Hebammenkunde (eBook)
Thieme (Verlag)
978-3-13-240454-0 (ISBN)
1 Geschichte des Hebammenberufs
Nora Szász, Andrea Stiefel, Monika Tschernko, Christine Loytved, Kristin Hammer
1.1 Antike und Mittelalter
Nora Szász
Archäologische Funde legen Zeugnis davon ab, dass schon in den frühen Hochkulturen Helferinnen bei der Geburt anwesend waren. Dennoch berechtigt dies nicht zu der Aussage, dass der Beruf der Hebamme so alt wie die Menschheit sei. Dies ist vielmehr einer von vielen wenig hinterfragten Mythen der Hebammengeschichtsschreibung.
1.1.1 Antike
Schon aus der Zeit der griechisch-römischen Antike (500 v.Chr.–529 n.Chr.) ist eine bedeutende geburtshilfliche Tradition von Hebammen (gr. maia, ioatromaia, röm. obstetrix) überliefert. Für sie geschriebene Texte, wie etwa die berühmte Gynaikeia des Soranos von Ephesus aus dem ersten Jahrhundert n.Chr., belegen den hohen Stand der antiken Geburtshilfe. In der Zeit des Hellenismus und des Römischen Reiches erbrachten Frauen beachtliche medizinische Leistungen, die weit über die Funktion von Kräuterfrauen oder Helferinnen bei der Geburt hinausgehen konnten. Dabei ist meist keine deutliche Grenze zwischen der Tätigkeit einer Hebamme und der einer Ärztin zu ziehen. Oft muss auch die Frage offenbleiben, ob in griechischen oder lateinischen Inschriften oder in antiken Texten nun eine Ärztin als Geburtshelferin, eine gynäkologische Spezialistin oder eine „einfache“ Hebamme gemeint ist.
Auf dem Grabrelief der Hebamme Scribonia Attica in Ostia bei Rom aus dem 2. Jh.n.Chr. ist die wohl berühmteste antike Geburtsdarstellung zu sehen, die die „Obstetrix“ bei ihrer Arbeit zeigt ( ▶ Abb. 1.1). Im Gegensatz dazu sind die meisten geburtshilflichen Darstellungen aus der Zeit der Antike eher mythologischen Inhalts und geben keine reale Geburtsszenen wieder.
Mit Ende der Antike verschwand der Typ der eher als Ärztin anzusehenden Hebamme weitgehend. In den folgenden Jahrhunderten oblag die Geburtshilfe den Weisen Frauen und nachbarschaftlichen Helferinnen.
Abb. 1.1 Grabrelief der Hebamme Scribonia Attica in Ostia.
(Foto: Dr. Wolfgang David)
1.1.2 Mittelalter
Die zur Gegenwart führende Entstehungsgeschichte berufsmäßiger Hebammen ist in den Städten des Mittelalters anzusiedeln. Hier organisierten die Frauen sich zunftähnlich, bildeten einem Handwerk entsprechend Lehrtöchter aus und wurden zum Bestandteil einer geregelten medizinischen Versorgung der städtischen Bevölkerung. Die Hebammen waren in eine Hierarchie aus Ehrbaren Frauen (ehrenamtlich tätige Patrizierfrauen), Oberhebammen, Lehrmägden, Stuhlweibern und anderen Gehülfinnen eingegliedert.
Diese schon auf Geburtshilfe spezialisierten Hebammen sind abzugrenzen von heilkundigen Frauen, die zugleich Hebamme und Weise Frau waren und neben Geburtshilfe als Nachbarschaftshilfe auch allgemein Krankheiten behandelten. Für sie, die ihr Erfahrungswissen und Können wahrscheinlich mündlich weitergaben, gibt es in historischen Quellen kaum Belege.
1.1.2.1 Stadtärzte
Zu Beginn des 14. Jahrhunderts wurde in den Städten die Position der Stadtärzte geschaffen und mit an Universitäten ausgebildeten Medizinern besetzt. Das ihnen an den ersten Hochschulen vermittelte Wissen beruhte ausschließlich auf antiken Texten. Die wegen ihrer vorwiegend theoretischen Bildung und Einstellung auch als „Buchärzte“ bezeichneten Mediziner verfügten über wenig Volksnähe und Praxis. Sie errangen bis zum Ende des 15. Jahrhunderts die ärztliche Vormachtstellung in den Städten. Nur Geburtshilfe, Frauen- und Kinderheilkunde blieben in den Händen von Hebammen und anderen heilkundigen Frauen.
Ab dem 16. Jahrhundert übernahmen die Stadtärzte allmählich die Kontroll- und Machtfunktion der Ehrbaren Frauen über die Hebammen. Mit dieser Aufsichtspflicht konnten die Ärzte ihre geburtshilflichen Kenntnisse auch durch Erfahrungen von Hebammen erweitern, die sie darüber examinierten. In der Folgezeit verfassten Ärzte Hebammenbücher und Schriften, die mit der Erfindung des Buchdrucks (etwa 1440) in größeren Auflagen Verbreitung fanden. Sie geben neben antiken Überlieferungen auch zeitgenössisches Hebammenkönnen wieder, werten dieses zugleich aber auch ab.
So steht z.B. im ersten, 1513 in deutscher Sprache gedruckten, mehrfach übersetzten Hebammenlehrbuch „Der Swangern frawen und Hebammen Rosegarten“ des Frankfurter Stadtarztes Eucharius Rößlin, das auch als Richtschnur für die aufkommenden Hebammenprüfungen diente: „... ich meyn die hebammen alle sampt/Die also gar kein wissen handt ...“
1.1.2.2 Stadthebammen
Diese Geringschätzung der Hebammen, die unter Medizinern ab dem 16. Jahrhundert weit verbreitet war, stand im Kontrast zu der hohen, geachteten Stellung der Stadthebamme. Sie wurde als Sachverständige vor Gericht hinzugezogen, um bei Verdacht auf Schwangerschaft, Abort, begangenen Kindsmord, aber auch über Jungfräulichkeit und Impotenz ein Urteil abzugeben. Hebammen waren als rechtsmedizinische Expertinnen so etabliert, dass ihre Hinzuziehung vor Gericht auch in der Carolina, der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. (1532), festgelegt wurde.
Hier wie auch in den zu Beginn des 15. Jahrhunderts aufkommenden Kirchenordnungen wurden Abtreibungen unter Strafe gestellt. Dass diese aber Bestandteil der geburtshilflichen Praxis waren, verdeutlichen auch Hebammenbücher dieser Zeit mit ihrem reichen Arsenal wirksamer Abortivmittel.
1.1.2.3 Dorfhebammen
Bis zum ausgehenden Mittelalter hatte es nur geringfügige Vorbedingungen für die Ausübung des Hebammengewerbes gegeben. Auf dem Lande, wo die Geburt bis ins 19. Jahrhundert ein öffentliches Ereignis war, wählte vielerorts die Gemeinschaft verheirateter Frauen die Hebamme. Der Aufgabenbereich dieser meist älteren Dorfhebamme umfasste neben der Sorge um Geburt und Neugeborenes, die Nottaufe oder das Zur-Taufe-Tragen auch rituelle Komponenten. Oft übernahm sie auch die Haushaltsführung nach der Geburt oder war zugleich dörfliche Leichenwäscherin.
Diese auf Tradition und Nachbarschaftshilfe beruhende Arbeit war eher eine Ehrentätigkeit als ein Beruf im modernen Sinn. Eine Bezahlung erfolgte in Form von Dankesbekundungen, Geschenken oder Naturalien. Mit Bestimmungen und Erlassen der Obrigkeit, wie sie allmählich in den Städten aufkamen, hatte diese ländliche Geburtshilfe noch wenig zu tun.
1.1.2.4 Hebammenordnungen
Pestepidemien, Kriege und wirtschaftliche Krisen seit dem 14. Jahrhundert hatten gesundheitliche und hygienische Probleme zur Folge, denen die städtischen Obrigkeiten mit Medizinalgesetzen begegneten. Auch die Geburtshilfe sollte nun als Teil der Medizinversorgung geregelt werden. Mitte des 15. Jahrhunderts kamen in den Städten Hebammenordnungen auf, die Hilfe bei Armengeburten vorsahen. Erstmals aber wurden hier den Hebammen in schriftlicher Form einschränkende Vorschriften gemacht und die Hebammen vereidigt, die dann als geschworene Hebammen galten.
In der ältesten überlieferten Hebammenordnung (Regensburg 1452) wurde festgelegt, dass die Hebamme bei Armen und Reichen gleichermaßen Hilfe leisten, keine Jüdinnen betreuen und bei komplizierten Geburten eine zweite Hebamme oder Ehrbare Frau hinzuziehen sollte. Weiter wurde ein Trinkverbot während der Geburt, das Durchführen eines Kaiserschnitts beim Tod der Frau und Gehorsamspflicht den Ehrbaren Frauen gegenüber angeordnet. Ohne deren Erlaubnis sollte die Hebamme die Stadt nicht verlassen und ihr bekannte ungeschworene Hebammen anzeigen. Ausbildungsvorschriften waren noch nicht enthalten.
In späteren Hebammenordnungen ab dem 16. Jahrhundert kamen zunehmend die Pflicht der Aufsicht und Prüfung durch die Stadtärzte anstelle der Ehrbaren Frauen auf sowie kirchliche Gebote (Abtreibungsverbot, Nottaufe u.a.) und medizinische Bestimmungen (Einschränkung bestimmter Arzneien u.a.). Die Beziehung der Hebamme zu schwangeren und gebärenden Frauen wurde immer mehr beaufsichtigt und die Geburtshilfe allmählich aus dem alleinigen Frauenbereich herausgelöst.
1.1.2.5 Hexenverfolgung
Nach heutigen Schätzungen wurden vom 15. bis zum 18. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Ländern ca. 60000 Menschen Opfer der Hexenverfolgung. Regionale Schwankungen vorausgesetzt, waren ungefähr 80 Prozent der Hingerichteten Frauen. Die immer noch populäre These, dass es dabei vor allem um die Vernichtung der Weisen Frauen und ihres Wissens ging, hat die moderne Hexenforschung längst widerlegt. Prozessquellen zeigen, dass auch Hebammen unter den Opfern waren, aber zahlenmäßig eher selten. Sie und die Weisen Frauen wurden wegen ihrer Bedeutung für die Geburtshilfe im Dorf gegen Hexereibeschuldigung eher in Schutz genommen ( ▶ [54]).
1.2 17. und 18. Jahrhundert
Nora Szász
1.2.1 Lehrbücher von Hebammen
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts setzte mit dem Werk von Marie Louise Bourgeois (1563–1636) eine Entwicklung ein, die sich bis ins 18. Jahrhundert über halb Europa erstreckte: Hebammen traten als Autorinnen geburtshilflicher Bücher auf, die ihnen Berühmtheit und Anerkennung, aber auch Anfeindungen brachten. Meist wurden sie als Hofhebamme an Königs- und...
Erscheint lt. Verlag | 2.9.2020 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | Ausbildung Hebammen • Geburtsvorbereitung • Geburtsvorgang • Hebammenarbeit • Neugeborene • Rückbildung • Schwangerenbegleitung • Stillberatung • Studium Hebammen • Wochenbett |
ISBN-10 | 3-13-240454-3 / 3132404543 |
ISBN-13 | 978-3-13-240454-0 / 9783132404540 |
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