Duale Reihe Anamnese und Klinische Untersuchung (eBook)
Thieme (Verlag)
978-3-13-244311-2 (ISBN)
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1 Allgemeine Aspekte
Hermann S. Füeßl
1.1 Begegnung zwischen Arzt und Patient
Die Begegnung zwischen Patient und Arzt in der Sprechstunde stellt einen höchst ungewöhnlichen Vorgang dar: Zwei Unbekannte mit meist sehr unterschiedlichen Voraussetzungen treffen sich ohne Zeugen zu einem vertraulichen Gespräch.
In die Präsentation der Symptome vonseiten des Patienten und die Perzeption des Gesagten vonseiten des Arztes fließen beider Erlebnisse, Gefühle, Herkunft, Bildungsstand, Gemütslage und Weltanschauungen mit ein.
Die Begegnung zwischen Patient und Arzt in der Sprechstunde stellt eigentlich einen höchst ungewöhnlichen Vorgang dar: Zwei Unbekannte mit meist sehr unterschiedlichen Voraussetzungen treffen sich ohne Zeugen zu einem vertraulichen Gespräch. Der eine lädt seine Last ab und gewährt dabei innerhalb von Sekunden dem anderen Einblicke in sein Innerstes, das er einem anderen Menschen, selbst seinem engsten Angehörigen, vielleicht nie preisgeben würde. Der andere ist professionell daran gewöhnt, Klagen zu hören, und versucht, alle seine natürlichen und erlernten Fähigkeiten zu nutzen, um dem Patienten zu helfen. In die Präsentation der Symptome vonseiten des Patienten und die Perzeption des Gesagten vonseiten des Arztes fließen beider Erlebnisse, Gefühle, Herkunft, Bildungsstand, Gemütslage und Weltanschauungen mit ein. Auch insofern ist die Begegnung einmalig und nicht wiederholbar. Dies ist übrigens einer der Gründe für die schlechte Reproduzierbarkeit von Anamnesen. Insofern ist eine gute Anamneseerhebung zwar prinzipiell erlernbar, jedoch auch ein Teil der sog. „ärztlichen Kunst“. Das Ergebnis ist daher ein Unikat wie jedes Kunstwerk.
Im Idealfall bildet das Verhältnis Arzt–Patient eine „Insel der Seligen“ in der heute mehr denn je ausgeprägten Tendenz zu Misstrauen und Sich-Verstellen.
Im Idealfall bildet das Verhältnis zwischen Arzt und Patient eine „Insel der Seligen“ in der heute mehr denn je ausgeprägten Tendenz zu Misstrauen und Sich-Verstellen. Gerade deshalb trägt der Arzt ein hohes Maß an Verantwortung, den ihm entgegengebrachten Vertrauensvorschuss und die Informationen nach bestem Wissen und in integrer Weise zum Wohl des Patienten zu nutzen.
Sei es subjektiv durch vorhandene Ängste, sei es objektiv durch eine bedrohliche Krankheit – der Patient befindet sich gegenüber dem Arzt immer in einer unterlegenen Position.
Sei es subjektiv durch vorhandene Ängste, sei es objektiv durch eine tatsächlich oder vermeintlich bedrohliche Krankheit – der Patient befindet sich gegenüber dem Arzt immer in einer unterlegenen Position. Der professionelle Umgang mit dem Patienten und die institutionalisierte Beziehung zwischen Helfer und Hilfsbedürftigem bergen für den Arzt immanent die Gefahr, sich überlegen zu fühlen. Dieses Gefühl der Überlegenheit kann seinen Ausdruck in einem autoritären oder arroganten Verhalten des Arztes finden, das sich negativ auf die Arzt-Patienten-Begegnung auswirken wird.
Merke
Der den Patienten umfassend betreuende Arzt – in einer Zeit zunehmender Spezialisierung nötiger denn je – darf sich nicht nur als kompetenter Fachmann verstehen, sondern muss auch dem Patienten ein Gefühl von Empathie und Verbundenheit vermitteln. Nur so wird aus einer Arzt-Patienten-Begegnung eine vielleicht dauerhafte Arzt-Patienten-Beziehung ( ▶ Abb. 1.1).
Arzt-Patient-Beziehung: Hausbesuch
Abb. 1.1 Hausbesuch heute.
(Gina Sanders/stock.adobe.com – Stock photo. Posed by models (nachgestellte Situation))
1.2 Ziele der Begegnung zwischen Arzt und Patient
Angestrebtes Ziel der Begegnung zwischen Arzt und Patient ist die Befreiung des Patienten von seinen Beschwerden, zumindest aber deren Linderung.
Angestrebtes Ziel der Begegnung zwischen Arzt und Patient ist die Befreiung des Patienten von seinen Beschwerden, zumindest aber deren Linderung. Die demografische Entwicklung mit einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung bringt es mit sich, dass eine „Heilung“ im eigentlichen Wortsinn gerade im Bereich der Inneren Medizin eher die Ausnahme ist. Meist können funktionelle, degenerative und chronische Krankheiten nur in einer Art temporärer Balance gehalten werden. Dies bedeutet, dass die betroffenen Patienten über viele Jahre auf ihrem Lebensweg ärztlich begleitet werden müssen; je erfolgreicher die Medizin wird, umso länger.
„Ehe ein fähiger Arzt seinem Patienten eine Arznei verabreicht, macht er sich nicht nur mit der Krankheit, die er zu heilen gedenkt, vertraut, sondern auch mit den Lebensgewohnheiten und der Konstitution des kranken Menschen selbst.“ Dieses Wort Ciceros, obwohl mehr als 2000 Jahre alt, ist heute aktueller denn je und beleuchtet schlaglichtartig eines der wichtigsten Probleme der modernen Medizin.
Bei der ersten Begegnung sollte der Arzt eine erste Beziehung aufbauen, auf deren Basis ein vertrauensvolles Gespräch möglich ist, s. Kap. ▶ Grundregeln der Arzt-Patienten-Kommunikation. Kernpunkt des ersten Gesprächs ist die Gewinnung von Information durch den Arzt im Rahmen der Anamnese.
Bei der ersten Begegnung ist es zunächst Aufgabe des Arztes, eine erste Beziehung aufzubauen, auf deren Basis ein vertrauensvolles Gespräch möglich ist. Dies wird erreicht durch höfliches, freundliches und zugewandtes Verhalten, s. Kap. ▶ Grundregeln der Arzt-Patienten-Kommunikation. Kernpunkt des ersten Gesprächs ist die Gewinnung von Information durch den Arzt im Rahmen der Anamnese. Diese beginnt mit der Schilderung des führenden Symptoms.
Merke
Versuchen Sie, durch gezieltes Nachfragen bei den Angaben des Patienten und durch Fragen zum ▶ Systemüberblick dem Patienten die Möglichkeit aufzuzeigen, seine Krankheit in Bezug auf seine gesamten Lebensumstände zu sehen.
Konzentriertes Zuhören und Fragen zur früheren Anamnese, Berufs- und Familienanamnese liefern wichtige Informationen und vermitteln dem Patienten den Eindruck von Sorgfalt und Mitgefühl. Ähnliches gilt für die körperliche Untersuchung.
Konzentriertes Zuhören und Fragen zur früheren Anamnese, Berufs- und Familienanamnese liefern nicht nur wichtige Informationen, sondern vermitteln auch dem Patienten den Eindruck von Gründlichkeit, Sorgfalt und Mitgefühl. Ähnliches gilt für die körperliche Untersuchung, die deshalb auch nicht vernachlässigt werden sollte, selbst wenn der Arzt die Wahrscheinlichkeit für gering hält, dabei entscheidende Hinweise für die Diagnose zu erhalten.
Am Ende der ersten Begegnung sollten Sie die erhobenen Befunde mit dem Patienten besprechen und ihm Ihre vorläufigen Überlegungen zum weiteren Vorgehen mitteilen. Gemeinsam müssen diagnostisches Vorgehen, evtl. auch schon therapeutische Maßnahmen und Ziele festgelegt werden.
Anhand Ihres Verhaltens wird der Patient auch entscheiden, ob er mit Ihnen eine stillschweigende Übereinkunft erzielen kann oder nicht. Letztlich haben daher die meisten Ärzte die Patienten, die am besten zu ihnen passen.
Am Ende der ersten Begegnung sollten Sie die erhobenen Befunde mit dem Patienten besprechen und ihm Ihre vorläufigen Überlegungen zum weiteren Vorgehen mitteilen. Gemeinsam müssen das diagnostische Vorgehen, evtl. auch schon die therapeutischen Maßnahmen und Ziele festgelegt werden. Anhand der Reaktion des Patienten erfahren Sie vieles über dessen Grundeinstellung zur Medizin an sich. Ist er eher kritisch gegenüber medizinischen Maßnahmen eingestellt, lässt er vertrauensvoll alles über sich ergehen, möchte er „letzte Sicherheit“ durch apparative Diagnostik, neigt er zur Aggravation oder Dissimulation, bevorzugt er Zuwarten oder möchte er alles am liebsten operativ gelöst haben. Die denkbaren Möglichkeiten sind hier unbegrenzt. Anhand Ihres Verhaltens wird der Patient auch entscheiden, ob er mit Ihnen eine stillschweigende Übereinkunft erzielen kann oder nicht. Letztlich haben daher die meisten Ärzte die Patienten, die am besten zu ihnen passen – ein Phänomen, das beim Wechsel von Praxisinhabern immer wieder zutage tritt.
Die hier geschilderten Gesichtspunkte spielen vor allem beim geplanten Arztbesuch in der Praxis eine Rolle. Sie treffen prinzipiell aber auch auf Patienten im Krankenhaus, in der Notaufnahme oder beim Hausbesuch zu, wenngleich sich die Gewichtung verschiebt: Kommt ein Patient mit starken abdominellen oder Thoraxschmerzen, so wird man sich zunächst auf das akute Problem konzentrieren. Die Variationsbreite der ärztlichen Vorschläge und die Entscheidungsmöglichkeiten des Patienten sind aus begreiflichen Gründen geringer, psychosoziale Aspekte spielen im Gespräch zunächst noch keine Rolle.
Merke
Das Ziel der...
Erscheint lt. Verlag | 5.4.2022 |
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Reihe/Serie | Duale Reihe | Duale Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete |
Schlagworte | Anamnese • Anamneseerhebung • Arzt-Patienten-Beziehung • Aukulation • Blickdiagnosen • Gesprächsführung • Herz- und Lungengeräusche • Klinische Untersuchung • Körperliche Untersuchung • Palpation • Patientengespräch • Perkussion • Stethoskop |
ISBN-10 | 3-13-244311-5 / 3132443115 |
ISBN-13 | 978-3-13-244311-2 / 9783132443112 |
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Größe: 102,9 MB
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