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Arthur Kronfeld und die Identität der Psychiatrie -  Paul Hoff

Arthur Kronfeld und die Identität der Psychiatrie (eBook)

Denkwege vom 18. bis zum 21. Jahrhundert
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
196 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-032996-6 (ISBN)
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Was ist Psychiatrie? Der deutsch-jüdische Psychiater und Psychologe Arthur Kronfeld (1886-1941) widmete sein Lebenswerk genau dieser Frage. Als profunder Kenner der Ideengeschichte und scharfsinniger Kritiker forderte er eine eigenständige, 'autologische' Psychiatrie, der er auch eine kulturwissenschaftliche Dimension zuwies. Die verblüffenden Parallelen zwischen Kronfelds Denken und den Herausforderungen der Psychiatrie im 21. Jahrhundert machen die sorgfältige Rezeption seiner Texte zur intellektuellen Fundgrube. Über den Blick auf Ankerpunkte wie den Krankheitsbegriff oder den diagnostischen Prozess und anhand von Fallvignetten, die heikle therapeutische Entscheidungen authentisch schildern, veranschaulicht der Autor die Theoriegebundenheit der Psychiatrie sowie die Praxisrelevanz theoretischer Vorannahmen: 'Theorie ist Praxis' - so plakativ dies wirken mag, so spürbar wird es im Behandlungsalltag, zu Kronfelds Zeit ebenso wie heute.

Prof. em. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff war stv. Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und betreibt seit 2021 eine Sprechstunde an der psychiatrischen Privatklinik Hohenegg in Meilen, Zürich. Er ist Präsident der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).

Prof. em. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff war stv. Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und betreibt seit 2021 eine Sprechstunde an der psychiatrischen Privatklinik Hohenegg in Meilen, Zürich. Er ist Präsident der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).

Lebenswelt 1 – Aaron B. und die Vertrauenskrise: Warum psychotherapeutische Interventionen schmerzhaft sein können – für Patient/in und Therapeut/in


Aaron B., ein 54-jähriger, erfolgreicher Unternehmer, und Dr. T., der Psychiater, kannten sich seit 17 Jahren. Sie respektierten einander, und auf eine bestimmte Art mochten sie sich. Was beide verband, war – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln – das Wissen um die tiefen Spuren, die eine bipolare Störung7 im Leben eines Menschen hinterlassen kann und in Aaron B.s Leben hinterlassen hat.

Als er den Patienten kennenlernte, war Dr. T. ein kurz vor dem Facharztexamen stehender Assistenzarzt in der psychiatrischen Klinik, in die Aaron B. wegen einer schweren manischen Phase gegen seinen Willen mittels einer »fürsorgerischen Unterbringung« (FU)8 eingewiesen worden war. Vorausgegangen war eine notfallmäßige Intervention der Familie beim Hausarzt. Dieser suchte daraufhin den Patienten persönlich auf und gelangte zu der Überzeugung, eine stationäre Behandlung sei unausweichlich. Nachdem der Patient dies aber kategorisch abgelehnt hatte, ordnete der Hausarzt eine fürsorgerische Unterbringung an9. Aaron B. ließ sogar zu, dass dieser ihn selbst in die Klinik begleitete. Jedoch geschah dies unter speziellen Umständen: Angespannt und laut schimpfend, betonte er während der Fahrt immer wieder, er gehe nur mit, um einen Polizeieinsatz zu verhindern. Dies sei aber eindeutig eine Einweisung unter Zwang, »unter illegaler Gewaltanwendung«, wie er sich ausdrückte.

Die stationäre Behandlung hatte acht Wochen in Anspruch genommen. Da zwischen Aaron B. und Dr. T. trotz der schwierigen Zuweisungssituation ein tragfähiges Vertrauensverhältnis entstanden war, konnte die unfreiwillige Unterbringung bereits nach einer knappen Woche durch die Klinik aufgehoben werden. Der Patient erklärte sich zu einer freiwilligen stationären Weiterbehandlung bereit und hielt sich an diese Vereinbarung. Als sich die Entlassung abzeichnete, fragte er den Therapeuten, ob dieser die ambulante Weiterbetreuung in der Klinikambulanz übernehmen könne. So geschah es: Nahezu zwei Jahre lang suchte der Patient regelmäßig den ihm bekannten Therapeuten in der Klinik auf. Als ihm Dr. T. mitteilte, dass er, inzwischen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in Kürze eine Praxis in derselben Stadt eröffnen werde, bat Aaron B. darum, in diese Praxis wechseln zu können, was Dr. T. sofort zusagte.

Der weitere Krankheitsverlauf gestaltete sich schwierig: In den folgenden 15 Jahren kam es zu sieben schweren manischen Phasen, die jeweils eine erneute stationäre Behandlung erforderlich machten, einmal wieder mittels fürsorgerischer Unterbringung. Die meisten dieser Phasen waren nach acht bis zwölf Wochen fast nahtlos übergegangen in eine resignativ-traurige Verstimmung mit Insuffizienzgefühlen, Ängsten und Selbstvorwürfen. Jedoch hatte keine dieser depressiven Phasen auch nur annähernd die Intensität der ihr jeweils vorausgehenden manischen Episoden.

Der Patient war über all diese Jahre in eine stabile familiäre und soziale Struktur eingebettet: Das von den Eltern ererbte, florierende Möbelgeschäft führte er erfolgreich weiter und baute es aus. Gemeinsam mit seiner Frau, mit der er fast 30 Jahre verheiratet war, hatte er drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, mittlerweile alle erwachsen. Die Familie bekannte sich stets zu dem vom Patienten geleiteten Unternehmen; die Ehefrau bekleidete eine Leitungsfunktion im administrativen Bereich, und die Tochter arbeitete darauf hin, nach dem Abschluss ihres Studiums der Betriebswirtschaft in die Firma einzusteigen, um später die Leitung von ihrem Vater zu übernehmen.

Dieser tragfähige soziale Rahmen hatte entscheidend dazu beigetragen, dass die direkten und indirekten Folgen der Erkrankung im persönlichen Umfeld der Familie wie in der Firma so aufzufangen waren, dass kein nachhaltiger Schaden entstand. Natürlich hatte es während der manischen Phasen heftige Konflikte gegeben, da der Patient hochfliegende, aber völlig unrealistische und daher für das Unternehmen sehr riskante Pläne entwickelte: Ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen Verhalten tätigte er ohne jede Absprache große Investitionen und zeigte sich gegenüber Argumenten, die nicht auf seiner Linie lagen, uneinsichtig, abweisend und mitunter verbal aggressiv. Die Ehefrau, die nach der ersten schweren Manie ihres Mannes tief verunsichert war und nach der zweiten Episode kurz mit dem Gedanken spielte, sich trotz der damals noch schulpflichtigen Kinder von ihm zu trennen, entschied sich schließlich anders: Sie begann, sich eingehend über die bipolare Erkrankung zu informieren, besuchte Selbsthilfegruppen für Angehörige und organisierte später selbst eine solche Gruppe in ihren Privaträumen.

Trotz der langjährigen, von wechselseitigem Vertrauen geprägten therapeutischen Beziehung gab es einen Punkt, bei dem eine markante Dissonanz zwischen den Auffassungen des Patienten und seines Therapeuten hartnäckig bestehen blieb: Die Einschätzung der, auf die ganze Lebenszeit bezogen, zahlreichen manischen und depressiven Phasen als Ausdruck einer psychischen Erkrankung, einer bipolaren Störung, lehnte der Patient auch nach vielen Jahren rundweg ab. Zwar akzeptierte er die regelmäßigen Termine bei Dr. T. ebenso wie die seit Jahren etablierte medikamentöse Vorbeugung mit einem Lithiumsalz und hielt sich streng an die Vorgaben für die erforderlichen Bestimmungen des Blutspiegels. Dennoch gab es so gut wie keine Therapiestunde, in der der Patient nicht mehr oder weniger deutlich sein Missfallen darüber zum Ausdruck brachte, dass seine, wie er es ausdrückte, »starken Stimmungsschwankungen« als Ausdruck einer Erkrankung aufgefasst würden. Er sei nicht krank. Er habe Hochs und Tiefs wie alle Menschen, es gehe mal aufwärts, mal abwärts. Aber schließlich sei er doch ein erfolgreicher Unternehmer, in der Branche anerkannt und von seiner Familie akzeptiert. Das passe doch überhaupt nicht zum Vorliegen einer schweren psychischen Erkrankung.

Besonders ambivalent äußerte er sich zur Psychiatrie: Er sehe die Bemühungen der Klinik und vor allem des ambulanten Behandlers, ihm zu helfen, und schätze dies sehr wohl. Die Machtfülle jedoch, die die Gesellschaft den psychiatrischen Fachpersonen zugestehe, sei völlig unangemessen, vor allem wenn es um die Verwendung diagnostischer Begriffe, den Einsatz therapeutischer Maßnahmen und deren Erzwingung gegen den Willen der betroffenen Person gehe, um medizinische Zwangsmaßnahmen also. Er halte diese Praxis für unverantwortlich, denn sie verletze Menschenrechte.

Mehrfach hatte Aaron B. nach Abklingen der manischen Phase sämtliche Dokumente der Klinik zur Einsicht verlangt und erhalten. Dies führte meist zu einem umfangreichen Schriftwechsel und zu Anträgen des Patienten, die eigene, in zahlreichen Punkten von der Patientenakte abweichende Darstellung nachträglich in die – er schrieb dieses Wort konsequent in Anführungszeichen – »Krankengeschichte« aufzunehmen, was auch jeweils so geschah. Abgesehen von seiner festen Überzeugung, bei der Einstufung der bei ihm auftretenden Stimmungsschwankungen als »bipolare Störung« handele es sich um eine Fehldiagnose, befürchtete der Patient, durch diese diagnostische Etikettierung, sollte sie je in seinem beruflichen Umfeld bekannt werden, könne die Firma erheblichen Schaden nehmen. Damit aber stehe nicht nur seine eigene Existenz, sondern auch diejenige der Tochter auf dem Spiel. »Das können Sie doch nicht wollen, Herr Dr. T.!« – so ein nicht nur einmal geäußerter Satz des Patienten. Mitunter folgte in gereiztem Ton die Aufforderung an den Therapeuten, alles zu tun, damit ihm die Behandlung der angeblichen Krankheit nicht bedeutend mehr schade als nutze.

Die letzte manische Phase, die inmitten der Coronapandemie schleichend begonnen und sich innerhalb weniger Wochen zum Vollbild eines manischen Syndroms ausgeweitet hatte, stand unter einem besonders ungünstigen Stern: Aaron B. hatte in der Frühphase der Erkrankung ein kleineres Möbelhaus übernommen, ohne dies im Vorfeld mit dem Treuhänder, seiner Frau oder der designierten Nachfolgerin, seiner Tochter, abzusprechen. Alle stellte er triumphierend vor vollendete Tatsachen, was zunächst Konsternation, dann Entrüstung hervorrief. Sofort äußerten Ehefrau und Tochter Aaron B. gegenüber den Verdacht, er sei erneut auf dem Weg in eine Manie: Er sei gesprächiger, ungeduldiger, gereizt, schlafe wenig und neige, in markantem Kontrast zu seinem üblichen unternehmerischen Verhalten, zu erratischen und riskanten Entscheidungen. Der Patient ließ dies in keiner Weise gelten, beschwerte sich lautstark über die Einengung seines Handlungsspielraums, fühlte sich missverstanden und, wie er immer wieder sagte, »in die psychiatrische Ecke gedrängt«.

In der Folgezeit wurde das manische Syndrom immer ausgeprägter. Hektik, Gereiztheit, reduzierte Kommunikation und – in dieser Situation kaum verwunderlich – Misstrauen begannen, das...

Erscheint lt. Verlag 31.10.2023
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Matthias Bormuth, Andreas Heinz, Markus Jäger
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Diagnostik • Neukantianismus • Personzentriert • Psychotherapie • Wissenschaftstheorie
ISBN-10 3-17-032996-0 / 3170329960
ISBN-13 978-3-17-032996-6 / 9783170329966
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