Diabetes mellitus im höheren Lebensalter (eBook)
226 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-034192-0 (ISBN)
PD Dr. med. Anke Bahrmann ist Oberärztin am Universitätsklinikum Heidelberg, Klinik für Kardiologie, und Vorsitzende der AG Geriatrie und Pflege der DDG. Dr. med. Jürgen Wernecke ist Chefarzt im Agaplesion Diakonieklinikum in Hamburg und stellv. Vorsitzender der AG Geriatrie und Pflege der DGG.
2 Therapie des Diabetes im Alter
2.1 Individuelle Therapieziele
Anke Bahrmann
Die individuellen Fähigkeiten und Ressourcen älterer Menschen müssen bei der Festlegung der Therapieziele und der Therapie des Diabetes mellitus berücksichtigt werden. Steigerung, Erhalt oder wenn möglich verlangsamter Abbau der Lebensqualität sind die obersten Therapieziele für ältere Menschen mit Diabetes. Neben dem individuellen Patientenwunsch braucht eine realistische und informierte Therapiezielfindung die Berücksichtigung der klassischen Begleiterkrankungen, der Lebenserwartung, der psychosozialen Lebensumstände, der Gesundheitskompetenz und der Funktionseinschränkungen im Sinne der sogenannten geriatrischen Syndrome. Häufig können pflegende Angehörige oder Pflegefachkräfte die Diabetestherapie oder Bereiche davon übernehmen und somit, auch wenn nötig, komplexere Therapieformen wie z. B. die Insulininjektion ermöglichen. Dies ist z. B. bei der Therapie des Typ-1-Diabetes im Alter bedeutungsvoll, wenn auch im hohen Lebensalter schwierigere Insulintherapien oder auch eine Insulinpumpentherapie durchgeführt werden müssen. Bei Auftreten von kognitiven Störungen sollte rechtzeitig überlegt werden, ob und wenn ja, wann es sinnvoll ist, komplexe Therapien zu vereinfachen, damit die Betroffenen diese noch selbständig durchführen können.
Ein vorrangiges Therapieziel im hohen Lebensalter ist die Vermeidung von therapiebedingten Akutkomplikationen wie z. B. Hypoglykämien. Aber auch eine Multimedikation sollte so weit wie möglich vermieden werden. Die Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft empfehlen bei geriatrischen Patienten mit Diabetes mellitus neben Symptomfreiheit und Vermeidung von Hypoglykämien einen HbA1c-Zielbereich zwischen 7 – 8 % (53 – 64 mmol/mol) (▸ Tab. 2.1, ▸ Abb. 2.1). Die Konsensus- Statements der International Association of Gerontology and Geriatrics IAGG (Sinclair et al. 2012) von 2012 sehen einen HbA1c-Zielbereich zwischen 7 – 7,5 % vor (53 – 58,5 mmol/mol) sowie folgende Empfehlungen zur Blutglukose:
-
keine Nüchtern-Blutglukosewerte unter 6 mmol/l (108 mg/dl) (»not below 6«) zur Vermeidung von Hypoglykämien,
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keine Blutglukose-senkende Therapie, bevor die Werte kontinuierlich über 7 mmol/l (126 mg/dl) liegen (»not before 7«),
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keine Blutglukosewerte über 11 mmol/l (198 mg/dl) zur Vermeidung von hyperglykämiebedingten Symptomen und diabetesbedingte Folgeerkrankungen.
Entsprechend der S2k-LL Diabetes im Alter der DDG sollen für alte Menschen mit Typ-2-Diabetes mellitus in Abhängigkeit ihrer Komorbiditäten individualisierte Therapieziele für den Glukosestoffwechsel, Lipidwerte und Blutdruck vereinbart werden.
In der Regel wird je nach Funktionalität ein HbA1c-Zielkorridor zwischen 6,5 – 7,5 % (47,5 – 58,5 mmol/mol) bei funktionell unabhängigen alten Menschen mit Diabetes empfohlen, ≤ 8 % (63,9 mmol/mol) bei funktionell leicht eingeschränkten Patienten, ≤ 8,5 % (69,4 mmol/mol) bei funktionell stark eingeschränkten Patienten, sowie Symptomfreiheit in der End-of-life-Situation. Davon weichen die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) und der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP) ab. Diese empfehlen bei funktionell unabhängigen Patienten in der Regel einen HbA1c-Korridor zwischen 7 – 8,5 % (53 – 69,4 mmol/mol) bei Symptomfreiheit bis 9 % (75 mmol/mol). Bei funktionell abhängigen Patienten wird der HbA1c-Bereich individuell mit dem Ziel der Symptomfreiheit festgelegt. Allgemeine Therapieziele des Diabetes mellitus im Alter sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst.
Die Empfehlungen des American College of Physicians sehen seit 2018 eine »personalisierte Zielsetzung bei der Blutglukoseeinstellung vor«, die Nutzen und Risiken der Arzneimitteltherapie, Patientenpräferenzen und Kosten berücksichtigen soll. Bei den meisten Patienten mit Typ-2-Diabetes soll das HbA1c-Ziel zwischen 7 und 8 % (53–64 mmol/mol) liegen. Zurückhaltung wird bei Personen über 80 Jahren, Altenheimbewohnern oder Patienten mit schweren chronischen Erkrankungen wie z. B. Demenz, Herzinsuffizienz, COPD oder malignen Erkankungen, deren Lebenserwartungen unter zehn Jahren liegt, angeraten (Quaseem et al. 2018).
Die nationale Versorgungsleitline (NVL) empfiehlt einen HbA1c-Korridor zwischen 6,5 – 8,5 % (48–69 mmol/mol) in Abhängigkeit von Lebensqualität, Komorbidität, Polymedikation, Risiko für Hypoglykämie und Arzneimittelnebenwirkungen, Belastung durch die Therapie, Ressourcen und Möglichkeiten der Unterstützung, funktionelle und kognitive Fähigkeiten, Diabetesdauer und Patientenwunsch. Dies bedeutet, geringere funktionelle und kognitive Fähigkeiten führen nicht automatisch zur Wahl eines höheren Therapieziels, wenn z. B. Ressourcen der Unterstützung gegeben sind. Ziele sind individualisiert unter dem Gesichtspunkt der partizipativen Entscheidungsfindung und auf Basis des persönlichen Risikoprofils gemeinsam zwischen Arzt und Patienten zu vereinbaren. (Bundesärztekammer (BÄK) et al. 2021).
Bei alten Menschen mit Typ-2-Diabetes sollen für folgende Parameter individualisierte Therapieziele vereinbart werden:
-
Glukosestoffwechsel
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Blutdruck (▸ Kap. 1.2.5)
-
Lipidstatus (▸ Kap. 1.2.5)
Therapieziele bei älteren Menschen mit Diabetes mellitus modfiziert nach der NVL-Leitlinie 2021 und DDG-S2k-Leitlinie 2018 (Bahrmann et al. 2018)
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Steigerung/Erhalt von Lebensqualität
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Vermeidung von Akutkomplikationen (v. a. schweren Hypoglykämien)
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Minimierung von therapiebedingten Nebenwirkungen (Hypoglykämien, Vermeidung von Multimedikation, unerwünschte Arzneimittelwechselwirkungen)
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Kompetenzsteigerung der Betroffenen im Umgang mit der Erkrankung
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Vermeidung von Folgeerkrankungen
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Reduktion geriatrischer Syndrome
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Verminderung eines Krankheitsstigmas
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Behandlungszufriedenheit
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Kompetenzsteigerung der Betroffenen
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Förderung der Therapieadhärenz durch individuell angepasste Therapie
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Vermeidung und Behandlung von Symptomen durch die Besserung der Stoffwechseleinstellung
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Behandlung und Besserung von Begleiterkrankungen
Tab. 2.1:Differenzierte Therapieziele für ältere Menschen mit Diabetes, nach Sk2-Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft 2018 »Diabetes im Alter« (Bahrmann A, Bahrmann P et al. 2018)
Patientengruppe | Begründung | HbA1c | BZ vor den Mahlzeiten | Blutdruck |
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Wenig Begleiterkrankungen Kognitiv nicht eingeschränkt | Lebenserwartung > 15 Jahre Vorteile einer intensiven Therapie können erlebt werden | 6,5 – 7,5 % | 100 – 125 mg/dl | < 140/< 85 mmHg |
Sehr alte oder multimorbide oder kognitiv leicht eingeschränkte Patienten | Lebenserwartung < 15 Jahre Vorteile einer intensiven Therapie können nicht erlebt werden. Erhöhtes Hypoglykämie- und Sturzrisiko | < 8,0 % | 100–150 mg/dl | 150 – 140/< 90 mmHg |
Pflegeabhängige oder kognitiv stark eingeschränkte Patienten | Begrenzte Lebenserwartung | < 8,5 % | 100 – 180 mg/dl | individuell |
Abb. 2.1:Therapieziele für geriatrische Patienten mit Diabetes mellitus (Zeyfang et al. 2021)
Merke
Vorrangige Therapieziele im hohen Lebensalter sind der Erhalt der Lebensqualität sowie die Vermeidung von therapiebedingten Akutkomplikationen wie z. B. Hypoglykämien. In der Regel wird bei geriatrischen, funktionell leicht abhängigen Patienten ein HbA1c-Ziel zwischen 7 – 8 % (53 – 63,9 mmol/l) empfohlen.
Die nationale Versorgungsleitline (NVL) Typ-2-Diabetes empfiehlt einen HbA1c-Korridor zwischen 6,5 – 8,5 % (47,5–69,4 mmol/mol) in Abhängigkeit von Lebensqualität, Komorbidität, Polymedikation, Risiko für Hypoglykämie und...
Erscheint lt. Verlag | 22.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie |
ISBN-10 | 3-17-034192-8 / 3170341928 |
ISBN-13 | 978-3-17-034192-0 / 9783170341920 |
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