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Ergotherapie - durch Betätigung und Klientenzentrierung Teilhabe verbessern (eBook)

35 Fallgeschichten aus der Praxis

Ellen Romein (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
456 Seiten
Thieme (Verlag)
978-3-13-243782-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ergotherapie - durch Betätigung und Klientenzentrierung Teilhabe verbessern -
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<p><strong>Perfekter Theorie-Praxis-Transfer</strong></p> <p>'Frau M. geht wieder ins Museum' - nur eine von 35 realen Fallgeschichten, die Ihnen die international bekannte Ergotherapeutin Ellen Romein und ihre Mitautorinnen in diesem Buch vorstellen.</p> <p>Ellen Romein steht wie keine andere für das derzeitige Paradigma in der Ergotherapie. Erleben Sie die betätigungs- und klientenzentrierte Arbeitsweise sehr anschaulich und mit allen Problemen und Unschärfen. Holen Sie sich Anregungen, wie Sie eigene Lösungen finden und so Ihre Klienten und Klientinnen individuell unterstützen können:</p> <ul> <li>verschiedene therapeutische Settings wie Krankenhaus, Kindergarten, Altenheim oder zu Hause</li> <li>jeweils mit Betätigungsanamnese und -zielen, Teilhabestatus und Maßnahmenplan</li> <li>unter Berücksichtigung von Rahmenbedingungen wie sozialem Umfeld oder Umweltfaktoren</li> </ul> <p>Dieses Buch richtet sich an erfahrene Praktiker, Berufsanfänger, Lehrende sowie Studierende und Auszubildende.</p> <p>Mit einem Geleitwort von Helene J. Polatajko.</p>

Teil I Drei Praxisbeispiele zum leichten Einstieg


© Kirsten Oborny/Thieme Gruppe |

Drei Praxisbeispiele zum leichten Einstieg

Ellen Romein

Betätigung ist das, was wir im Alltag tun. Es ist etwas Konkretes; wir können es sehen, hören, riechen, fühlen. Theorien über Betätigungen sind dagegen etwas Abstraktes. Was in der Theorie logisch und einfach erscheint, ist in der Praxis überraschenderweise schwer umzusetzen. Anhand von 3 Praxisbeispielen werden Elemente aus Betätigung und Klientenzentrierung dargestellt. Wir gehen es an wie eine Wanderung: Sie stehen in einer Landschaft (der Betätigungswelt) und müssen sich entscheiden, wohin Sie gehen wollen. Es gibt viele Möglichkeiten und Richtungen, leichte und bergige Wege, lange und kurze Wege etc. Sie brauchen die richtige Ausrüstung, Informationen über das Land. Sie stehen da, mit einem Klienten. Was machen Sie jetzt?

Die ersten 3 Praxisbeispiele beschreiben einige Wege mit Klienten in der Betätigungslandschaft. Es sind Momentaufnahmen, geprägt von Theorien, Erfahrungen, Konzepten und Vorgehensweisen. In den Beispielen gibt es Anmerkungen und Impulse zum Nachdenken. Diese Praxisbeispiele sind als Einstieg in die nachfolgenden Teile zu verstehen.

Praxisbeispiel 1: Herr B. kann sich nicht anziehen

Ich habe vor langer Zeit als frisch ausgebildete Ergotherapeutin in der neurologischen Abteilung in einem Amsterdamer Krankenhaus gearbeitet. Mein Patient war Herr B. Der ältere Herr litt seit einem Schlaganfall unter einer Halbseitenlähmung und einer leichten Dyspraxie.

Impuls

Selbstversorgung – Produktivität – Freizeit

Manche ergotherapeutischen Modelle teilen Betätigungen in die Bereiche Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit ein. Passt diese Einteilung auch für Patienten in einem Krankenhaus? Gibt es Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit auch im Krankenhaus? Funktioniert diese Einteilung immer, oder gibt es auch andere mögliche Einteilungen, die besser auf diese Zielgruppe passen?

Herr B. hatte zwar Fortschritte gemacht, aber mit dem Ankleiden hatte er noch Probleme. Mittels vieler Ideen und Lösungsstrategien wurde wochenlang morgens enthusiastisch das Ziel verfolgt, dass sich Herr B. wieder allein anziehen kann. In meinen – unerfahrenen – Augen (hier habe ich meine eigenen Normen zugrunde gelegt, was man natürlich nicht tun sollte) war das selbständige Anziehen für jeden erwachsenen Menschen Teil einer wichtigen Betätigungsrolle. Unmittelbar vor seiner Entlassung verriet mir Herr B. allerdings, dass seine Ehefrau ihm früher ebenfalls beim Anziehen geholfen habe, da er Hüftprobleme habe. Entsprechend solle ich mir keine Sorgen machen, dass er das selbständige Ankleiden nicht beherrsche. Es sei für ihn und seine Frau kein Problem, wenn sie ihn weiterhin unterstütze.

Ich war erschüttert, hatte ich doch wochenlang umsonst mit Herrn B. das selbständige Anziehen geübt. Ich hatte schlichtweg vergessen, meinen Klienten zu fragen, welche Rollen für ihn wichtig sind, und ob das selbständige Anziehen ein Anliegen für ihn ist. Stattdessen hatte ich als Grundlage einen Selbständigkeitsindex (FIM) benutzt, und da war das Anziehen auffällig niedrig bewertet worden. Tatsächlich hatten Herr B. und seine Frau beim Waschen und Ankleiden schon früher feste Rollen gehabt: Sie hilft ihm, und er lässt sich helfen, er hatte schon länger die Rolle als hilfsbedürftige Person beim Anziehen. Für beide war das so in Ordnung.

Die Rolle, die für Herrn B. wichtig war und bei der er nun Probleme benannte, war die Rolle als Sammler von Ansichtskarten. Herr B. sammelte alte Ansichtskarten von Amsterdam und Haarlem. In dieser Rolle hatte er viele Kontakte und eine beeindruckende Korrespondenz mit anderen Sammlern. Er besuchte regelmäßig Sammlerbörsen und war fast den ganzen Tag mit seinen Ansichtskarten beschäftigt. Später habe ich Herrn B. zu Hause ambulant behandelt. Er besaß zehntausende alter Ansichtskarten in mehreren großen Schubladen und Schränken. Gemeinsam haben wir nach Möglichkeiten für ihn gesucht, seine große Korrespondenz weiterzuführen.

Praxisbeispiel 2: Herr D. kann sich anziehen, tut es aber nicht

Ein weiteres Beispiel aus den Niederlanden: Ein italienischer Herr erhielt wegen seiner massiven Arthrose ein neues Hüftgelenk. Er wohnte schon über 30 Jahre mit seiner (großen) Familie in den Niederlanden. Im Krankenhaus in Amsterdam wurde ihm gezeigt, wie er sich mit Hilfsmitteln ankleiden konnte, was ihm gut gelang. Zu Hause aber war der Signore nach 4 Wochen immer noch im Schlafanzug. Er verbrachte die meiste Zeit im Bett, obwohl sein Hüftgelenk gut eingewachsen war und er angab, keine Schmerzen zu haben.

Impuls

Zu Hause ist alles anders

In der Rolle als kooperativer Patient im Krankenhaus hat Herr D. gemacht, was die Therapeuten und Ärzte von ihm wollten. Die Umsetzung zu Hause hat aber nicht geklappt. Das ist leider oft der Fall. Welche unterschiedlichen Gründe kann es dafür geben, dass im Krankenhaus Aktivitäten gelingen, zu Hause Betätigungen aber nicht?

Der Arzt verordnete Ergotherapie zur Verlaufskontrolle und mit einer sozialen Indikation. Das Ankleiden unter Verwendung der Hilfsmittel wurde nochmals geübt, wobei es keinerlei Probleme gab. Der Italiener zog sich aber weiterhin nicht an und blieb im Pyjama im Bett. Beim 3. Besuch der Ergotherapeutin war diese überrascht, denn ihr Klient war komplett angezogen. Er erklärte hierzu: „Jetzt bin ich nicht mehr krank, also muss ich mich jetzt wieder anziehen. Vorher war ich krank, darum musste ich im Bett bleiben.“ Für diesen Klienten war die Rolle als „Kranker“ verbunden mit dem Liegen im Bett und der Kleidung Pyjama. Der Klient erklärte weiter, dass dies in seiner Familie so üblich war und noch ist.

Praxisbeispiel 3: Frau L. bringt den Müll raus

Frau L. ist 44 Jahre alt und wohnt mit 2 Kaninchen und 2 Meerschweinchen in einer renovierungsbedürftigen, aber gepflegten Wohnung. Sie traut sich nicht alleine aus ihrer Wohnung, z. B. um den Müll wegzubringen. Sie hat seit einigen Jahren eine gesetzliche Betreuerin, mit der sie einen guten Kontakt hat. Einmal wöchentlich kommt außerdem eine Betreuerin der Sozialstation, die mit ihr zum Einkaufen fährt und im Haushalt hilft. Die Beziehung zu dieser Sozialbetreuerin ist etwas angespannt: „Sie behandelt mich manchmal wie ein Kind und ist oft nicht gut gelaunt.“ Frau L. sagt, sie fühle sich dadurch minderwertig.

Ihre Kindheit war sehr schwierig, ihre Eltern waren streng, sie wurde auch geschlagen. Sie wurde als Kind 10 Jahre mit starken Medikamenten behandelt, auf Basis einer angenommenen Epilepsie, was sich später als falsche Diagnose herausstellte. Die Nebenwirkungen behindern sie bis heute. Danach bekam sie Schmerzmedikamente gegen Migräne, wurde davon abhängig, und es entwickelte sich eine Nikotin- und Koffeinabhängigkeit. Sie hat eine Sonderschule besucht, ist aber nie einer Arbeit nachgegangen. Ihre Eltern sind vor ein paar Jahren gestorben. Nach Aufnahme in eine Entzugsklinik ist sie jetzt ohne Medikamente und raucht nur noch einige (ca. 5) Zigaretten am Tag.

Sie bekommt derzeit 1-mal wöchentlich eine Doppelstunde Ergotherapie als Hausbesuch, aufgrund der Diagnosen agitierte Depression (ICD-10 F32) und Halluzinose (ICD-10 F06.0).

Frau L. reagierte positiv auf das Angebot, ein Tagesprofil zu erstellen (s. Kap. ▶ 38.2). Sie hat dies zusammen mit der Ergotherapeutin gemacht. Frau L. kann nicht gut Deutsch schreiben und hat es sich nicht alleine zugetraut. Sie hat ihren Tagesablauf erzählt, die Ergotherapeutin hat es für sie deutlich lesbar aufgeschrieben. Da an einem Tag nicht so viel passiert, wie sie selbst sagt, hat sie berichtet, was alles in einer Woche geschieht.

Tagesprofil von Frau L. für 1 Woche

Montag bis Freitag:

  • Aufstehen zwischen 6.00 und 8.00 Uhr ohne Wecker, danach frühstücken (1 Aufbackbrötchen, Kaffee) und 1 Zigarette

  • 8.30 Uhr Versorgung der Haustiere mit Futter und Wasser, Dienstag und Freitag Käfig reinigen

  • Danach Staub saugen und Bett machen. Manchmal kommt eine Nachbarin zum Rauchen und Erzählen.

  • Jeden Mittag zwischen 13.00 und 13.30 kocht sie Mittagessen.

  • Nach dem Essen und Abwaschen gegen 14.00 Uhr legt sie sich gerne für eine Stunde hin und ruht sich aus oder kuschelt mit den Tieren.

  • Nachmittags gegen 15.00–15.30 Uhr trinkt sie 1 Tasse Kaffee und isst 1 Marmeladenbrot oder Obst, je nach Finanzlage.

  • Danach hört sie gerne Musik, sieht fern oder eine DVD, spielt mit den Tieren oder steht auch oft am Fenster, um mit Nachbarn zu sprechen.

  • Gegen 18.30 Uhr bereitet sie sich Abendessen zu und gegen 19.00 Uhr hört sie sich Nachrichten an.

  • Danach hört sie Musik, denkt viel nach, was sie falsch gemacht hat und was sie verbessern könnte.

  • Zwischen 22.00 und 23.00 Uhr geht sie zu Bett....

Erscheint lt. Verlag 7.7.2021
Co-Autor Carmen Spielbichler, Melanie Hessenauer, Elisabeth Kalsperger
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Gesundheitsfachberufe
Schlagworte Betätigung • Betätigungsanamnese • Betätigungsorientierung • Betätigungszentrierung • Betätigungsziele • CMOP-E • CO-OP • COPM • Ergotherapie • Klientenzentrierung • Modellbasiert • PEOP • Tagesprofil • Teilhabe • teilhabeorientiert • Teilhabe- und Betätigungsstatus
ISBN-10 3-13-243782-4 / 3132437824
ISBN-13 978-3-13-243782-1 / 9783132437821
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