Praxisbuch EEG (eBook)
608 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-242209-4 (ISBN)
1 Einleitung und Übersicht
1.1 Methode zwischen klinischem Alltag und Wissenschaft
Das Elektroenzephalogramm (EEG) findet in seiner fast 90-jährigen Geschichte in vielen Bereichen der Neuromedizin eine breite Anwendung. Es dient weiter als ein unverzichtbares diagnostisches Verfahren in der täglichen Routine der klinischen Neurologie. Darüber hinaus dient das EEG auch als etablierte Methode der neurologischen Elektrophysiologie (Teilbereich der Neurophysiologie) wissenschaftlichen und experimentellen Fragestellungen. Die Methode ist aus verschiedenen Gründen nicht immer im Fokus der täglichen Praxis, es gibt aber kaum klinische Situationen bei Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS), bei denen es nicht hilfreiche Zusatzinformationen liefert.
Bezüglich wissenschaftlicher Anwendungen hat man gerade den Eindruck, dass das EEG in den letzten Jahren wieder etwas mehr an Bedeutung gewonnen hat, vielleicht auch, weil man insbesondere aufgrund der Verbindung zwischen Strukturen des Gehirns und Funktionalität auch in Kombination mit dem Magnetenzephalogramm (MEG) neue interessante Forschungsansätze findet. So konnten mithilfe des EEG und des MEG beispielsweise neue Erkenntnisse über die Vernetzung des Gehirns bei der Erkennung und Lokalisation von Sprachfunktionen gewonnen werden ▶ [18], ▶ [20].
1.2 Die klinische Bedeutung des EEG
Das EEG gehört über die vergangenen Jahrzehnte noch immer zur Basisdiagnostik im klinischen Alltag der Neurologie, Psychiatrie, Neurochirurgie und angrenzender Fächer, auch wenn es in der Praxis immer wieder Unsicherheiten bezüglich der Zielsetzung und Indikationen der Methode gibt. Eine Übersicht über das breite Indikationsspektrum gibt Kap. ▶ 1.5 (Indikationen des EEG). Sicherlich sind die meisten wissenschaftlichen und klinischen Fortschritte der Methode innerhalb der ersten Jahrzehnte nach der Entdeckung des EEG gemacht worden ▶ [9]. Das heißt aber nicht, dass nicht noch weitere Meilensteine in der Entwicklung möglich sind. Ausgehend von der Digitalisierung haben sich gerade in den letzten Jahren weitere sehr interessante klinische und wissenschaftliche Ansätze ergeben, die rasch in die Patientenversorgung transferiert worden sind. Parallel zu den Fortschritten der Digitalisierung und Datenverarbeitung entwickeln sich auch die diagnostischen Möglichkeiten des EEG. Diese Tendenz spiegelt auch die steigende Anzahl an Publikationen (Pubmed) wider ( ▶ Abb. 1.1).
Publikationen in Pubmed zum Stichwort „Elektroencephalography“.
Abb. 1.1
Neben den klassischen Indikationsgebieten, in denen sich das EEG auch weiterhin als alternativlos zeigt, haben sich dank der innovativen Ansätze weitere Entwicklungsschritte ergeben. Ausgehend vom Videomonitoring auf epileptologischen Spezialstationen verbessert vor allem die prächirurgische Epilepsiediagnostik in Ergänzung spezieller invasiver Ableitelektroden (Stereo-EEG, Elektrokortikogramm [ECoG] etc.) die diagnostische Aussagekraft, wodurch sich mittlerweile viele lokalisatorische Fragestellungen noch exakter beantworten lassen.
Aber auch die rechnergestützten Methoden der nichtinvasiven Quellenlokalisation ergänzen die invasiven Ableitmethoden auf sinnvolle Weise. Neuere zum Teil Web-basierte Ansätze ermöglichen die Nutzung des kabellosen EEGs und zum Teil mithilfe von einfach zu handhabenden Trockenelektroden über räumliche, manchmal sogar sektoren- oder institutionsübergreifende Distanzen. Hiermit ergeben sich neue Möglichkeiten für das Langzeit-EEG, das Monitoring, aber auch telemedizinische Perspektiven und edukative Aspekte (Fernbefundung, E-Learning etc.).
Diese perspektivisch sehr interessanten Anwendungsmöglichkeiten zeigen, dass das EEG keineswegs eine antiquierte Methode, sondern ein weiterhin sehr modernes und entwicklungsfähiges diagnostisches Verfahren ist.
1.3 Musterentstehung
Die wissenschaftliche Aufklärung der Mechanismen in der Elektrophysiologie gehen auf eine etwa 200-jährige Entwicklung zurück ▶ [9]. Die Entstehung und Fortleitung der im EEG abgebildeten Muster ist ein äußerst komplexes Zusammenspiel biophysikalischer, neurophysiologischer und anatomischer Bedingungen. Die Grundlage dafür bildet die Fähigkeit spezifischer Zellen, Potenziale zu generieren und Stromflüsse zu erzeugen. Nachdem erste Arbeiten der Pioniere der Elektrophysiologie den Weg eröffnet hatten (u.a. L. Galvani ▶ [13], ▶ [19] und Du Bois-Reymond ▶ [11], ▶ [12]), gilt als erster Anwender des EEG im Tierversuch Richard Caton ▶ [5], ▶ [6], ▶ [7]. Danach war es Hans Berger, der als Erster das EEG beim Menschen abgeleitet und beschrieben hat, gefolgt von dem britischen Physiologen Edgar Adrian ▶ [3], ▶ [1].
Eine Übersicht der Historie der Neurophysiologie, insbesondere der Elektroenzephalografie findet sich im letzten Kapitel dieses Buches (s. Kap. ▶ 17). Das Verständnis dieser Prozesse ist nicht nur eine wichtige Grundlage für die Interpretation der Kurven, sondern auch außerordentlich faszinierend und gibt tiefe Einblicke in die Funktionsweise des Gehirns. An der Entstehung dieser Muster sind die elektrisch leitenden zellulären Strukturen des Gehirns beteiligt. Diese bestehen im Wesentlichen aus Nervenzellen (Neuronen), Gliazellen (Stützgewebe) und Synapsen. Näheres dazu findet sich in den ersten Kapiteln des Grundlagenteils.
1.4 Mustererkennung
Bei der Interpretation des Hirnstrombildes (der Begriff bezeichnet die jeweils abgebildeten EEG-Kurven in den gewählten Kanälen) ist die Erkennung von bestimmten Mustern und Rhythmen die wichtigste Fähigkeit.
1.4.1 Rechnergestützte Mustererkennung
Das Prinzip der automatisierten Mustererkennung spielt auch in der Medizin eine wichtige Rolle. In vielen Bereichen der Neurologie, z.B. im Rahmen von Sensor- oder videobasierten Bewegungsanalysen in der Diagnostik und Therapie von Bewegungsstörungen (vor allem Parkinson-Erkrankungen), steigt deren Stellenwert. Ein weiteres Beispiel ist die computergestützte „Spike-Erkennung“ im Rahmen von Langzeit-EEG-Ableitungen. Für diese existieren komplizierte computergestützte mathematische Algorithmen, deren Berechnung aufgrund der Datenvielfalt (Big Data) eine erhebliche Rechnerleistung erfordern. Diese apparativ gestützte Mustererkennung unterscheidet sich sehr von der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen in seiner subjektiven Funktion als Betrachter.
1.4.2 Visuelle Mustererkennung
Die besondere Komplexität der Muster im EEG erfordert für den menschlichen Betrachter eine intellektuelle Leistung, zu der Erfahrung, theoretisches Wissen und auch die Fähigkeit zur Abstraktion und Wissenstransfer gehören. Am Ende des dafür notwendigen Lernprozesses steht das Ziel, das Hirnstrombild zum einen als Ganzes zu erfassen und zum anderen bestimmte relevante Muster unter den vielen, vielleicht nicht so bedeutsamen Potenzialschwankungen im EEG zu identifizieren und richtig einzuordnen. Im Gegensatz zur Informatik kann man die dafür notwendigen theoretischen Grundlagen der visuellen Mustererkennung beim Menschen in wahrnehmungspsychologischen Ansätzen finden (z.B. Schablonen- und Merkmalstheorie). Dabei geht es um eine ganzheitliche bzw. merkmalsspezifische Erkennung von Objekten. Hier werden bereits erlernte und zum Vergleich im Langzeitgedächtnis abgespeicherte Objekte mit neuen unbekannten Objekten verglichen bzw. es wird das neue Objekt in gewisse bekannte Merkmale „zerlegt“ und dann strukturell analysiert ▶ [4].
Unabhängig davon, auf welcher Basis der Prozess der menschlichen Mustererkennung stattfindet, die Voraussetzung für die Richtigkeit der Einordnung ist ein visuelles und theoretisches „Instrumentarium“, welches durch theoretische Grundlagen (Strukturen und Merkmale) bestimmter Muster, aber vielmehr auch durch praktische Ausbildung (Lernen von erfahrenen Untersuchern) erlernt wird. Einen besonderen Stellenwert bekommt dieser Aspekt, wenn es am Ende um die differenzialdiagnostische Abgrenzung der Muster geht. Es existieren einige objektivierbare Befunde in der Elektroenzephalografie (wie z.B. Amplitudenhöhen, Anstiegssteilheit, Potenzialdauer oder Frequenzgrenzen von Rhythmen und Wellen), bei vielen Befunden spielt aber die subjektive Einordnung des Betrachters tatsächlich die entscheidende Rolle. Diese Tatsache ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass die Elektroenzephalografie als Methode vielerorts immer noch mühsam zu erlernen ist, so wie es -historisch begründet- eine ganze Reihe unterschiedlicher EEG-Schulen gegeben hat (eine Übersicht findet sich in Kap. Kap. ▶ 17.2.6).
Im Fokus dieser Thematik haben die jeweiligen nationalen Fachgesellschaften und in der Folge auch internationale Gesellschaften schon vor längerer Zeit Nomenklaturen und Definitionen publiziert und Empfehlungen als Hilfe zur Einordnung der Muster herausgegeben ▶ [10], ▶ [17]. An den gängigen nationalen Kriterien (Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie, DGKN) orientiert sich auch das vorliegende Buch. Damit ist auch gewissermaßen eine internationale Sichtweise...
Erscheint lt. Verlag | 18.11.2020 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete |
Schlagworte | Befundung • Bewusstseinsstörungen • Differenzialdiagnose • EEG • EEG-Artefakte • EEG-Diagnostik • EEG-Muster • EEG-Praxis • EEG-Prüfung • Elektrisches Potenzial • Elektroenzephalografie • Epilepsie • Funktionsdiagnostik • Hirnfunktion • Hirntoddiagnostik • Koma • Medikamenteneffekte • Neurophysiologie • Psychiatrie |
ISBN-10 | 3-13-242209-6 / 3132422096 |
ISBN-13 | 978-3-13-242209-4 / 9783132422094 |
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