Kieferorthopädie - Therapie Band 2 (eBook)
656 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-240056-6 (ISBN)
Metallische Werkstoffe in der Orthodontie
Metallische Werkstoffe werden in der herausnehmbaren und festsitzenden kieferorthopädischen Behandlung angewendet. In der Orthodontie kommt ihnen eine besondere Bedeutung zu. Sie werden als Bracket, Band und Drahtmaterial routinemäßig bei Patienten eingesetzt (Abb. 37). Die Kenntnisse der Eigenschaften ermöglichen eine gezielte Anwendung der metallischen Werkstoffe in Abhängigkeit von der jeweiligen orthodontischen Behandlungsphase. Als metallische Werkstoffe kommen in der Orthodontie neben Stahllegierungen, Kobalt-Chrom-, Titan- und NiTi-Legierungen zur Anwendung. (Abb. 38). Der hohe E-Modul von Stahlmaterialien führt bei Drähten zu einer hohen Last-/Biegerate. Kraft- und Momentgrößen können bei Stahldrähten schnell über den physiologischen Bereich hinaus überschritten werden. Stahlmaterialien werden daher aufgrund ihrer Festigkeit und Formstabilität bei Brackets und Bändern und in der Führungs- und Finishingphase bei Drähten eingesetzt. Die weitere Entwicklung der Kobalt-Chrom- und Titan-Legierung ermöglichte eine bessere Biegbarkeit und höhere Biegewechselbelastung der Drähte. NiTi-Legierungen weisen gegenüber den genannten Legierungen den geringsten E-Modul auf (ca. 6-fach geringer gegenüber Stahllegierungen) und zeigen spezifische Eigenschaften, die in der Orthodontie bei Brackets und Bögen klinisch genutzt werden können. NiTi-Legierungen eignen sich klinisch für viele Phasen der orthodontischen Therapie. In der Nivellierung wird hauptsächlich der geringe E-Modul und das gute Rückstellvermögen der NiTi-Drähte genutzt. Bei Federn, Teilbögen und voraktivierten Bögen ist es die Superelastizität, die zur konstanten und definierten Kraft- und Momentübertragung auf die Zähne von Vorteil ist.
37 Metallische Werkstoffe Orthodontie
Metallische Werkstoffe finden in der herausnehmbaren und in der festsitzenden Orthodontie Anwendung. Neben Stahl-Legierungen werden Kobalt-Chrom-, Titan- und NiTi-Legierungen verwendet. Die Kenntnisse des Materialverhaltens der metallischen Werkstoffe lassen sich gezielt klinisch nutzen. Eigenschaften wie beispielsweise der unterschiedliche E-Modul der Werk-stoffe ist in verschiedenen Behandlungsphasen sinnvoll und sollte klinisch gezielt eingesetzt werden.
38 Metallische Werkstoffe Orthodontie
Die in den 70er Jahren in die Kieferorthopädie eingeführte NiTi-Legierung (Andreasen und Hillemann 1971) ermöglicht heute eine Vielzahl von klinischen Anwendungen. Durch den kleinen E-Modul können in der Nivellierung kleine Kräfte übertragen werden, ohne dass ein Loop, wie bei Kobalt-Chrom- oder TMA-Drähten, eingebogen werden muss. Weitere Eigenschaften wie die Super-elastizität lassen sich in Federn (Zug- und Druckfedern [links und Mitte]) und Bögen (Torquebogen [rechts]) für gezielte Bewegungen nutzen.
■ Grundlagen Metalle
Allen metallischen Werkstoffen gemeinsam ist der chemische Bindungstyp: die sogenannte metallische Bindung, deren Bindungsenergie in etwa die gleiche Größenordnung hat, wie die der Ionenbindung oder der kovalenten Bindung. Wesentliches Charakteristikum ist dabei die Delokalisierung der Valenzelektronen innerhalb des Kristallgitters, die sich in Form eines Elektronengases zwischen dem aus den Atomkernen gebildeten Gitter frei bewegen können und damit ganz wesentlich die besonderen Eigenschaften der Metalle, die gute elektrische sowie thermische Leitfähigkeit, prägen. Zudem sind reine Metalle sehr leicht plastisch verformbar und daher zumeist nicht direkt als Strukturwerkstoffe, sondern in der Regel als sogenannte Funktionswerkstoffe zu verwenden (Hornbogen et al. 2012). Dabei kann das aus den Atomkernen bestehende Kristallgitter der Metalle sehr stark unterschiedliche Strukturen aufweisen, die durch die Größe der Atomkerne (Protonenzahl bzw. Ordnungszahl) sowie das Mischungsverhältnis der beteiligten Atomarten bei Legierungen, die aus zwei oder mehr Atomarten aufgebaut sein können, bestimmt werden. Einige einfache Beispiele für Kristallstrukturen von reinen Metallen zeigen die Abbildungen 39 und 40, wobei kristallografisch sehr viel komplexere Gitterstrukturen möglich sind. Die Rotfärbung der Atome dient hier lediglich der besseren Erkennbarkeit.
39 Metallische Werkstoffe Kristallstrukturen
Beispiele von Kristallstrukturen mit unterschiedlichen Packungsdichten der Atome. Das kubisch primitive Gitter (links) weist eine Packungs-dichte von 1 Atom pro Elementarzelle auf, das kubisch flächenzentrierte Gitter (kfz) eine Packungsdichte von vier (rechts). Zur besseren Unterscheidbarkeit sind einige Atome rot gefärbt, es handelt sich jedoch um die gleiche Atomart.
40 Metallische Werkstoffe Kristallstrukturen
Weitere Kristallstrukturen mit höheren Packungsdichten der Atome. Im Vergleich zu kubisch primitiven und kubisch flächenzentrierten Kristallstrukturen zeigen das kubisch raumzentrierte Gitter und das hexagonale Gitter eine Packungsdichte von 2 (krz) und 3 (hdP). Die rot dargestellten Atome sind zur besseren Unterscheidung eingefärbt, stellen aber die gleiche Atomart dar.
Metalllegierungen
Ersetzt man in den Kristallgittern einzelne Atome durch eine andere Atomart, so spricht man von einer Legierung (Abb. 41). Dabei spielen die Atomradien des zu substituierenden Atoms des konstituierenden Gitters sowie des Substitutionselements eine wichtige Rolle, denn bei zu großen Unterschieden in den Atomradien ist die Substitution und damit die Legierungsbildung nicht mehr möglich. Es bildet sich ein sogenanntes Phasengemisch. Bei miteinander kompatiblen Atomradien können sich dagegen Mischphasen ausbilden, die im festen Zustand als Mischkristalle oder intermetallische Verbindungen bezeichnet werden (Abb. 41). Die bei Legierungen aus zwei oder mehr Atomarten zu erwartende Festigkeitssteigerung beruht auf einer mechanischen Verspannung der Gitterstruktur durch die Fehlpassung der Substitutionsatome im Kristallgitter der konstituierenden Atomart. Eine besondere Form der Legierungen sind die intermetallischen Verbindungen („Intermetallics“), deren Zusammensetzung nicht genau den Valenzregeln folgen muss (Hornbogen et al. 2012).
Das in der Kieferorthopädie bekannteste Beispiel für Intermetallics sind die Nickel-Titan-Legierungen. Einige intermetallische Verbindungen weisen genau die stöchiometrische Zusammensetzung der konstituierenden Metalle auf, während andere einen Homogenitätsbereich aufweisen können. Dies kann auch nur für einen gewissen Temperaturbereich gelten, wie später am Beispiel der NiTi-Legierungen gezeigt werden kann.
Unter Metalllegierungen versteht man somit makroskopisch homogene Werkstoffe, die zum Zweck der Veränderung mechanischer oder funktioneller Eigenschaften aus mindestens zwei Nichtmetall- oder Metallatomarten aufgebaut sind. Mikroskopisch kann die Struktur der Legierungen sowohl homogen (homogener Mischkristall) als auch inhomogen (z. B. Mischkristall mit Ausscheidungsphasen) sein.
Es gibt jedoch weitere Methoden, die zur Eigenschaftseinstellung bei Metallen dienen. Allen gemeinsam ist dabei die gezielte Ausnutzung von Fehlern in der Kristallstruktur, die sogenannten „Baufehler“.
Baufehler in Kristallen
Bei den Raumgittern der zuvor vorgestellten Kristallstrukturen handelt es sich um perfekte Kristalle, die man niemals vorfindet. Tatsächlich weisen alle Kristalle Fehler in mehr oder weniger hoher Zahl auf, die häufig absichtlich erzeugt werden und zur entscheidenden Verbesserung bestimmter struktureller oder funktioneller Eigenschaften beitragen.
41 Metallische Werkstoffe Mischkristalle/Legierungen
Die Kombination zweier Atomarten mit unterschiedlichen Atomradien führt zu einer Streckung der Würfelkanten des Gitters und damit zu inneren Spannungen (→ Festigkeitssteigerung). Sind die Atomradien miteinander kompatibel, bilden sich Mischkristalle oder intermetallische Verbindungen. Links: Mischungsverhältnis Atomart rot:blau = 1:1; Mitte: rot:blau = 1:7; rechts: rot:blau = 1:8.
42 Metallische Werkstoffe Gitterbaufehler
Eindimensionaler Gitterbaufehler in Form einer Stufenversetzung, die durch Kaltverformung eingebracht werden kann (links). Die damit einhergehende Verspannung des Kristallgitters führt zur gewünschten Festigkeitssteigerung. Zudem können in dem entstehenden Zwischengitterraum Fremdatome eingelagert werden (0-dimensionale Gitterbaufehler) und zu einer weiteren Steigerung der Festigkeit führen (rechts).
Die wichtigsten Gitterbaufehler sind, neben den bereits erwähnten Fremdatomen, die sogenannten „Versetzungen“, „Korngrenzen“ und „Teilchen“ oder „Ausscheidungen“. Letztgenannte verändern lokal die chemische Zusammensetzung des Werkstoffs, während sowohl die Versetzungen als auch die Korngrenzen durch Kaltumformung des Werkstoffs während der Verarbeitung eingebracht werden.
Versetzungen
Bei Versetzungen handelt es sich um 1-dimensionale Baufehler (Abb. 42), die bei plastischer Verformung des Werkstoffs während der Herstellung entstehen und zu einem erheblichen Festigkeitsanstieg beitragen. Je mehr Versetzungen durch Kaltverformung induziert werden, umso höher ist die Festigkeitssteigerung des Werkstoffs bei gleichzeitiger Abnahme der Duktilität. Ist die maximal mögliche Verfestigung des Materials erreicht, so tritt bei weiterer Verformung Rissbildung oder sogar Bruch auf. Es muss daher durch eine Wärmebehandlung die hohe innere Spannung bei gleichzeitiger Abnahme der eingetretenen Verfestigung wieder abgebaut werden. Durch die eingebrachten Versetzungen entstehen mikroskopische Gitterverzerrungen, in...
Erscheint lt. Verlag | 22.5.2024 |
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Reihe/Serie | Farbatlanten der Zahnmedizin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Zahnmedizin ► Kieferorthopädie |
Schlagworte | Behandlungskonzept • Farbatlas • Festsitzende Apparate • KFO-Therapie • Kieferorthopädie |
ISBN-10 | 3-13-240056-4 / 3132400564 |
ISBN-13 | 978-3-13-240056-6 / 9783132400566 |
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