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Praxis der medizinischen Trainingstherapie I (eBook)

Lendenwirbelsäule, Sakroiliakalgelenk und untere Extremität
eBook Download: EPUB
2023 | 4. Auflage
768 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-245482-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Praxis der medizinischen Trainingstherapie I -  Frank Diemer,  Volker Sutor
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1 Bindegewebe und Wundheilung


1.1 Bindegewebe


1.1.1 Bindegewebsphysiologie


Hauptindikationsgebiete in der medizinischen Trainingstherapie sind orthopädische und chirurgische Schadensbilder. Im weitesten Sinne geht es dabei um die Behandlung von traumatisierten oder geschwächten Bindegewebsstrukturen. Deshalb ist es wichtig, die physiologischen Gesetze, denen diese Strukturen unterliegen, zu verstehen.

In diesem Kapitel werden nur „passive“ Bindegewebe wie z. B. Knorpel oder Ligamente behandelt, wohl wissend, dass gerade die Plastizität dieser Strukturen diesen Begriff als unpassend erscheinen lässt. Die Muskulatur findet ihre Anerkennung im Kapitel „Trainingslehre“ (Kap. ▶ 2).

1.1.1.1 Bestandteile der Bindegewebe

Das Bindegewebe hat 2 Hauptbestandteile:

  • Zellen

  • Matrix

Zellen

Der Ursprung unserer Bindegewebszellen liegt im Mesoderm. Ausgehend davon entscheiden insbesondere das chemische Milieu und später die mechanische Belastung, zu welchen Zielzellen sich diese Vorläuferzellen entwickeln. Dort, wo eine gute Sauerstoffversorgung gegeben ist und hohe Scherkräfte wirken, entwickeln sich Fibroblasten. In sauerstoffarmen Geweben, die zusätzlich Kompressionskräften ausgesetzt sind, differenzieren sich dagegen Chondroblasten ( ▶ [225]).

Merke

Es besteht also für jede Zelle und damit für jedes Gewebe ein spezifisches chemisches und mechanisches Milieu, das für den Erhalt und die Funktion essenziell ist. Verändert sich dieses Milieu, führt dies primär zu einer schlechteren Funktion und sekundär zu einer Anpassung der Zelle.

Früh im vergangenen Jahrhundert wurden Zellen lediglich als flüssigkeitsgefüllte „Säckchen“ angesehen. Erst als die Plastizität und die damit verbundenen Abläufe genauer untersucht wurden, konnte man die komplexe Zellstruktur identifizieren. Die Zelle besitzt neben ihren Organellen ein Skelett, das sich von der Membran bis in den Kern fortsetzt. Mikrotubuli, Mikrofilamente und intermediäre Filamente sind Bestandteile des Gerüsts, das sowohl Elastizität als auch Kompressionsstabilität vermittelt.

Viele Manualtherapeuten bezeichnen diese Kombination aus elastischen und stabilen Elementen als Tensegrity. Diese geniale Bauweise ist nicht nur in unserem Bindegewebe zu finden, sondern wird auch beim Brücken- oder Gebäudebau umgesetzt, um mit geringem Materialaufwand Stabilität, aber auch Elastizität zu erreichen. Die Zelle wird dadurch für Verformung sensibel und kann so adäquat auf mechanische Einflüsse in ihrer Umgebung reagieren ( ▶ [100], ▶ [99]).

Das Zellskelett endet nicht an der Membran. Es setzt sich durch sogenannte Transmembranproteine (z. B. Integrine, siehe ▶ Abb. 1.3) auf die extrazelluläre Matrix fort ( ▶ [35], ▶ [172]). Durch diese Verbindung hält die Zelle Kontakt mit den anderen Bindegewebskomponenten, kann sich gegebenenfalls fortbewegen, sich stabil verankern oder einfach nur wahrnehmen, wie der Spannungszustand in der Matrix ist. Die Anzahl und Struktur der Integrine in der Zelle sind unter anderem abhängig von der mechanischen Belastung. So bilden sich bei physiologischen Trainingsreizen mehr Integrine aus, die für die Proliferation, Differenzierung der Zelle und im Weiteren für die Adaption von passivem Bindegewebe eine Schlüsselrolle spielen. Im Gegensatz dazu vermitteln Integrine, die sich an beschädigten Matrixkomponenten anlagern, bionegative Reize und können eine Gewebedegeneration unterstützen ( ▶ [135], ▶ [118]).

Neben diversen anderen Zellfunktionen, die nicht erörtert werden sollen, hat die Matrixsynthese sicherlich die größte Relevanz für die medizinische Trainingstherapie; die Bindegewebszelle produziert ihre Umgebung selbst, in Quantität und Qualität. Für den Therapeuten stellt sich nun die spannende Frage: Welchen Reiz braucht die Zelle, um ihre Funktion auszuführen, Matrix zu produzieren und damit ein widerstandsfähiges Gewebe zu bilden?

Matrix

Die Matrix hat 3 Hauptbestandteile:

  • Fasern

  • Grundsubstanz

  • Wasser, Mineralstoffe usw.

Fasern

Fasern darf man sich wie Seile vorstellen, die aus aneinandergeketteten Molekülen bestehen. Mehrere Seile werden übereinandergelegt und wie eine Kordel verdreht. Die fertige Faser kann entweder stabil (kollagene Faser) oder elastisch (elastische Faser) sein. Die Verteilung und auch der Aufbau von kollagenen und elastischen Fasern in einem Gewebe werden durch die mechanische Beanspruchung bestimmt. So werden allein 28 verschiedene Kollagentypen unterschieden, die spezifische Funktionen in den einzelnen Bindegeweben übernehmen ( ▶ [205]).

Die Funktion von „Seilen“ in einem Gewebe liegt auf der Hand. Sie sind für die Zugfestigkeit verantwortlich. Dementsprechend sind z. B. in Ligamenten mehr Fasern zu finden als im Nucleus pulposus der Bandscheibe.

Grundsubstanz

Grundsubstanz besteht aus Molekülen, die sich zu einem großen Aggregat, Proteoglykan (PG), zusammenfinden. Dabei werden sogenannte Glykosaminoglykane (GAG) über Verbindungsproteine an eine zentrale Eiweißkette gebunden. Viele PG werden über Verbindungsproteine an eine Hyaluronsäurekette gebunden, und es entsteht ein Proteoglykanaggregat ( ▶ Abb. 1.1a), im Knorpel z. B. Aggrekan. Die Bezeichnung der Proteoglykanaggregate ist in den verschiedenen Bindegewebstypen unterschiedlich.

Grundsubstanz ist für die Widerstandskraft gegen Kompressionskräfte verantwortlich. Dies liegt an der Anordnung der Glukosaminglykane sowie deren Ladung: die GAG sind innerhalb eines Proteoglykans wie die Borsten einer Bürste angeordnet, wobei die „Borsten“ eine negative Ladung aufweisen. Bei Belastung werden die GAG aufeinander zubewegt. Da sich gleichnamige Ladungen abstoßen, treten entgegengesetzte Kräfte („repulsive forces“) auf, die zu einer Abstoßung führen ( ▶ Abb. 1.1b).

Abb. 1.1 a–b Grundsubstanz.

Abb. 1.1a Aufbau eines Proteoglykans.

Abb. 1.1b Intermolekulare Abstoßungskräfte unter Entlastung und bei Belastung.

Wasser

Wasser als dritter Bestandteil der Matrix bindet sich an die Fasern und insbesondere an die Grundsubstanz. Wasser ist aus mechanischer Sicht ebenfalls für den Widerstand gegen Kompressionskräfte verantwortlich, da es nicht komprimierbar ist.

Insgesamt entsteht ein homogenes Gewebe, indem die Zelle als „intelligente Struktur“ den Auf- und Abbau steuert und die Matrix die Stabilität gebende Komponente darstellt. Jedes Bindegewebe besteht aus diesen Anteilen, lediglich das Verhältnis der Bestandteile und die molekulare Struktur der Gewebe sind unterschiedlich. So enthalten Gewebe, die besonders gegen Druckkräfte stabil sein müssen, mehr Grundsubstanz und Gewebe, die primär auf Zug belastet werden, mehr Fasern.

Zusammenfassung

  • Bindegewebe ist anpassungsfähig.

  • Die medizinische Trainingstherapie setzt Trainingsreize, um diese Anpassungsvorgänge im Sinne einer Funktionsverbesserung zu unterstützen. Hierfür sind Kenntnisse der Bindegewebsphysiologie unerlässlich.

  • Bindegewebe besteht im Wesentlichen aus Zellen und Matrix. Zellen steuern die Vorgänge im Gewebe, während die Matrix für Stabilität ...

Erscheint lt. Verlag 19.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Gesundheitsfachberufe
Schlagworte Bindegewebsphysiologie • MTT • Orthopädisch-traumatologische Reha • Sportphysiotherapie • Trainingslehre • Trainingsprogramme
ISBN-10 3-13-245482-6 / 3132454826
ISBN-13 978-3-13-245482-8 / 9783132454828
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