Bewusstsein und Unsterblichkeit (eBook)
120 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-1436-2 (ISBN)
Carl Ludwig Schleich (1859-1922) hat als deutscher Chirurg eine Methode zur lokalen Anästhesie (Infiltrationsanästhesie) entwickelt. Er promovierte 1887 in Greifswald. Noch in der Kaiserzeit wurde er zum Professor ernannt (1899). Ab 1900 übernahm er die Leitung der Chirurgischen Abteilung am Krankenhaus der Gemeinde Groß-Lichterfelde. Schleich publizierte mehrere kleine Bücher. Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) verleiht jährlich den Carl-Ludwig-Schleich-Preis für "bedeutsame Arbeiten auf dem Gebiet der Schmerzforschung".
1. Das Ich und die Seele
In einer Zeit, in der für uns alle leider Grund genug vorhanden ist, für unsere äußere Existenz die schlimmsten Befürchtungen zu hegen, kehrt sich unwillkürlich der Blick ins eigene Innere, um hier wenigstens unsere seelische Existenz vor der Bedrohung zu bewahren. Ewig sind die Fragen, die wir hier aufwerfen. Handelt es sich doch um die letzten Dinge: das Ich und die Unsterblichkeit, denen diese folgenden sechs Vorträge gewidmet sind. Wenn wir so eine begriffliche Innenschau vorzunehmen beginnen, so ist von vornherein streng formal festzustellen, dass die Bezeichnung für sogenannte seelische Dinge durchaus schwankend ist.
Bei solcher Revision stoßen wir zuerst auf zwei große Begriffe, die unser heutiges Thema ausmachen. Das, was uns selbst am eigentümlichsten ist, was unser Individuum ausmacht, das Ich, wird nicht nur in Romanen, sondern auch in der gewöhnlichen Sprache häufig mit dem Begriff der Seele verwechselt. Der Missbrauch dieser Worte ist so ungeheuer, dass es kaum einen Begriff dieser Art gibt, der in einer ganz bestimmten Umschreibung von allen Menschen in gleichem Sinne gebraucht wird. Man sagt: Seele, Herz, Gemüt und meint damit dasselbe. Oder man sagt: Verstand, Geist, Vernunft und bedenkt nicht, dass wir diese Dinge nur so gebrauchen sollten, wie sie einen physiologischen Sinn umschließen. Der Begriff der Seele ist das tiefste Kapitel unserer Geisteswissenschaft.
Was ist die Seele in unserem Leben? Wo ist sie? Zu finden ist sie nicht. Gerade im Krieg mit seiner enormen Experimentierarbeit hat jeder von uns, der beim Verbändemachen zugesehen hat, sich davon überzeugen können, dass, wenn esslöffelweise die Hirnsubstanz aus dem Kopf herausfließt, dies unmöglich Seelensubstanz sein kann. Wer verfolgt hat, wie die Verletzungen des Gehirns der Seele des Verletzten auch nicht das geringste antun konnten, der muss den Glauben aufgeben, als könne die Seele im Gehirn sitzen als sei die Seele ein Produkt der Gehirntätigkeit wie die Galle ein Produkt der Leber; und zwar deshalb nicht, weil keine Stelle zu finden ist, durch deren Verletzung die Seele ausgeschaltet würde.1 Mit demselben Recht, mit dem man das Gehirn zu dem Sitz der Seele ernannt hat, könnte man sagen, die Schilddrüse z. B. sei der Sitz der Seele. Denn wenn Kocher in Bern uns gelehrt hat, dass, wenn man einem Menschen die ganze Schilddrüse entferne, man ihn zum Idioten stemple, dass also ein der Schilddrüse frühzeitig beraubter Goethe ein Idiot statt Deutschlands strahlendster Genius geworden wäre, so könnte man mit einigem Recht auch sagen: Der Sitz der Seele ist die Schilddrüse! Oder irgendeine andere Drüse, denn wir wissen auch von anderen Drüsen, dass ihre Säfte einen ungeheuren Einfluss auf unsere Stimmung, auf unser Behagen —- positiv oder negativ — haben. Die Griechen haben die Seele unter das Zwerchfell verlegt; wir werden noch sehen mit einigem Grund. Jedenfalls besteht dazu ebenso viel Berechtigung, als wenn die Inder die Seele in einen zapfenartigen Anhang des Gehirns verlegen, in eine kaum kirschgroße Nervenzellmasse, die auf einem knöchernen Sesselchen der sella turcica, thront; alles das sind deshalb vergebliche Versuche, weil die Seele dem Körper überhaupt nicht angehört, jedenfalls nicht in dem Sinne, als wäre irgendeine Substanz überhaupt imstande, etwas Seelenhaftes zu schaffen. Die Seele ist kein Produkt des Körpers, sie ist nicht der volle Akkord aus allen Orgeltönen, der hervortritt ins All, sondern die Seele ist erst die metaphysische Schöpferin des Körpers. In einer einzigen belebten Zelle haben wir zum Mindesten schon eine Art Hemmung, die spezifisch ist, die sich die Seele geschaffen hat. Was wir an der Wissenschaft studieren, sind nirgends die Kräfte. Auch die Seelen- oder Lebenskraft ist eine Form der Allkraft. Alle Kräfte sind nur Äste eines Stammes. Die Kraft an sich ist schon metaphysisch, wir können ihr mit unseren Verstandesaktionen nicht nahekommen, wir können nichts über sie aussagen, so wenig wie der Spiegel vom Licht, so wenig wie das Prisma etwas vom bunten Farbenband behaupten könnte, so wenig wie eine Uhr etwas aussagen könnte über den, der sie geschaffen hat, so ist auch der menschliche Körper nicht imstande, das Wesen der Seelenkräfte zu ergründen. Das ist ja auch gar nicht Gegenstand der Wissenschaft. Wohl möchten wir es ergründen, aber nur durch Ahnung ist es zu erreichen; die Religion, die Kunst und die Philosophie und sämtliche Geisteswissenschaften suchen ihr näherzukommen. Der Naturforscher aber muss ehrfurchtsvoll stillstehen vor dem Wunder der Kraft. Denn wir wissen z. B. nichts vom Wesen der Schwerkraft, dem Magnetismus, der Elektrizität. Wir wissen von ihnen nur etwas, indem wir die Widerstände studieren, in welchen diese proteusartige Urkraft, die identisch ist mit der Beherrschung der Welt, sich spaltet. In demselben Augenblick, wo eine neue Hemmungsform geschaffen wird, ist scheinbar eine neue Kraft da. Hätten wir nicht die Elektrizität in Hemmungsdrähten aus Seide abgefangen, so hätten wir nie von einer neuen Kraft sprechen können. Und so werden immer so viele andere scheinbar neue Kräfte entdeckt werden, als irritable spezifische Hemmungen der Urkraft auffindbar sind.
Wenn also die Seelenkraft nur eine Form der Welturkraft ist, so haben wir zu studieren: Wie kommt dieser unser Körperapparat, die Gehirnorganisation mit einbezogen dazu, Wirkungen der Welt in uns und außer uns zu beobachten und sie zu studieren bis in die minuziösesten Einzelheiten?
In demselben Augenblick, als aus einer Unzahl von Einzelelementen, naturwissenschaftlich als Entwicklung gedacht, das belebte Eiweißkörnchen sich gebildet hatte, war ein neuer Hemmungsfaktor geboren, der in noch nicht da gewesener neuer Form die proteusartige Urkraft spaltete und sie zerlegte.
„Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“, sagt Faust. Und so ist alles, was aus unser Innenprisma, auf die Äolsharfe in uns von dem ewig kreisenden, sich ewig bewegenden kosmologischen Hintergrundfeld abströmt, gleichsam wie ein Aufschäumen der Urkraft am Gestade der Eiweißmaterie zu betrachten, die sich hinaufgeschwungen hat bis zu dem Bewusstsein eines Ichs.
All die Dinge, die ich hier nannte: Geist, Bewusstsein, Verstand, Gemüt, Ich, Unterbewusstsein, alles das sind Funktionen der Seele im Körper, sie sind Apparatwirkung, sie haben aber mit der Seele direkt nichts zu tun. Denn die Seele hat sich diese Apparate geboren, hat sie sich gleichsam zu einem grandiosen Spiel mit Individualitäten geschaffen und ist dabei, die Urmaterie immer höher zu steigern, sodass man sagen kann: Der Sinn der Welt ist die Hochsteigerung der Materie zu höchster Geistigkeit. Dieser Prozess geht immer weiter, er kann nicht stillstehen, wahrscheinlich umfasst er den gesamten Ethosbegriff: unsere Sehnsucht, unser Kunstverlangen fließt in diesen Rhythmus der schwingenden Seele hinein — aber etwas aussagen kann der Naturforscher davon nicht. Und so habe ich mich beschieden, zu untersuchen, wie denn der Apparat, der in so wunderbarer Weise als ein Millionentelefon in uns eingekapselt liegt, antwortet auf die Regungen der Welt, was sich von Gemütsregungen und Fantasie in uns vollzieht, wenn ich z. B. über den Gegenstand, über den ich jetzt hier spreche, nachdenke; was geschieht, wenn ich den Bleistift nehme; was geschieht, wenn ich schreibe, wenn ich lachen muss (muss! denn es gibt Reflexe) — alle diese Dinge möchte ich versuchen nicht philosophisch zu entwickeln in ihren gesamten Abgrenzungen, sondern an die Stelle dieser Begriffe möchte ich feste physiologische Vorgänge setzen, die auch den reinen Geisteswissenschaftler zwingen müssten, diese Methode anzuerkennen, falls sie zu Resultaten führt, die über die Betrachtungen, welche die Philosophie kennt, hinausreichen. Es gibt keine bessere Erklärung des Denkprozesses als diejenige, die Immanuel Kant geliefert hat. Ohne etwas von dem feineren Bau der Nerven oder des Gehirns zu wissen, hat er Schlüsse gezogen auf die einfache, vernunftmäßige Tätigkeit, die erstaunlich sind, wenn wir sie unter die Lupe unseres heutigen Wissens vom Naturgeschehen ziehen werden.
Wenn Sie mir die Freude machen würden, diese Vortragsfolge aufmerksam zu hören, dann wäre es Ihnen ein Kleines und Leichtes, Kant noch einmal zu lesen und ihn ganz zu verstehen. Denn für alle die Begriffe, die Kant umschreibt, kann man den Begriff von einzelnen „Gehirnfunktionen“ setzen, und fast alles, was er subjektiv ausgesonnen hat, hat einen objektiven Tatbestand. Also wenn wir diese Dinge —das Rauschen der Kraftzustände an den Gestaden unseres Gehirns —- studieren wollen, so müssen wir uns über den Bau des Gehirns völlig klar werden. Ich kann das nur skizzenhaft so weit tun, als es zum Verständnis des Folgenden gehört. Aber ich glaube, dass diese Skizze, die ich hier versuchen werde, von Nutzen sein soll auch für die Herren Naturforscher und Mediziner, die ich die Ehre habe, unter anderen hier zu begrüßen.
Wir haben nämlich nicht ein Gehirn, sondern eigentlich drei, und von dem einen großen Gehirn aus geschieht noch eine Zweiteilung. Der Krieg mit seinen Experimentalverletzungen...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie |
ISBN-10 | 3-7534-1436-0 / 3753414360 |
ISBN-13 | 978-3-7534-1436-2 / 9783753414362 |
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Größe: 1,2 MB
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