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Die vielen Gesichter des AD(H)S -  Helga Simchen

Die vielen Gesichter des AD(H)S (eBook)

Begleit- und Folgeerkrankungen richtig erkennen und behandeln
eBook Download: EPUB
2023 | 6. Auflage
254 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043558-2 (ISBN)
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AD(H)S bedeutet weit mehr als nur eine Beeinträchtigung von Konzentration und Verhalten. Seine genetisch bedingte Stirnhirnunterfunktion mit Reizüberflutung und Botenstoffmangel hat eine dichtere Vernetzung von Nervenbahnen im Gehirn zur Folge. Diese Besonderheit verleiht den Betroffenen nicht nur Nachteile, sondern auch besondere Fähigkeiten, über die sie leider bei ausgeprägter AD(H)S-Problematik nicht immer verfügen können. Eine rechtzeitige multimodale Behandlung mit individueller und problemorientierter lern- und verhaltenstherapeutischer Begleitung sowie dem Praktizieren eines Selbstmanagements kann verhindern, dass Selbstwertgefühl und Sozialverhalten in eine Negativspirale geraten, was zu Dauerstress sowie psychischen und psychosomatischen Erkrankungen führen kann. Das in der 6. Auflage vorliegende Buch zeigt Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, was sie tun können, damit sie nicht unter ihrem AD(H)S leiden, sondern dessen Vorteile nutzen können.

Dr. med. Helga Simchen ist Kinderärztin, Neuropädiaterin, Kinder- und Jugendpsychiaterin, Psychotherapeutin, Verhaltens- und Familientherapeutin.

Dr. med. Helga Simchen ist Kinderärztin, Neuropädiaterin, Kinder- und Jugendpsychiaterin, Psychotherapeutin, Verhaltens- und Familientherapeutin.

2         Wenn Üben allein nicht ausreicht


2.1       AD(H)S und Störungen in der Informationsverarbeitung


Sind die Aufnahme, Weiterleitung, Verarbeitung, Speicherung und Abrufbarkeit von Informationen im Gehirn wesentlich beeinträchtigt, spricht man von Störungen in der Informationsverarbeitung und der Wahrnehmung.

Ein Beispiel aus der Praxis: Jonas, ein 6-jähriger Junge mit vielen Wahrnehmungsstörungen und AD(H)S ohne Hyperaktivität


Jonas, sechs Jahre alt, besucht seit einem halben Jahr die erste Klasse. Er hat große Probleme, Schreiben und Lesen zu erlernen. Er verwechselt Buchstaben und kann sie nicht lautgetreu zu einem Wort zusammenfügen (hierfür gibt es den Fachausdruck auditive Wahrnehmungsstörung). Jonas rechnet gut, seine Zahlen geraten jedoch viel zu groß und zu eckig (dies wird als eine feinmotorische Störung bezeichnet).

Jonas’ Lehrerin meint, er sei ein Spätentwickler, die Mutter solle Geduld haben und nicht so viel »Stress« machen. Zu Hause dauern die Hausaufgaben Stunden, vor lauter Weinen und Radieren wird Jonas mit ihnen nicht fertig und ist mit sich stets unzufrieden. »Nie bekomme ich in der Schule ein lachendes Gesicht unter die Hausaufgaben gestempelt«, beklagt er sich oft. Damit Jonas und seine Familie nicht so viel Stress zu Hause haben, erlässt die Lehrerin für 14 Tage die Hausaufgaben. Das aber kann nicht die Lösung seiner Probleme sein, weshalb Jonas und seine Mutter meine kinderpsychiatrische Praxis aufsuchen.

Jonas’ bisherige Kindheitsentwicklung weist eine Verknüpfung aller nur möglichen Wahrnehmungsstörungen auf. Als Säugling war er bis auf seine Trinkschwierigkeiten pflegeleicht. Er konnte nicht an der Brust trinken und beim Trinken aus der Flasche verschluckte er sich oft (Störung der Mundmotorik und der Atmung). Brei konnte er zeitig und gut essen. Mit sechs Monaten robbte er auf dem Gesäß durch die ganze Wohnung, mit acht Monaten hangelte er sich aufrecht an den Möbeln entlang und mit zehn Monaten lief er frei. Dabei fiel er aber immer über seine eigenen Beine. Auch mit zwei Jahren wirkte er noch tollpatschig (gestörte Köperkoordination). Er lernte erst spät, richtig zu sprechen – vorher benutzte er seine eigene Sprache, die nur die Eltern verstanden (Störung der Sprachmotorik). Obgleich ihm der Ohrenarzt ein sehr gutes Hörvermögen bestätigte, reagierte Jonas nicht auf Zuruf, wenn er beschäftigt war (Filterschwäche). Er war nachts eher trocken als am Tage (veränderte Körperwahrnehmung).

Im Kindergarten war Jonas beliebt, er wollte nur nicht malen und basteln (Störung der Fein- und Visuomotorik). Er besaß eine feste Freundin und eine Lieblingskindergärtnerin. Das Anziehen seiner Kleider morgens vor dem Kindergarten war allerdings eine Katastrophe, alles kratzte ihn und war ihm zu eng. Dabei hatte Jonas ständig das Gefühl, die Hose rutsche (taktile Wahrnehmungsstörung). Er mochte nur weite Hosen anziehen, die Träger hatten. Seine T-Shirts mussten ebenfalls weit sein und durften seine Haut kaum berühren. War er einmal angezogen, gab es tagsüber kein Kratzen der Wäsche mehr. Fahrradfahren und Schwimmen hat er bis heute nicht richtig gelernt (Störung der Grobmotorik).

Beim Ballfangen spannt er den ganzen Oberkörper an und wartet, bis der Ball in seine Arme kommt – das sieht dann sehr steif aus (kinästhetische Wahrnehmungsstörung). Beim Schreiben hält er den Stift verkrampft und drückt viel zu stark auf (Störung der Feinmotorik). Er hält die Heftlinien nicht ein und vergisst ständig, wie einige Buchstaben geschrieben werden (Raumlagestörung). Was er von der Tafel abschreibt, kann man nicht entziffern (Blicksteuerungsschwäche). Er vergisst viel: »Ich habe nicht gehört, was die Lehrerin gesagt hat«, erklärt er dann häufig wütend (auditive Wahrnehmungsstörung). Seit der Einschulung hat sich bisher nichts gebessert.

In der Schule weint Jonas öfters und verlässt mit den Worten: »Ich kann das nicht«, den Klassenraum und wartet vor der Tür, bis ihn die Lehrerin tröstet und hereinholt. Zu Hause klagt er oft über Kopf- und Bauchschmerzen – manchmal sagt er, er wolle nicht mehr in die Schule gehen.

So wurde mir Jonas vorgestellt. Ich diagnostizierte bei ihm ein AD(H)S ohne Hyperaktivität, aber mit vielen Wahrnehmungsstörungen und einer beginnenden Lese-Rechtschreib-Schwäche bei guter Intelligenz. Die von mir im Rahmen eines mehrdimensionalen Behandlungsprogramms empfohlene Stimulanzientherapie lehnten die Eltern vorerst ab. Sie waren mit Jonas bereits bei einer Ergotherapeutin und wollten erst den Erfolg der dortigen Behandlung abwarten. Nach den ersten zehn Stunden bat ich die Ergotherapeutin um einen Bericht. Sie schrieb: »Jonas ist hypoton und sehr schnell reizüberflutet. Er hat eine geringe Konzentrations- und Ausdauerspanne. Er ist sehr motiviert und kommt gerne zur Therapie. Aufgrund seiner guten Motivation und der multimodalen Therapie ergibt sich eine gute Prognose.«

Bei Kindern mit AD(H)S reicht die Motivation allein leider jedoch nicht aus: Selbst, wenn sie noch so gern wollen und sich noch so sehr anstrengen, aufgrund ihrer neurobiologisch bedingten Defizite misslingt ihnen vieles. AD(H)S und Wahrnehmungsstörungen treten in der Praxis fast immer zusammen auf. Letztere sind jedoch bei jedem Kind unterschiedlich ausgeprägt, sodass ein AD(H)S in seiner Symptomatik nie dem anderen gleicht.

Was sind die wichtigsten Wahrnehmungsstörungen und wie kann man sie erkennen?


Wahrnehmungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S im Überblick


•  mangelnde Kontrolle der Körperhaltung und Gleichgewichtsstörungen

•  kinästhetische Wahrnehmungsstörungen

•  Körperschemastörungen

•  auditive Störungen (sprachliche Wahrnehmung)

•  visuelle und visuomotorische Störungen

•  Störungen der Fein- und Grobmotorik

•  Raumlagestörungen

•  Blicksteuerungsschwäche

•  taktile Wahrnehmungsstörungen bzw. Berührungsempfindlichkeiten an der Körperoberfläche

Die oben genannten Wahrnehmungsstörungen seien im Folgenden im Einzelnen erläutert.

1.            Mangelnde Kontrolle der Körperhaltung und Gleichgewichtsstörungen


Schwierigkeiten beim Stehen und Hüpfen auf einem Bein, beim Balancieren, beim Auf-einem-Seil-Laufen (vorwärts und rückwärts) sowie beim Absolvieren einer Standwaage oder Stehen eines Fliegers auf einem Bein. Das Halten des Gleichgewichtes ist mit geschlossenen Augen erheblich gestörter oder gar nicht möglich.

2.            Kinästhetische Wahrnehmungsstörungen


Gemeint ist die Wahrnehmung der eigenen Bewegungen auf der Grundlage von Informationen aus den Muskeln, Sehnen und Gelenken. Sie bestimmt die Körperkoordination, das Gangbild, das Abfangen beim Hüpfen. Kann das Kind Hampelmann springen, die Schwimmbewegungen von Armen und Beinen miteinander koordinieren, über den Kopf die Fingerspitzen beider Hände berühren, mit geschlossenen Augen den Finger benennen, der berührt wurde? Kann es einen Rhythmus nachklopfen, Bewegungen planen und koordinierte Bewegungsabläufe durchführen? Besteht Zweifel, ob Kinder unter kinästhetischen Störungen leiden, sind die Händigkeit und Fähigkeit zum Überkreuzen der Körpermitte immer mit zu überprüfen.

3.            Körperschemastörungen


Diese liegen vor, wenn bei Kindern keine Vorstellung vom eigenen Körper und der Beziehung der einzelnen Körperteile zueinander vorliegt. Den Kindern gelingt es nicht, aus dem Gedächtnis korrekt Körperproportionen wiederzugeben. Training: Körpergrenzen im Liegen aufmalen, Puppen und Tiere abmalen.

4.            Auditive Wahrnehmungsstörungen


Folge dieser Störungen ist eine auditive Differenzierungsschwäche mit verkürzter Hörgedächtnisspanne. Eine solche Differenzierungsschwäche tritt bei AD(H)S-Kindern sehr häufig auf und bildet bei ihnen eine der Hauptursachen für eine Rechtschreibschwäche. Die betroffenen Kinder...

Erscheint lt. Verlag 11.1.2023
Zusatzinfo 33 Abb., 1 Tab.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Allgemeines / Lexika
Schlagworte ADHS • ADHS bei Erwachsenen • ADHS bei Kindern • ADHS-Diagnosen • ADS • ADS-Kinder • Aggressives Verhalten • Angststörungen • Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom • Depression • Komorbiditäten • Konzentration • Lernstörung • Lernstrategien • Lese-Rechtschreib-Schwäche • Lese-Rechtschreib-Störung • Medikamente • Psychosomatik • Sucht • Verhaltensstrategien
ISBN-10 3-17-043558-2 / 3170435582
ISBN-13 978-3-17-043558-2 / 9783170435582
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