349-8 / 3132453498 |
ISBN-13 | 978-3-13-245349-4 / 9783132453494 |
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Größe: 28,4 MB
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