Brücken in die Welt der Demenz (eBook)
182 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61070-9 (ISBN)
Petra Fercher, Oberösterreich, ist diplomierte Validationslehrerin und Masterin nach Naomi Feil. Sie bildet Lehrerinnen für Validation aus, unterrichtet und berät in zahlreichen Einrichtungen. Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter <a href="http://www.validation.or.at" target="_blank">www.validation.or.at Gunvor Sramek, Wien, ist diplomierte Validationslehrerin und Masterin nach Naomi Feil. Sie leitete zahlreiche Lehrgänge und ist Prüfungsvorsitzende für autorisierte Validationslehrgänge.
Petra Fercher, Oberösterreich, ist diplomierte Validationslehrerin und Masterin nach Naomi Feil. Sie bildet Lehrerinnen für Validation aus, unterrichtet und berät in zahlreichen Einrichtungen. Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter <a href="http://www.validation.or.at" target="_blank">www.validation.or.at Gunvor Sramek, Wien, ist diplomierte Validationslehrerin und Masterin nach Naomi Feil. Sie leitete zahlreiche Lehrgänge und ist Prüfungsvorsitzende für autorisierte Validationslehrgänge.
Gunvor Sramek: Der dänische Großvater
Mein Großvater hatte eine beginnende Demenzerkrankung, aber damals erkannte das niemand. Er war, in meinen Augen als Kind, uralt. Wir wohnten alle in einem roten Backsteinhaus aus der Jahrhundertwende in Dänemark. Meine Eltern, meine beiden Brüder und ich wohnten im ersten Stock, der Großvater und seine unverheiratete Tochter lebten im Parterre. Großvater bewegte sich immer mit schlürfenden, kleinen Schritten vorsichtig vorwärts. Seinen rechten Arm hielt er dabei leicht vorgestreckt, schräg nach unten. Meistens begegnete ich ihm so im Treppenhaus. Wenn er in die Nähe der Treppe kam, suchten seine Fußspitzen sorgfältig nach dem Beginn der ersten Stufe. Seine Hand suchte gleichzeitig nach dem Beginn des Handlaufes. Während er ging, schnaufte und pustete er hörbar. Anscheinend war das Gehen eine mühsame Angelegenheit. Ich spürte instinktiv, dass es nicht richtig wäre, ihn zu stören, weil er sich bei den Stufen besonders konzentrieren musste. Aber auch sonst wäre es nicht ratsam gewesen, ihn anzusprechen. Er schien in einer eigenen Welt zu leben, in die er sich eingekapselt hatte. Er sprach kaum, und wenn, dann nur in ganz kurzen, knappen Sätzen. Seine Augen waren zunehmend schlechter geworden und das machte ihm sicherlich sehr zu schaffen, er klagte aber nie. Er litt einfach still vor sich hin. Aber vielleicht gab es auch andere Gründe für sein eigenartiges Verhalten. Sein jetziges Leben schien ihm auf jeden Fall zuwider zu sein. Er wirkte auf mich als Kind so, als ob er sich in einer latenten, inneren Protesthaltung befände. Niemand durfte ihm wirklich nahe kommen. Ich spürte das sehr deutlich. Er konnte seine Gefühle nicht zeigen, weder verbal noch nonverbal. Nur ganz selten sah ich ihn lächeln. Ich erinnere mich ganz deutlich an zwei solche besonderen Momente. Einmal, als mein kleiner Bruder auf seinem Schoß saß, und ein anderes Mal, als ich ihm einige Zeilen eines kleinen Gedichtes von mir vorlas, das sich lustig reimte. Da lachte er ganz kurz!
Großvater wirkte sonst stur und er war nicht flexibel, alles musste so gemacht werden, wie er es sagte. Leider verhielt er sich oft unfreundlich seiner erwachsenen Tochter gegenüber, die versuchte, den Alltag mit ihm gemeinsam zu gestalten. Er hatte natürlich immer Recht. Schon seit jeher wurde er als Autoritätsperson angesehen, und das hat er so beibehalten. Es wäre völlig sinnlos gewesen, wenn jemand von uns versucht hätte, mit ihm irgendeine Angelegenheit zu diskutieren oder ihn umzustimmen. Man hatte schon verloren, bevor man überhaupt ein solches Gespräch begonnen hatte. Diese starre Haltung war mir damals sehr vertraut.
Als ehemaliger Architekt trug er Tag ein Tag aus seinen weißen Arbeitsmantel, als ob er sich jeden Moment zu einem längst nicht mehr existierenden Zeichentisch begeben könnte, um dort mit seinen Plänen zu arbeiten. Er trug auch oft Pulswärmer oder gestrickte, graue Handschuhe, bei denen das vordere Ende der Finger fehlte. Das fand ich seltsam. Das Haus und den Garten verließ er so gut wie nie. Er war ein Einsiedler mitten unter uns.
Ich liebte es, ihn zu studieren. Ich schämte mich instinktiv dabei, weil ich wusste, dass er nicht sehen konnte, dass ich ihn so intensiv beobachtete. Aber ich konnte mich nicht beherrschen. Es war zu spannend, seine langsame Welt mitzuerleben. Manchmal, vor allem in der großen, hellen Werkstatt im Keller, hatte ich einen wirklich guten Zugang zu ihm. Da arbeitete er an seiner alten Hobelbank und ich durfte ihm das Werkzeug reichen. Ich fühlte mich wie seine Assistentin. Dieses fast wortlose Miteinander genossen wir beide sehr. Ich mochte den Geruch von Holz und Leim. Aber vor allem genoss ich die Art, wie Großvater immer wieder zärtlich mit den Fingerspitzen über das Werkstück strich. Er prüfte genau, was als nächstes zu geschehen hatte. Da war nichts von seiner üblichen Verschlossenheit zu spüren.
In seiner ersten Ausbildung war er gelernter Tischler und jetzt, in der Werkstatt, war er in seinem Element. Manchmal fing er plötzlich an, ganz zart wunderschöne Melodien vor sich hin zu pfeifen. Niemand konnte so pfeifen wie er. Es klang absolut rein, war wunderbar in der Betonung und genau im Takt. In der Jugend hatte er sich in seiner Freizeit zum lyrischen Tenor ausbilden lassen, er liebte die Lieder von Schubert. Aber das wusste ich damals nicht. Umso mehr wunderte es mich, wenn ich diese gelöste, fröhliche und zufriedene Seite von ihm erlebte. Es wurde mir klar, dass es hinter dem grimmigen alten Großvater einen gefühlvollen, kreativen und künstlerischen Menschen gab. Mich faszinierte, dass ein Mensch zwei so unterschiedliche Seiten haben kann. Ich brauchte keine Sprache, um solche Dinge mit großer Intensität und Treffsicherheit wahrzunehmen. Ich bin mir sicher, dass mein Interesse für alte Menschen mit Verhaltensveränderungen seinen Ursprung in diesen Kindheitserfahrungen hat. Heute, mit den Kenntnissen der Validation, liegen mir die alten Menschen, die sich ganz am Anfang einer möglichen demenziellen Erkrankung befinden, noch mehr am Herzen. Für ihr oft seltsames, schwer nachvollziehbares Verhalten gibt es noch sehr wenig Verständnis, und es mangelt an Informationen.
Petra Fercher: Die „grantigen“ alten Leute
Ich wohnte mit meinen beiden Kindern auf dem Land. Zu damaliger Zeit gab es keine freie Stelle als Kindergärtnerin, also machte ich zur beruflichen Umorientierung einen Universitätslehrgang für Tourismus. Im darauffolgenden Sommer arbeitete ich in einem Organisationsteam für eine Landesausstellung, die sich in einem Schloss befand. In einem der Schlossräume, gab es ein sehr schön eingerichtetes Informationsbüro, mit schweren alten Möbeln als Sitzgelegenheit für Gäste. In diesem schönen Ambiente war es angenehm kühl in diesen heißen Sommermonaten. Im Laufe der Ausstellung kamen immer wieder Reisebusse mit älteren Menschen an. Einige von ihnen waren hochbetagt und hatten durch die oft lange, für manche schon sehr beschwerliche Anreise, keine Lust mehr auf Hitze und komplizierte Gänge, die durch die Ausstellung führten. Sie sammelten sich auf einem Platz und ich hörte aus der Ferne, wie sie sich beschwerten. Sie wollten partout nicht in die Ausstellung und meistens wussten die zuständigen Reiseleiter nicht, wie sie damit umgehen sollten. Die alten Menschen behaupteten sogar manchmal, man habe sie gezwungen, hierher mitzufahren. Niemand habe ihnen gesagt, wo die Reise hingehe. Nun stünden sie hier, und wüssten nicht, was sie machen sollen. Man hätte sie belogen und dies sei eine Frechheit. Einige meinten, sie bräuchten erst einmal Schatten oder einen kühlen Raum. In diesem ablehnenden und aufgebrachten Zustand schickte man sie zu mir ins Schlossbüro.
Dort angekommen und über den kühlen, schönen Raum angenehm überrascht, nahmen sie mein Angebot, sich zu setzen und erst einmal auszuruhen, gerne an. Ich sorgte für Getränke und war immer daran interessiert, mit diesen alten Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich konnte mir nicht erklären, wieso manche bestimmte Dinge sagten und wusste nicht so recht, ob ich ihnen ihre Geschichten glauben sollte, oder ob sie einfach schon vergesslich waren. Aber auch das fand ich unschlüssig, da sie sich ja sonst orientiert verhielten. Gleichzeitig war es nicht wichtig für mich, das zu wissen, und ich habe viele nette und spannende Geschichten aus ihrem Leben gehört. Das Gefühl, dass es diesen alten Menschen besonders gut tut, wenn man aufmerksam zuhört, wurde auf meinem späteren Lebensweg durch die Validation bestätigt.
Damals ist mir aufgefallen, dass nach zehn Minuten der Schwall von Beschimpfungen und die Beschuldigung anderer Menschen in ein Ausatmen, Zurücklehnen, eine wohlwollende Haltung und Dankbarkeit mir gegenüber mündeten. Viele gingen entspannt und fast fröhlich zu ihren Reisebussen zurück, um die Heimreise anzutreten. Manche meinten plötzlich, welch schöner Ausflug dies heute war, im Gegensatz dazu, wie sie sich am Anfang beschwert hatten. Dabei hatten sie nicht einmal die Ausstellung besucht. Es war mein Umgang mit diesen speziellen Situationen, durch den ich bei den damaligen Kolleginnen den Ruf bekam, wenn alte „grantige“ Menschen kommen, könne man sie zu mir schicken. Ich könne besser damit umgehen als andere.
In mir entstanden das tiefe Interesse für diese seltsamen Verhaltensweisen und der Wunsch, deren Hintergründe besser verstehen zu wollen. Gleichzeitig wollte ich erfahren, warum der für mich sehr natürliche Zugang zu diesen Menschen zu häufiger Entspannung und nicht erwarteter Freundlichkeit bei diesen alten Menschen führte.
Ich entdeckte das Buch über Validation von Naomi Feil, begann es zu lesen, und im Anschluss an die Landesausstellung war mir klar, dass der Tourismus nur eine kurze Zwischenstation in meiner beruflichen Umorientierung war. Über einen Verein für Sachwalterschaft (Betreuungsverein) orientierte ich mich noch einmal neu und begann, alte Menschen in vier verschiedenen Pflegeheimen zu besuchen. Mein Interesse wuchs weiter und ich begann mit der Ausbildung zur Validationsanwenderin, um eine Stelle in einem Alten- und Pflegeheim anzutreten. Meine Aufgabe in diesem Heim war die Organisation und der Aufbau von Beschäftigung und Betreuung alter Menschen, in Verbindung mit der Koordination eines ehrenamtlichen Teams. Damals, 1999, wohnten in etwa 80% orientierte alte Menschen in diesem Altenheim. Nur ca. 20% waren desorientiert und an einer Demenz erkrankt, allerdings war diese Erkrankung oft nicht diagnostiziert.
Viele dieser alten Menschen hatten noch selbst entschieden, ihren Lebensabend in einem Altenheim zu verbringen. Als ich Ende 2008 wegen meiner...
Erscheint lt. Verlag | 29.10.2018 |
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Reihe/Serie | Reinhardts Gerontologische Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Pflege | |
Schlagworte | Coaching • Demenz • Grundwissen • Methoden • Techniken • Validation • Verständnis |
ISBN-10 | 3-497-61070-4 / 3497610704 |
ISBN-13 | 978-3-497-61070-9 / 9783497610709 |
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