Vitamine, Spurenelemente und Minerale (eBook)
1338 Seiten
Thieme (Verlag)
978-3-13-245168-1 (ISBN)
1 Allgemeines
1.1 Mikronährstoffe – Definition
Vitamine, Minerale und Spurenelemente werden als Mikronährstoffe – genauer: essenzielle Mikronährstoffe – zusammengefasst. Im Gegensatz zu den Makronährstoffen (Fett, Eiweiß, Kohlenhydrate [KH]), die auch als energieliefernde Nährstoffe bezeichnet werden, sind Mikronährstoffe nicht energieliefernd. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind sie essenziell, d.h., sie müssen regelmäßig mit der Ernährung zugeführt werden.
1.2 Bedarf und Empfehlung
Wie viel braucht nun ein Mensch von einem einzelnen Mikronährstoff? Hierzu gibt es seit etwas mehr als 60 Jahren die sog. Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr, die heute als Referenzwerte bezeichnet werden. ▶ Abb. 1.1 stellt die unterschiedlichen Eckpunkte dar, welche die Versorgung mit Mikronährstoffen beschreiben. Hierbei gibt es verschiedene Punkte, durch die die Versorgung des Menschen scheinbar festgelegt ist. Allerdings wurden all diese Punkte nicht für den einzelnen, sondern für eine gesunde Population gemacht. Der EAR-Wert (EAR: Estimated Average Requirement) darf so verstanden werden, dass 50% der Population ausreichend und 50% nicht ausreichend versorgt sind. Dies bedeutet nicht, dass die unzureichend Versorgten Zeichen eines Mangels entwickeln, sondern lediglich durch die Zufuhr des Nährstoffs mit der Ernährung unter dem Mittelwert (EAR) dieser gesunden Gesamtpopulation liegen. Da von einer symmetrischen Normalverteilung ausgegangen wird, heißt dies auch, dass bei Gruppen, bei denen eine solche Symmetrie nicht vorliegt, der EAR-Wert falsch-positiv oder falsch-negativ sein kann. Entscheidend ist, dass es sich immer um gesunde Populationen handelt. Eine Aussage darüber, ob diese Normalverteilung auch für Menschen mit chronischen Krankheiten gilt, kann nicht getroffen werden. Der EAR-Wert ist also zunächst einmal nicht mehr als ein Schätzwert, der je nach Herkunft der Population unterschiedlich sein kann, da gerade traditionelle Ernährungsformen und damit deren Mikronährstoffdichte sehr unterschiedlich sein können. Dennoch werden diese Werte international genutzt, ohne dass dieser Tatsache wirklich Rechnung getragen würde.
Ermittlung des RDA-Werts für einen bestimmten Nährstoff.
Abb. 1.1 Hierzu wird die Aufnahme des Nährstoffs in einer repräsentativen Bevölkerungsgruppe ohne Mangelsymptome ermittelt (EAR: Estimated Average Requirement). Während unterhalb des RDA-Werts (RDA: Recommended Dietary Allowances) das Risiko einer Unterversorgung kontinuierlich ansteigt, befindet sich oberhalb dieser Empfehlung ein (je nach Nährstoff) sehr breiter „sicherer Bereich“. Das Risiko eines Überschusses steigt für die meisten Nährstoffe erst bei einem Vielfachen des RDA-Werts an. Tolerable Upper Intake Level (UL): Dazu wird die höchste sichere Dosis (NOAEL: No Observed Effect Level) oder die niedrigste sichere Dosis (LOAEL: Lowest Observed Adverse Effect Level) gesucht. Dieser Wert wird um einen Unsicherheitsfaktor UF verkleinert.
(Quelle: Biesalski H, Grimm P, Nowitzki-Grimm S. Grundlagen. In: Biesalski H, Grimm P, Nowitzki-Grimm S, Hrsg. Taschenatlas Ernährung. 8. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2015)
Aus dem EAR-Wert wird der Referenzwert (DRI: Dietary Reference Intake) abgeleitet, indem 2 Standardabweichungen der Normalverteilung diesem Wert hinzugefügt werden. Damit reduziert sich der Anteil der unzureichend Versorgten auf 2,5%. Grundsätzlich darf davon ausgegangen werden, dass eine Unterschreitung der Referenzwerte beim Gesunden keine ernsthaften Konsequenzen haben muss. Dies ist alles eine Frage der Dauer der Unterschreitung und des Ausmaßes. Kommt es jedoch zu Erkrankungen oder weitergehenden Störungen der Nahrungsaufnahme, so kann diese Unterschreitung Konsequenzen haben.
Nun ist eine Analyse der Vitaminversorgung, ganz gleich in welcher Form, von Ausnahmen abgesehen, im Alltag wenig geeignet, da sie sehr zeitaufwendig und immer wieder auch stark abweichend von der tatsächlich mitgeteilten Versorgung ist (Over-Under-Reporting). Zweifellos gibt es Patienten, bei denen eine solche Analyse sinnvoll ist, besonders dann, wenn es um die Empfehlung und das Monitoring von Diäten geht oder aber um sehr spezielle Fragestellungen, die den zeitlichen Aufwand rechtfertigen. In der klinischen Routine jedoch – gerade, wenn es um die Empfehlung eines Vitaminpräparats geht – ist die Orientierung an Risikoprofilen bzw. -gruppen, die mit einer unzureichenden Versorgung einzelner oder mehrerer Vitamine verbunden sind, der schnellere Weg. Gerade bei diesen Gruppen lohnt sich eine nähere Analyse der Ernährung. Auf Risikogruppen und -profile wird in den Einzeldarstellungen eingegangen.
1.3 Was ist ein Mangel und wie erkennt man diesen?
Den Mangel eines Mikronährstoffs erkennt man in vielen Fällen erst am klassischen klinischen Bild. Genau darin liegt aber auch das Problem, wenn es um die Anwendung einzelner Mikronährstoffe zur Therapie eines sichtbaren oder nur vermuteten Defizits geht.
In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurde die Wirkung vieler Mikronährstoffe entdeckt und durch die Möglichkeit der synthetischen Herstellung konnten dann bis dahin weit verbreitete und oft unheilbare Erkrankungen erfolgreich therapiert werden. Wahre Geißeln der Menschheit, wie etwa Skorbut, perniziöse Anämie oder Rachitis, konnten geheilt werden. Dies und die Beobachtung, dass bestimmte Ernährungsformen das Auftreten solcher klinischer Mangelsymptome verhinderten, hat dazu beigetragen, dass die Anwendung eines oder mehrerer Vitamine nur dann empfohlen wurde, wenn klassische klinische Zeichen eines Mangels beobachtet wurden.
Wenn es um die Wirkungsweise von Mikronährstoffen geht, müssen wir uns von der Vorstellung lösen, dass wir diese erst dann substituieren müssen, wenn typische klinische Zeichen eines Mangels auftreten.
Merke
Der klinisch sichtbare Mangel ist der Endpunkt einer Entwicklung, an dessen Beginn eher unspezifische und schwer fassbare Symptome stehen, die oft nicht mit einem Mikronährstoffdefizit in Verbindung gebracht werden. Aus diesen Gründen werden solche Zustände auch als verborgener Hunger bezeichnet.
1.4 Verborgener Hunger
Wenn wir Hunger haben, dann verlangt unser Organismus – oder genauer unser Gehirn – nach Energie. Dabei ist es völlig gleichgültig, in welcher Form die Energie geliefert wird; wenn das Gehirn zufrieden ist, stellt sich Sättigung ein und in den meisten Fällen beenden wir die Mahlzeit. Nicht so bei Mikronährstoffen: Es gibt ganz offensichtlich keinen spezifischen Hunger für einen oder mehrere Mikronährstoffe – zumindest ist uns ein solcher nicht bekannt.
So kann es vorkommen, dass wir zwar satt, aber dennoch mit Mikronährstoffen nicht ausreichend versorgt sind, ohne dass wir dadurch gleich einen Mangel entwickeln müssten. Diesen Zustand bezeichnet man als verborgenen Hunger. Problematisch ist dies vor allem in Ländern mit geringem Einkommen; aber durchaus auch in reichen Ländern wie dem unsrigen kann dieser Zustand vorkommen. Der verborgene Hunger entzieht sich sehr lange einer gezielten Diagnose und hat dennoch Krankheitswert. Es gibt eine Vielzahl von Symptomen, die zunächst nicht mit der Unterversorgung eines einzelnen Vitamins in Verbindung gebracht werden und erst bei genauem Hinsehen erkannt werden. Dies wird im Detail in den Einzeldarstellungen aufgegriffen.
▶ Abb. 2.2 versucht das Problem des verborgenen Hungers zu verdeutlichen. Ist der Bedarf durch die Zufuhr der Mikronährstoffe mit der Ernährung ausreichend gedeckt, sollten damit alle Körper- und Stoffwechselfunktionen, die einen oder mehrere dieser Mikronährstoffe benötigen, so versorgt sein, dass es nicht zu Engpässen kommt.
Sinkt die Zufuhr, kommt man in einen Bereich, der dem geschätzten mittleren Bedarf (EAR) entspricht ( ▶ Abb. 2.2). Um diesen Bereich herum liegt der verborgene Hunger, da er sich nicht durch spezielle Symptome oder Krankheitszeichen zu erkennen gibt. Verringert sich die Zufuhr weiter, so treten zunehmend die typischen klinischen Symptome der Mangelerkrankung auf. Die Tatsache, dass sich der verborgene Hunger unspezifisch äußert, führt immer wieder dazu, dass ein Defizit sich weiterentwickeln kann und letztlich dann zur klassischen Mangelerkrankung führt. Immerhin – so die Daten der WHO – betrifft der verborgene Hunger bei Eisen 2 Milliarden Menschen, bei Jod bzw. Zink jeweils eine Milliarde. Während es in den Ländern mit geringem Einkommen vorwiegend Kinder und Frauen sind, die in Armut leben, kommen in den Industrienationen noch weitere Risikogruppen hinzu, wie alte Menschen oder solche, die selbst gewählte, teilweise sehr einseitige Ernährungsformen praktizieren (Kap. ▶ 11 und Kap. ▶ 12.6). Dabei wird übersehen, dass eine unzureichende Versorgung mit einzelnen Mikronährstoffen je nach Entwicklungsstand und Alter zu unterschiedlichen, in vielen Fällen bleibenden Beeinträchtigungen führen kann. Beispielsweise kann eine Unterversorgung mit...
Erscheint lt. Verlag | 8.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete |
Schlagworte | Ernährung • Evolution • Hirnentwicklung • Infektionskrankheiten • Mangelernährung • Mikronährstoffe • Mineralstoffe • Nährstoffmangel • Nährstoffversorgung • Nahrung • Onkologie • Spurenelemente • verborgener Hunger • Vitamine |
ISBN-10 | 3-13-245168-1 / 3132451681 |
ISBN-13 | 978-3-13-245168-1 / 9783132451681 |
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