Psychosomatische Schmerztherapie (eBook)
205 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-036797-5 (ISBN)
Prof. Dr. Ulrich T. Egle ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Spezielle Schmerztherapie und nach Emeritierung als Senior Consultant für Psychosomatik und Schmerz an der Psychiatrischen Klinik Sanatorium Kilchberg in Zürich tätig. Dr. med. Burkhard Zentgraf ist Facharzt für Psychiatrie, Facharzt für Neurologie und Psychotherapeut. Er ist Chefarzt der Psychosomatischen Celenus-Fachklinik Kinzigtal in Gengenbach/Südbaden und leitet dort die Schmerzabteilung.
Prof. Dr. Ulrich T. Egle ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Spezielle Schmerztherapie und nach Emeritierung als Senior Consultant für Psychosomatik und Schmerz an der Psychiatrischen Klinik Sanatorium Kilchberg in Zürich tätig. Dr. med. Burkhard Zentgraf ist Facharzt für Psychiatrie, Facharzt für Neurologie und Psychotherapeut. Er ist Chefarzt der Psychosomatischen Celenus-Fachklinik Kinzigtal in Gengenbach/Südbaden und leitet dort die Schmerzabteilung.
2 Theoretische Grundlagen: Schmerz, Bindung, Trauma
2.1 Einleitung
Dass frühkindliche Traumatisierungen die Vulnerabilität für chronische Schmerzen erhöhen, wurde bereits 1959 von dem amerikanischen Internisten, Psychiater und Psychoanalytiker G. L. Engel auf der Basis sorgfältiger klinischer Beobachtungen beschrieben. Als es ab Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zunehmend mehr um die Objektivierung psychosomatischer Zusammenhänge ging und von Seiten der Psychologie behaviorale Ansätze das Verständnis und die Behandlung chronischer Schmerzzustände zu dominieren begannen, wurden solche biographischen Zusammenhänge als spekulativ abgetan – und werden es teilweise bis heute noch (z. B. Sommer et al., 2008). Trotz einer Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts im JAMA erschienenen Studie, die deutlich Zusammenhänge zwischen sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und späterer Entwicklung körperlicher Beschwerden im Rahmen einer Somatisierung erbrachte, wurde eine Überbewertung des Zusammenhangs zwischen Kindheitstraumatisierung und späterer chronischer Schmerzerkrankung aufgrund retrospektiver Befragung unterstellt (Raphael et al., 2002). Dabei zeigen sorgfältige Studien und Metaanalysen der letzten Jahre genau das Gegenteil: Eine methodisch sorgfältig durchgeführte retrospektive Datenerhebung führt eher zu einer Unterbewertung des Zusammenhangs zwischen Kindheitstraumatisierung und späterer Symptombildung (Hardt & Rutter, 2004; Nelson et al., 2010). Inzwischen gilt wissenschaftlich als gesichert, dass vor allem kindliche, aber auch spätere Traumatisierungen die Vulnerabilität für ein chronisches Schmerzsyndrom deutlich erhöhen können. Dabei spielt das mit Schmerz einhergehende Auslieferungserleben bei körperlicher Misshandlung bei Kindern offensichtlich eine sehr viel größere Rolle als sexueller Missbrauch!
Bis heute ist bei vielen chronischen Schmerzpatienten ebenso wie bei vielen Ärzten jedoch immer noch die Vorstellung verbreitet, dass Schmerz nur als Folge einer Gewebsschädigung entstehen kann und die Stärke des Schmerzes dem Ausmaß der Gewebsschädigung entspricht. Die vorherrschende Vorstellung der Schmerzverarbeitung im zentralen Nervensystem geht vom Prinzip einer Art »Telefonkabel« aus, das Aktionspotentiale von einem Ort zu einem anderen leitet, in denen Informationen über Beginn, Dauer, Stärke, Lokalisation und Qualität eines peripheren nozizeptiven Reizes codiert sind (Woolf, 2011). Dieses Mitte des 17. Jahrhunderts von René Descartes postulierte Schmerzverständnis hat bis heute weitreichende Folgen für Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzpatienten. Insbesondere psychische Störungen mit dem Leitsymptom Schmerz werden vor dem Hintergrund des kartesianischen Schmerzverständnisses aufgrund der damit einhergehenden fehlenden Erklärbarkeit als diagnostische Restkategorie gesehen und damit implizit oder gar explizit mit Simulation gleichgesetzt. Vernachlässigt werden dabei die durch die Möglichkeiten der Bildgebung des Gehirns gewonnenen Erkenntnisse zur zentralen Schmerzverarbeitung der letzten 10 Jahre.
Der Nachweis deszendierend-hemmender Schmerzbahnen – von Melzack und Wall bereits 1965 im Rahmen ihrer Gate-Control-Theorie postuliert – Ende der 70er Jahre führte zu der Erkenntnis, dass bereits auf spinaler Ebene, d. h. im Zusammenhang mit der Umschaltung peripherer Schmerzreize vom ersten auf das zweite Neuron in der Substantia gelatinosa im Bereich des Hinterhorns des Rückenmarks, komplexere Regelmechanismen in der Schmerzverarbeitung wirksam sind. Wirkt ein peripherer Reiz über längere Zeit ein, so kommt es sowohl auf spinaler als auch auf zentraler Ebene über biochemische Umbauprozesse zu einer erhöhten Schmerzsensitivierung (Hyperalgesie).
Eine besondere Bedeutung bei der Verknüpfung von Schmerz- und Stressverarbeitungssystem haben eine Reihe von Neuropeptiden, welche von Mastzellen bzw. im Gehirn von Microglia sezerniert werden (u. a. Substanz P, Prostaglandin, Nerve Growth Factor, Calcitonin Gene-related Peptide CGRP, Brain Derived Neurotrophic Factor BDNF; Neuropeptid Y, Cholecystokinin), und Zytokine, die bei verschiedenen chronischen Schmerzerkrankungen (z. B. Fibromyalgie-Syndrom, chronischem Kopfschmerz, chronischem Schulter-Nacken-Schmerz nach Schleudertrauma) nachgewiesen werden konnten. Inzwischen wurde in tierexperimentellen Studien gezeigt, dass alle diese Neuropeptide auch bei psychosozialem Stress aktiviert werden und über neuroinflammatorische Prozesse peripher wie zentral eine verstärkte Schmerzwahrnehmung induzieren können (Xanthos & Sandkühler, 2014; Littlejohn, 2015).
2.2 Neurobiologische Zusammenhänge von Schmerz- und Stressverarbeitung
Nach Umschaltung im Hinterhorn des Rückenmarks vom ersten auf das zweite Neuron wird der periphere Schmerzreiz zum Thalamus geleitet. Von den lateralen Thalamuskernen erfolgt eine Umschaltung in Richtung des somatosensorischen Kortex, wo eine topographische Verortung der Schmerzreize stattfindet (»Homunculus«): Kommt der Schmerzreiz aus dem rechten Daumen, dem linken Unterschenkel usw.? Festgestellt wird auch die Reizstärke, ohne dass dies jedoch – wie man sich dies früher vorstellte – bereits der Schmerzstärke entspräche. Diese wird vielmehr durch die Einbeziehung anderer Hirnareale bedingt. Besonders bedeutsam sind dabei Insula, Amygdala, Hippocampus, anteriorer Gyrus cinguli (ACC) und verschiedene Bereiche des Präfrontalkortex. All diese Hirnbereiche sind auch Teil des zentralen Stressverarbeitungssystems.
Entscheidend für die Interpretation des Schmerzreizes ist deshalb die situative Gesamtverfassung des Individuums, wie sie sich vor dem Hintergrund des Interagierens verschiedener Hirnareale darstellt. Auch vorausgegangene Lernerfahrungen im Umgang mit Schmerz und Disstress werden bei der Bedeutungserteilung des Schmerzreizes bzw. eines andauernden Schmerzempfindens herangezogen und beeinflussen anschließend die Erwartungshaltung. Vereinfacht kann man sagen, dass Schmerz für das Gehirn nur eine besondere Variante von Stress darstellt und entsprechend verarbeitet bzw. beantwortet wird. Die »Schmerzmatrix« hat eine weitreichende Überlappung mit dem Stressverarbeitungssystem ( Abb. 2.1a und Abb. 2.1b).
Aus einem Schmerzreiz mit definierbarer Intensität (»sensation«) wird ein individuelles Schmerzerleben (»perception«). Dabei ist das Gehirn viel aktiver als lange angenommen: Es wartet nicht als Endorgan darauf, bis zuvor »schlafende« Neuronen aktiviert werden und ihm Reize zuliefern (»bottom-up«), die es dann zu dechiffrieren hat, sondern es schafft durch vorausgegangene Prägungen eine Vorannahme und nimmt dann bei der Schmerzbewertung eine Art Kompromissbildung zwischen der objektiven Reizstärke und der subjektiven Vorannahme im dazwischen liegenden Irrtumsbereich vor (vgl. Feldmann-Barrett & Simmons, 2015). Erwartet man einen geringen Schmerz, so wird die Perzeption niedriger als die reale Reizstärke sein. Erwartet man einen starken Schmerz, so wird die Perzeption höher sein, was bei ängstlichen Menschen besonders ausgeprägt ist (Paulus & Stein, 2010). Beides sind auch wesentliche Grundlagen der Wirkung von Plazebo und Nozebo ( Kap. 5.4). Es entsteht eine subjektive Schmerzrealität, die nach heutigem Wissensstand im Bereich der vorderen Insula stattfindet.
Der Präfrontalkortex ist unser am weitesten entwickelter Hirnbereich. Er ist für unsere kognitiven Fähigkeiten verantwortlich und reguliert unser Denken, unser Handeln und unsere Emotionen. Er ist für die kognitive Bewertung der Gesamtsituation zuständig. Dabei können vier Teilbereiche mit unterschiedlichen Zuständigkeiten unterschieden werden ( Abb. 2.2, Arnsten, 2009).
• Der dorsolaterale PFC (dlPFC) hat intensive Verbindungen zu motorischen und sensorischen Hirnarealen und hat eine zentrale Bedeutung für die Regulation von Aufmerksamkeit, Denken und Handeln (kognitive Verarbeitung)
• Der ventromediale PFC (vmPFC) hat Verbindungen zu subkorticalen Hirnbereichen (Amygdala, Ncl. accumbens und Hypothalamus), welche emotionale Reaktionen auslösen, und ist dadurch in der Lage, Emotionen zu regulieren. Seine erhöhte Aktivität verbessert die Erholung durch Schlaf, verringert die Aktivität des Sympathikus, erhöht die Aktivität des Parasympathikus und fördert damit die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress (»Resilienz«).
Abb. 2.1a: Wesentliche Hirnareale bei der zentralen Schmerzverarbeitung (nach Egle et al., 2016, S. 527). Reprinted by...
Erscheint lt. Verlag | 22.4.2020 |
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Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Ulrich T. Egle, Martin Grosse Holtforth, Christoph Flückiger |
Zusatzinfo | 27 Abb., 1 Tab. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Palliativmedizin • Psychologie • Psychosomatik • Psychotherapie • Schmerzempfinden • Schmerzen |
ISBN-10 | 3-17-036797-8 / 3170367978 |
ISBN-13 | 978-3-17-036797-5 / 9783170367975 |
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