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Geburtshilfliche Notfälle (eBook)

vermeiden - erkennen - behandeln
eBook Download: EPUB
2023 | 3. Auflage
Thieme (Verlag)
978-3-13-244694-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geburtshilfliche Notfälle - Sven Hildebrandt, Esther Göbel
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<p><strong>Notfälle vermeiden, Notfälle frühzeitig erkennen</strong><br></p><p>Geburtshilfliche Notfälle treten oft überraschend und unvorhergesehen ein. Sie erfordern rasches Handeln und klare Entscheidungen. Dieses Kompendium hilft Hebammen und Geburtshelfern, in geburtshilflichen Notfällen besonnen und kompetent zu handeln.</p><ul><li>Das Grundlagenwissen für richtiges, souveränes Handeln</li> <li>Konkrete Handlungsanweisungen</li> <li>Alle wichtigen mütterlichen und kindlichen Notfälle</li> <li>Die wichtigsten Fakten übersichtlich auf Notfallkarten zum Download zusammengefasst</li><li>Kurzvideos zeigen die wichtigen Handgriffe bei Handlungsabläufen</li></ul><p><strong>Neu </strong></p><ul><li>Grundlagenwissen zur Pathophysiologie von geburtshilflichen Notfällen</li> <li>Neue Ideen und Handlungsanleitungen</li> <li>Verbesserte Gliederung</li> <li>Umfassende Behandlung des Geburtsstillstands mit innovativen Ideen</li> </ul>

1 Rolle der Intervention bei der Entstehung geburtshilflicher Notfälle


1.1 Geburt im Verständnis eines Naturwunders


Merke

Geburt ist ein Naturphänomen, kein medizinisches Ereignis.

Wesentliche Grundprinzipien aller biologischen Vorgänge sind Risikovermeidung, die Aufrechterhaltung der physiologischen Homöostase und die Kompensation von Störeinflüssen. Auf diese Weise wird die Arterhaltung selbst unter oft widrigen Bedingungen sichergestellt.

Die Geburt eines Menschen weist gegenüber Geburten anderer Primaten einige Besonderheiten auf, die auf den aufrechten Gang und die relativ große Hirnmasse zurückzuführen sind. Die Statik der menschlichen Beckenknochen und die Größe des kindlichen Schädels erfordern eine Vorverlegung des Geburtszeitpunktes auf eine für Traglinge unphysiologisch frühe Entwicklungsphase. Dieser Geburtszeitpunkt ist für das Menschenkind somit der Kompromiss aus dem letztmöglichen Moment einer reibungslosen Kopfpassage und dem frühestmöglichen Moment einer komplikationslosen Anpassung an das extrauterine Leben. Während andere Primaten es sich leisten können, das Leben im Mutterleib bis zum Flüggewerden zu genießen, um dann immer noch ausreichend weite Geburtswege vorzufinden, stellt unsere Geburt somit eine Art „höhere Kunst“, eine „Geburt für Fortgeschrittene“ dar. Wir halten es dennoch für falsch, aus dieser Tatsache ein „natürliches Geburtsrisiko des Menschen“ abzuleiten und die Geburt zum „gefährlichsten Moment im menschlichen Leben“ ▶ [149] zu erklären. Denn wir erheben ja gegenüber anderen Lebewesen den Anspruch der Fortgeschrittenen und dürfen zu Recht auf einige erstaunliche Errungenschaften unserer Biologie verweisen:

Merke

Die Geburt des Menschen ist ein grandioser Beleg für eine perfekt ausgeklügelte biologische Regulation, die uns Grund zur Zuversicht auf einen erfolgsorientierten Ausgang gibt.

Die folgenden Beispiele sind für unser geburtshilfliches Denken besonders relevant und sollen diese These belegen:

  • biologische Optimierung des Geburtszeitpunktes

  • Zusammenwirken von Mutter und Kind im Geburtsverlauf

  • Balance zwischen Belastung und Ruhe während der Geburt

  • „Survival-Kit“ Plazenta

Alle vier Beispiele zeigen zugleich, dass die moderne Geburtshilfe zunehmend in grundlegende biologische Regulationsmechanismen eingreift. Wir sollten jede Begründung eines solchen Eingriffs nach streng wissenschaftlichen Kriterien hinterfragen, weil wir Mutter und Kind möglicherweise wichtiger Ressourcen für eine optimale Geburt berauben.

1.1.1 Geburtsbeginn


Wir wissen viel über die endokrinologischen, neurophysiologischen und biophysikalischen Faktoren der Auslösung einer Geburt – und trotzdem sind uns die tieferen Zusammenhänge vom Wann, Wie und Warum oder besser vom Warum nicht des Geburtsbeginns weitgehend unbekannt. Dem aufmerksamen Beobachter wird das Prinzip der biologischen Optimierung des Geburtszeitpunktes nicht verborgen bleiben, das einen Kompromiss zwischen schwangerschaftsverlängernden und schwangerschaftsbegrenzenden Interessenlagen darstellt.

Betrachten wir zwei voneinander sehr verschiedene Kinder: Kind „A“ hatte in seiner Gebärmutter eine ideale Zeit, wurde immer optimal mit Sauerstoff, Nahrung und Liebe versorgt, ist prächtig gediehen und ein richtiger kleiner „Wonneproppen“. Kind „B“ dagegen hat während seiner Schwangerschaft Mangel und Entbehrung erlebt, wurde mit Noxen konfrontiert, hatte wenig Kontakt zu seiner Mutter und ist ein „Mickerchen“.

Unser Kind, das wir heute durch Schwangerschaft und Geburt begleiten, wird irgendwo zwischen diesen beiden Extremen heranwachsen.

Kind „B“ wird möglicherweise bereits in der 37. Schwangerschaftswoche an die Grenzen seiner intrauterinen Kompensationsfähigkeit stoßen und jenen magischen endokrinen „Knopf“ drücken, der die Geburt auslöst. Es handelt sich hierbei um einen paradoxen Feed-back-Mechanismus zwischen dem Corticotropin releasing Hormon (CRH) und dem Prostaglandin E2. Beide Hormone stimulieren sich gegenseitig und führen zur Reifung der Portio, zur Destabilisierung der Eihäute (und somit früher oder später zum Blasensprung) sowie zur Reifung der Oxytozin-Rezeptoren. Durch den Stress, den unser Kind „B“ erlebt, wird dieses System vorzeitig angetriggert – und erlaubt ihm die „Flucht“ in die bessere, extrauterine Lebenswelt. Und das ist für dieses Kind völlig in Ordnung. Niemand würde auf die Idee kommen, das Kind auf seinen „errechneten Geburtstermin“ zu verweisen und die notwendige Geburt zu verhindern.

Kind „A“ dagegen wird seine individuelle intrauterine Lebenszeit bis zum Ende auskosten wollen – und das ist sein gutes Recht.

Jedes Kind zwischen den beiden Extremen wird seinen optimalen Zeitpunkt finden, die Geburt auszulösen – das eine früher, das andere später. Viele von uns sind immer weniger bereit, diesen individuellen Moment abzuwarten, sprechen ab 40+0 Schwangerschaftswochen von „Terminüberschreitung“ und bauen spätestens ab 41+3 Schwangerschaftswochen einen nicht unerheblichen Druck auf die Eltern und das Kind auf, was das Risiko der bevorstehenden Geburt eindeutig erhöht. Jede vierte bis fünfte Geburt wird in Deutschland eingeleitet – und eine Trendwende ist nicht in Sicht ▶ [12]. Die nicht hinreichend indizierte Geburtseinleitung gehört somit zu den bedeutsamsten Risikofaktoren der modernen Geburtshilfe.

1.1.2 Zusammenwirken von Mutter und Kind im Geburtsverlauf


Die Geburt ist keine fremdgesteuerte Automatie, die nach einem standardisierten Fahrplan abläuft, sondern ein teils vegetativ, teils somatisch regulierter aktiver Akt des Gebärens und des Geborenwerdens. Insbesondere die Rolle des Kindes als ein den Geburtsverlauf mitgestaltender Faktor wird in der modernen Geburtshilfe oft unterschätzt: Wir haben gelernt, das Kind sei ein passives „Geburtsobjekt“, das emotions- und gefühllos als „Geburtswalze“ dank der austreibenden Wehenkraft durch den Geburtskanal geschraubt wird.

Das Gegenteil ist der Fall: Beide – Mutter und Kind – nehmen am Geburtsprozess aktiv und symbiotisch teil. Das Kind erlebt die Geburt, hat wie seine Mutter Ängste und Schmerzen. Es beteiligt sich mit Körperhaltung und Beckenarbeit direkt an seiner „Austreibung“, die wir somit besser als Austritt im aktiven Sinne verstehen sollten. Eine harmonische Stabilität von Mutter und Kind und ein guter Kontakt zwischen beiden begünstigen die reibungslose Geburt. Angst, Schmerz, Störung und das Gefühl des Verlassenseins können die Geburt blockieren.

Die neueren Erkenntnisse der prä- und perinatalen Psychologie erfordern von Hebammen und Geburtshelfern einen konsequenten Prozess des Umdenkens: Die Aufrechterhaltung der während der Schwangerschaft gewachsenen Beziehung zwischen Mutter und Kind sowie die Stabilität ihrer emotionalen Bindung auch im für beide oft belastenden Moment der Geburt scheint für den Geburtsverlauf von größter Bedeutung zu sein. Ein an das Kind gerichtetes tröstendes Wort der Mutter vermag durchaus ein auffälliges CTG zu stabilisieren. Umgekehrt kann ein Abbruch des Kontakts zwischen Mutter und Kind eine Einstellungsanomalie provozieren oder eine messbare Panikreaktion beim Kind auslösen.

Ähnlich bedeutsam dürfte übrigens auch der väterliche Einfluss sein: Die beruhigende Hand und der achtsame Zuspruch des Mannes können Mutter und Kind wieder in ein harmonisches Gleichgewicht bringen und wahre Wunder für den Geburtsverlauf bewirken.

Und letztlich ist die Wahl der Gebärhaltung ein Beleg für das gestaltende Zusammenwirken von Mutter und Kind im Geburtsverlauf. Wir sind insbesondere seit der Einführung der CTG-Überwachung dazu übergegangen, manipulativ die Gebärende in eine unseren Interessen entgegenkommende Position zu bringen – und nicht selten ist dies die geburtsphysiologisch ungünstige Rückenlage. Dabei scheint jede Frau über ein intuitives Programm zu verfügen, das ihr die Wahl einer optimalen Position erlaubt. Insbesondere die Beobachtungen bei völlig unbeeinflusst verlaufenden Geburten offenbaren eine unerwartete Kreativität und Effizienz, die wir mit Sicherheit jeder Frau zutrauen dürfen.

Alle drei Bereiche, die fetomaternale Kommunikation, die aktiv gestaltende Mitwirkung des Kindes und die der Gebärenden, fügen sich zu einem Bild zusammen, das wir als partunatales Teamwork bezeichnen möchten: Mutter und Kind vollbringen gemeinsam das Werk der Geburt, stimmen sich miteinander ab, optimieren jeweils die Position des Beckens und des Köpfchens, trösten, beruhigen sich gegenseitig und machen sich Mut.

Es lohnt sich, über den Platz nachzudenken, den wir Hebammen und Geburtshelfer in diesem wohlabgestimmten System einnehmen.

In diesem Zusammenhang sei noch auf einen Randaspekt hingewiesen, der in Wirklichkeit eine ganz zentrale Rolle spielt: Jedes Säugetier wählt für die Geburt einen Ort größter Ruhe, Sicherheit und Intimität. Wird es beim Gebären gestört, stoppt es die Geburt, bis die Anforderungen an den Geburtsort wieder erfüllt sind. Wir sollten bei unseren Bemühungen, unsere Geburtsräume...

Erscheint lt. Verlag 5.7.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Gesundheitsfachberufe
Schlagworte frauenheilkunde • Geburtshilfe • Geburtshilfliche Notfälle • Gynäkologie • Haftpflichtprozesse • Hebammen • Hebammenarbeit • Notfallkarten • Reanimation Neugeborene
ISBN-10 3-13-244694-7 / 3132446947
ISBN-13 978-3-13-244694-6 / 9783132446946
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