Bindung und frühe Störungen der Entwicklung (eBook)
333 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-20292-2 (ISBN)
Karl Heinz Brisch, Univ.-Prof., Dr. med. habil., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie; Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Gruppen; Ausbildung in spezieller Psychotraumatologie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Er war bis 2020 Vorstand des weltweit ersten Lehrstuhls für Early Life Care und leitete das gleichnamige Forschungsinstitut an der PMU in Salzburg. Seine klinische Tätigkeit und sein Forschungsschwerpunkt umfassen den Bereich der frühkindlichen Entwicklung und der Psychotherapie von bindungstraumatisierten Menschen in allen Altersgruppen. Brisch leitete über viele Jahre die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München und entwickelte dort das MOSES®-Therapiemodell zur erfolgreichen Intensiv-Psychotherapie von früh traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Er entwickelte die Präventionsprogramme »SAFE® - Sichere Ausbildung für Eltern« und »B.A.S.E® - Babywatching«, die inzwischen in vielen Ländern Europas, aber etwa auch in Australien, Neuseeland und Russland Verbreitung gefunden haben. Brisch ist Gründungsmitglied der »Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit« (GAIMH e. V. - German-Speaking Association for Infant Mental Health) und war dort viele Jahre lang im Vorstand. Die GAIMH ist eine Tochtergesellschaft der WAIMH - World Association for Infant Mental Health. Bis 2022 organisierte er die jährlich stattfindende renommierte Internationale Bindungskonferenz (www.bindungskonferenz.de) so wie von 2018 bis 2021 die Internationale Early Life Care Konferenz in Salzburg (www.earlylifecare.at). Brisch verbreitet die Inhalte und Ergebnisse der Bindungs- und Traumaforschung und -psychotherapie auch durch viele Publikationen, Vorträge und die Teilnahme an zahlreichen Radio- und Fernsehsendungen (www.khbrisch.de).
Karl Heinz Brisch, Univ.-Prof., Dr. med. habil., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie; Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Gruppen; Ausbildung in spezieller Psychotraumatologie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Er war bis 2020 Vorstand des weltweit ersten Lehrstuhls für Early Life Care und leitete das gleichnamige Forschungsinstitut an der PMU in Salzburg. Seine klinische Tätigkeit und sein Forschungsschwerpunkt umfassen den Bereich der frühkindlichen Entwicklung und der Psychotherapie von bindungstraumatisierten Menschen in allen Altersgruppen. Brisch leitete über viele Jahre die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München und entwickelte dort das MOSES®-Therapiemodell zur erfolgreichen Intensiv-Psychotherapie von früh traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Er entwickelte die Präventionsprogramme »SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern« und »B.A.S.E® – Babywatching«, die inzwischen in vielen Ländern Europas, aber etwa auch in Australien, Neuseeland und Russland Verbreitung gefunden haben. Brisch ist Gründungsmitglied der »Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit« (GAIMH e. V. – German-Speaking Association for Infant Mental Health) und war dort viele Jahre lang im Vorstand. Die GAIMH ist eine Tochtergesellschaft der WAIMH – World Association for Infant Mental Health. Bis 2022 organisierte er die jährlich stattfindende renommierte Internationale Bindungskonferenz (www.bindungskonferenz.de) so wie von 2018 bis 2021 die Internationale Early Life Care Konferenz in Salzburg (www.earlylifecare.at). Brisch verbreitet die Inhalte und Ergebnisse der Bindungs- und Traumaforschung und -psychotherapie auch durch viele Publikationen, Vorträge und die Teilnahme an zahlreichen Radio- und Fernsehsendungen (www.khbrisch.de).
Bindung und frühe Störungen der Entwicklung 1
Inhalt 6
Vorwort 8
Einleitung 10
Die Funktion von Oxytocin in der frühen Entwicklung und die mögliche Bedeutung eines Ocytocinmangels für Bindung und frühe Störungen der Entwicklung 14
Einleitung 14
Die Kampf-und-Flucht-Reaktion und ihr durch Anti-Stress-Mechanismen (growth and relaxation response) und soziale Fertigkeiten (calm and connection reaction) gekennzeichnetes Gegenmuster 16
Oxytocin 18
Oxytocin-Ausschüttung und -Wirkung in Reaktion auf sensorische Stimulierung 20
Die Bedeutung der durch engen Kontakt vermittelten Oxytocin-Ausschüttung für die Entwicklung einer sicheren Bindung 25
Oxytocin, Sozialangst und Autismus 27
Fazit 28
Literatur 29
Depression in der frühen Kindheit: Gibt es sie, wie zeigt sie sich, wie ist sie zu behandeln? 35
Einführung: Die Entstehung des Konzepts der frühkindlichen Depression 35
Die Ätiologie der frühkindlichen Depression 38
Diagnose der Depression in der frühen Kindheit 43
Ein klinischer Fall: Die mannigfachen Facetten der frühkindlichen Depression 46
Fazit 48
Literatur 48
Die Entwicklung von Kindern postpartal depressiver Mütter: Befunde der Cambridge-Längsschnittstudie 52
Depression: Prävalenz und Risiko 52
Die Cambridge-Studie 53
Die Depression in ihrem Einfluss auf die frühe Responsivität der Mutter 55
Depression und frühes Elternverhalten in ihrem Einfluss auf die physiologischen Funktionen des Kindes 57
Die Mutter-Kind-Beziehung im späten Säuglingsund frühen Kindesalter und die Rolle der Bindung 59
Bowlbys Theorie der frühen Bindung in ihrem Zusammenhang mit dem späteren Verhalten und der psychischen Gesundheit des Individuums 62
Erkenntnisse der Cambridge-Studie: Die Auswirkungen der Depression der Mutter auf die Bindungsqualität und das spätere Sozialverhalten des Kindes 64
Die kognitive Vulnerabilität von Kindern depressiver Mütter 65
Fazit 67
Anmerkung 68
Literatur 68
Trauma, Stress und postpartale Depression: Das implizite Wissen und seine Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Bindung 73
Nähe und Distanz in der Bindungsbeziehung 73
»Ways of Seeing« und die Tanzund Bewegungstherapie 75
Frühe Erfahrungen schmerzlicher und traumatischer Art 77
Körper, Spiel, Trauma und Bindungstheorie 78
Die theoretischen Grundlagen des Programms »Ways of Seeing« 79
Selbstbeobachtung auf dem Wege der verleiblichten Einstimmung 84
Die Struktur der Behandlung 85
Falldarstellung 86
Folgerungen für die klinische Praxis 102
Anmerkungen 102
Literatur 103
Frühe Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen: Gene, Gehirn, Zeit und Pathologie 106
Die große Frage: Warum werden manche Individuen von frühen schädlichen Erfahrungen schwerer getroffen als andere? 107
Genetische Modulatoren 108
Die Folgewirkungen früher Erfahrungen auf die Entwicklung des Gehirns 112
Sensible Phasen und der Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung 121
Abschließende Überlegungen: Wie wirken frühe Misshandlungs-/ Missbrauchserfahrungen, Familiengeschichte und sensible Phasen im Sinne des individuellen Risikos zusammen, eine Major Depression zu entwickeln? 126
Anmerkungen 127
Literatur 128
Qualität der frühen Zuwendung, Trauma und genetische Vulnerabilität als Prädiktoren von Merkmalen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung: Eine prospektive Längsschnittanalyse 137
Einleitung 137
Qualität der frühen Zuwendung und Borderline-Symptome 138
Schädigende Umgebung und Borderline-Symptome 140
Genetische Faktoren und Borderline-Symptome 141
Methoden der Studie 144
Diskussion 158
Grenzen der vorliegenden Studie 161
Anmerkung 162
Dank 162
Literatur 162
Immunologische und neuroendokrine Dysregulation in der Folge früher Deprivations- und Stresserfahrungen 168
Einleitung 168
Warum sollten wir uns für biologische Messdaten interessieren? 169
Warum sollten wir die Adoleszenz in den Blick nehmen? 173
Was ist die Organisations-/Aktivierungs-Hypothese? 177
Ein weiter gefasster Blick auf die Organisations-/Aktivierungs-Hypothese: Beeinflussen frühe Erfahrungen die Stressregulierung? 181
Tritt auch die Stressregulierung in eine Ruhestellung ein? 185
Wirkt die Stressregulierung moderierend auf den Zusammenhang von früher Erfahrung und Pubertät? 186
Wie geht die moderierende Wirkung der Stressregulierung vor sich? 187
Auswirkungen der aktivierenden Effekte biologischer Kontextsensibilität auf die Gesundheit 190
Zusammenfassung und Fazit 192
Literatur 194
Welchen Einfluss haben die Einfühlsamkeit der Mutter und ihre Fähigkeit zur Verarbeitung der Diagnose auf die Bindungssicherheit autistisch gestörter Kinder? 204
Die Methode 206
Ergebnisse 214
Diskussion 217
Dank 220
Anmerkung 221
Literatur 221
Trennungsangst der Mutter als Regulator des kindlichen Schlafs 224
Elternverhalten und die Schlaf-/Wach-Regulierung 224
Der Schlaf als »Arena«, in der Bindungsbeziehungen Gestalt annehmen 225
Sind Schlafprobleme ein Anzeichen von Bindungsunsicherheit? 226
Trennungsangst im Kontext des Schlafes 228
Von der Forschung zur Praxis 233
Literatur 235
Bindung, frühe Moralentwicklung und wechselseitige Regulationsprozesse 238
Die Wurzeln der Moralität: Eine neue Sicht 240
Eine Lücke in der Diskussion über die Wurzeln der Moralität 242
Individuelle Unterschiede in der frühen Moralentwicklung und ihre Folgewirkungen 246
Moralentwicklung in ihrem Verhältnis zur Bindungssicherheit und weitere wichtige Fragen 247
Abschließende Überlegungen: Die spätere Entwicklung und der Umgang mit der dunklen Seite 249
Anmerkungen 251
Literatur 252
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) und frühe Bindungsdesorganisation Eine prospektive Studie mit Kindern, die nach einer Totgeburt geboren wurden 257
Die Hintergründe der Studie 257
Die Studie 264
Eine abschließende Bemerkung zu den jüngsten Studien 277
Dank 278
Literatur 278
Bindung und Gene: Bio-psycho-soziale Grundlagen emotionaler (Dys-) Regulation und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten 283
Unterschiede in der Bindungsqualität: Bindungssicherheit und Bindungsdesorganisation 284
Emotionale Regulation als psychologische Funktion von Bindung 285
Soziale und individuelle Grundlagen von Bindungsunterschieden 289
Konsequenzen von Bindungsunterschieden für die emotionale Regulation in der weiteren Entwicklung 292
Zusammenfassung und Schlussfolgerung 296
Anmerkung 297
Literatur 298
Die Therapie von frühen Störungen der Entwicklung 302
Einleitung 302
Stationäre Intensivpsychotherapie von frühen Störungen 302
Komponenten der stationären Intensivpsychotherapie 303
Behandlungsbeispiele einer stationären Intensivpsychotherapie in der Kinderpsychosomatik 318
Zusammenfassung 328
Literatur 329
Adressen der Autorinnen und Autoren 333
Informationen zum Autor 335
Vorwort Frühe Störungen der Entwicklung entstehen oftmals durch frühe traumatische Erfahrungen des Säuglings und Kleinkindes sowie durch verschiedenste Formen der frühkindlichen Vernachlässigung. Sie beginnen in der Schwangerschaft und im Säuglingsalter und stehen dann in einem Zusammenhang mit Schwierigkeiten in der Bindungsentwicklung zwischen Eltern und Kind. Zu den frühen Störungen der Entwicklung gehören etwa Störungen aus dem autistischen Spektrum, Bindungsstörungen, frühe Ängste, depressive Symptome und kognitive Entwicklungsschwierigkeiten mit Störungen des Gedächtnisses. Ebenso finden sich eine verminderte Stresstoleranz, eine eingeschränkte Fähigkeit zur Affektregulation, Störungen der Aufmerksamkeit und der Motorik (ADHS) sowie der Immunregulation. Viele dieser frühen Störungen beeinflussen entscheidend die Entwicklung des Kindes und haben langfristige Auswirkungen auf alle körperlichen, psychischen und sozialen Funk tionen. Aus Längsschnittstudien wissen wir, dass frühe Störungen im Laufe der kindlichen Entwicklung oftmals nicht einfach wieder verschwinden, sondern besonders im Jugendalter zu schwerwiegenden emotionalen und sozialen Störungen mit aggressiven Verhaltensweisen führen können. Im Erwachsenenalter treten sie als spätere schwerwiegende psychosomatische und psychische Erkrankungen in Erscheinung, etwa als Borderline-Persönlichkeitsstörung. Am 24. und 25. Oktober 2009 wurde an der Kinderklinik und Poliklinik des Dr. von Haunerschen Kinderspitals der Ludwig-Maximilians-Universität München von der Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie ein Internationaler Kongress mit dem Titel Bindung und frühe Störungen der Entwicklung (Attachment and Early Disorders of Development) durchgeführt. Die überwältigende Resonanz der Konferenz ermutigte die Veranstalter, die Beiträge mit der Herausgabe dieses Buches einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen. Ich danke allen Autoren und Autorinnen, dass sie ihre Beiträge für die Publikation zur Verfügung gestellt haben. Mein besonderer Dank gilt Frau Ulrike Stopfel, die sehr engagiert und zuverlässig alle englischsprachigen Beiträge übersetzt hat. Dank der ausgezeichneten Arbeit von Herrn Thomas Reichert konnten die einzelnen Manuskripte rasch editiert werden. Wir danken Herrn Dr. Heinz Beyer sowie Frau Christel Beck vom Verlag Klett-Cotta, dass sie sich mit großem Engagement für die Herausgabe dieses Buches und die rasche Herstellung beim Verlag eingesetzt haben. Wir hoffen, dass dieses Buch allen, die Eltern mit ihren Kindern, Jugendliche sowie Erwachsene in Therapie, Beratung, Pädagogik, Sozialer Arbeit sowie bei der Prävention von frühen Störungen begleiten - wie etwa Ge burtshelfer, Hebammen, Kinderärzte, Krankenschwestern, Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter, Pädagogen, Heilpädagogen, Krankengymnasten, Ergotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeuten, Richter und Politiker -, zahlreiche Anregungen gibt, die sie in ihrer täglichen Arbeit fruchtbar umsetzen können. Karl Heinz Brisch Einleitung Das vorliegende Buch fasst verschiedene Beiträge aus den Bereichen Forschung, Klinik und Prävention zusammen, die das Thema Bindung und frühe Störungen der Entwicklung mit unterschiedlichen Schwerpunkten behandeln. Es werden sowohl Ergebnisse aus der Grundlagenforschung als auch solche von Längsschnittstudien dargestellt sowie anhand von Beispielen Erfahrungen aus der klinischen Arbeit mit früh gestörten Kindern veranschaulicht, um die therapeutischen Möglichkeiten und Voraussetzungen aufzuzeigen. Kerstin Uvnäs-Moberg, die international renommierte Oxytocin-Forscherin, erklärt anhand ihrer Forschungen, welche Bedeutung das Hormon Oxytocin für die frühen Bindungsprozesse hat und auf welche Weise ein Mangel an Oxytocin aufgrund früher Störungen die Bindungsentwicklung negativ beeinflussen kann. Miri Keren berichtet, wie sich schon im Säuglingsalter depressive Symptome äußern können, wie sie diagnostiziert und behandelt werden können. Angesichts der weltweiten Zunahme von depressiven Erkrankungen im Erwachsenenalter haben diese Befunde zur Säuglingsdepression besondere Bedeutung. Die weltweit umfassendste Längsschnittstudie über die Auswirkungen der postpartalen Depression der Mütter auf die Entwicklung ihrer Kinder wurde von Lynne Murray und ihrem Team durchgeführt. Die Befunde zeigen, dass die postpartale Depression ein früher Risikofaktor ist, der in vielen Bereichen langfristige Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder hat. Als Tanztherapeutin hat Suzi Tortora einen ganz besonderen Zugang zu Müttern mit Säuglingen, deren Bindungsentwicklung durch frühe Erfahrungen von Trauma, Stress und die postpartale Depression ihrer Mütter beeinträchtigt ist. Über den nicht-sprachlichen Weg von Musik und Tanz kann sie den Eltern und ihren Kindern helfen, eine sichere Bindungsentwicklung aufzubauen. Erst durch moderne Methoden wurde es möglich, die Gene sowie die Gehirne von sehr früh traumatisierten Kindern in Längsschnittuntersuchungen sehr genau zu analysieren und dabei zu verfolgen, wie frühe Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen Gene und Gehirnregionen aktivieren oder sich blockierend auswirken. Die spektakulären Forschungen von Martin Teicher weisen darauf hin, dass der Zeitpunkt und die Art der Traumatisierung entscheidenden Einfluss auf eine Psychopathologie im späteren Leben haben. Karlen Lyons-Ruth und ihre Kollegen berichten, dass frühe Traumatisierungen von Säuglingen und Kleinkindern auf die komplexe Form der Borderline-Psychopathologie vorausweisen können. Sie zeigen, wie genetische Vulnerabilität und frühe emotionale Erfahrungen des Säuglings miteinander interagieren. Frühe traumatische Erfahrungen mit übermäßigem Stress infolge von Vernachlässigung beeinflussen auch das kindliche Immunsystem und die Entwicklung der hormonellen Stressregulation, wie Elizabeth Shirtcliff und Paula Ruttle berichten. Bisher war wenig bekannt, dass auch autistische Kinder eine sehr differenzierte Bindungsqualität mit ihren Eltern aufbauen können. Wie David Oppenheim und sein Team herausfanden, wird die Art der Bindungsqualität sehr dadurch beeinflusst, wie gut die Eltern die Diagnose ihres Kindes verarbeitet haben und wie sehr sie in der Lage sind, sich einfühlsam gegenüber ihrem Kind zu verhalten und über ihre und die Verhaltensweisen ihres Kindes zu reflektieren. Schlafprobleme von Säuglingen sind eine häufige Belastung für Eltern in der frühen Zeit. Anat Scher fand heraus, dass die Schlafprobleme des Kindes auch durch Trennungsängste der Mütter beeinflusst werden. Robert Emde berichtet, wie frühe Störungen in den Regulationsprozessen zwischen Mutter und Säugling nicht nur die Bindungsentwicklung von Kindern beeinflussen, sondern auch langfristige Auswirkungen auf die Moralentwicklung von Kindern haben. Diese Ergebnisse sind von großer gesellschaftlicher Relevanz. Carmen Pinto untersuchte die Bindungsentwicklung von Kindern, die nach einer vorausgegangenen Totgeburt geboren wurden. Sie konnte zeigen, dass diese Kinder in der Folgezeit häufiger eine desorganisierte Bindung entwickelten und auch häufiger an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung erkrankten. Die Forschungen von Gottfried Spangler zeigen das Wechselspiel zwischen genetischen Anlagen und frühen Bindungserfahrungen sowie deren Einfluss auf spätere Verhaltensauffälligkeiten von Kindern. Seine Studien tragen damit zu einem besseren Verständnis eines bio-psycho-sozialen Modells der kindlichen Entwicklung bei. Karl Heinz Brisch stellt das Modell einer stationären Intensiv-Psychotherapie vor, wie es in der Pädiatrischen Psychosomatik und Psychotherapie im Dr. von Haunerschen Kinderspital realisiert wurde. Anhand von Behandlungsbeispielen wird von ihm verdeutlicht, wie Kinder, die aufgrund von traumatischen Erfahrungen frühe Störungen mit einer ausgeprägten Psychopathologie entwickelt haben, nach dem neuen Modell von einem Team erfolgreich behandelt werden können. Alle Beiträge zusammen ergeben einen umfassenden Überblick darüber, welchen negativen Einfluss frühe traumatische Erfahrungen auf die Entwicklung von frühen Störungen, die bis ins Erwachsenenalter reichen, haben können. Auf dem Boden der Grundlagenforschung und der verschiedenen Längsschnittstudien wird nachvollziehbar, dass die Gene, das Immunsystem, die Stressregulation, die Affektsteuerung, die Bindungsentwicklung und die Psychopathologie bis ins Erwachsenenalter beeinflusst werden. Auf der Basis dieser Erkenntnisse werden modellhaft neue Wege der psychotherapeutischen Behandlung dieser frühen Störungen aufgezeigt. KERSTIN UVNÄS-MOBERG Die Funktion von Oxytocin in der frühen Entwicklung und die mögliche Bedeutung eines Ocytocinmangels für Bindung und frühe Störungen der Entwicklung Einleitung Alle Säugetiere einschließlich des Menschen zeigen gewisse elementare Reaktionsmuster wie die Abwehrreaktionen, z. B. die Kampf- oder Flucht-Reaktion, wie sie erstmals von Walter Cannon beschrieben wurde. Innerhalb dieses Reaktionsmusters kommt den hypothalamischen Peptiden Corticotropin-Releasing-Factor (CRF) und Vasopressin eine wichtige Regulierungsfunktion zu. Bei anderen Reaktionsmustern, die dem entgegengesetzten Zweck dienen, stehen Anti-Stress-Mechanismen (als growth and relaxation response bezeichnet) und soziale Fertigkeiten (als calm and connection system bezeichnet) im Vordergrund, und hier kommt dem Oxytocin eine wichtige integrierende Funktion zu. Oxytocin ist ein Nonapeptid, das ebenfalls im Hypothalamus gebildet wird und sowohl vom Hypophysenhinterlappen als auch von einem Netz oxytocinhaltiger Neuronen im Gehirn in den Blutkreislauf abgegeben werden kann. Oxytocinerge Neuronen projizieren in Hirnareale, die mit der Regulierung von sozialer Interaktion, Furcht, Schmerz, Gelassenheit, Wohlbefinden, Gedächtnis, Lernen, der hormonellen Achse vom Hypothalamus über die Hypophyse bis zur Nebennierenrinde ( Hypothalamic-pituitary-adrenocortical axis - HPA-Achse) und des Tonus des autonomen Nervensystems zu tun haben. In Tierexperimenten konnte gezeigt werden, dass die Verabreichung von Oxytocin viele Formen des sozial-interaktiven Verhaltens stimuliert, Angst reduziert, die Schmerzschwelle erhöht und insofern beruhigend und entspannend wirkt, als es den Kortisolspiegel und den Blutdruck senkt. Oxytocin regt zudem die Tätigkeit des parasympathischen Nervensystems und des MagenDarm-Trakts an, erhöht so die Nährstoffaufnahme und sorgt für Wiederherstellung und Wachstum. Lern- und Heilprozesse werden durch Oxytocin ebenfalls unterstützt. Die wiederholte Verabreichung von Oxytocin bringt lang anhaltende Wirkungen in Gang. Die Verabreichung von Oxytocin durch die Nase stimuliert beim Menschen erwiesenermaßen die soziale Interaktion, verbessert die Fähigkeit, soziale Stichworte richtig zu deuten, reduziert Angst, erhöht die Schmerzschwelle, senkt den Stresspegel und bewirkt ein Mehr an Vertrauen. Oxytocin wird nicht nur in Reaktion auf die sensorische Stimulierung während der Wehen und des Stillvorgangs ausgeschüttet, sondern bei Tieren wie bei Menschen auch in Reaktion auf eine Stimulierung der Sinne durch Berührungen, Streichelbewegungen und das Empfinden von Wärme. Bei den Menschen steigt der Oxytocinspiegel z. B. durch den Hautkontakt von Müttern und ihren neugeborenen Kindern, aber auch durch den engen Partnerkontakt unter Erwachsenen. Bei Kontakt von Haut zu Haut suchen Babys in der postpartalen Phase die Brust der Mutter, wobei an diesem Verhalten taktile, visuelle, auditive und möglicherweise olfaktorische Reize beteiligt sind. In Reaktion auf diesen sensorischen Austausch steigt der Oxytocinspiegel der Mutter. Eltern und Kinder, die in der postpartalen Phase den Hautkontakt miteinander pflegen, kommunizieren mehr miteinander und sind gelassener und entspannter als solche, die diesen Kontakt nicht haben. Zudem gehen sie feinfühliger miteinander um, und die Kinder können im Alter von einem Jahr besser mit Stresserfahrungen umgehen. Das spricht dafür, dass die durch Oxytocin vermittelten Wirkungen, wie sie in der postpartalen Periode eintreten, auf irgendeine Weise enkodiert oder konditioniert werden. Zudem dürfte der während des ganzen ersten Lebensjahres stets sich wiederholende enge Kontakt zwischen Mutter/Vater und dem Kind auch - auf dem Weg über die Stimulierung der Oxytocin-Ausschüttung und der durch Oxytocin vermittelten Wirkungen - von Bedeutung für die Entwicklung einer sicheren Bindung des Kindes sein. Zugleich wird auch die Bindung der Eltern an das Kind gestärkt. Oxytocin könnte letzten Endes auch bei der stressreduzierenden Wirkung mitmenschlicher Unterstützung, bei der gesundheitsfördernden Wirkung langfristiger positiver Beziehungen unter Erwachsenen und überdies auch dort im Spiel sein, wo sich die Anwesenheit einer hilfreichen Person positiv auf den Verlauf der Wehen und auf die damit zusammenhängenden Anpassungen auswirkt. Mehrere Studien haben einen möglichen Zusammenhang zwischen einem Oxytocinmangel (bzw. der mangelnden Funktion der Oxytocinrezeptoren) und autistischen Störungen aufgezeigt. Die Verabreichung von Oxytocin erhöht erwiesenermaßen die Fähigkeit mancher Autisten, sich über die emotionale Aussage von Gesichtsausdruck oder Stimmlage ihres Gegenübers klarzuwerden. Das stützt den Gedanken, dass ein Oxytocinmangel oder die mangelnde Funktion der Rezeptoren an manchen Formen autistischer Störungen beteiligt sein könnten. Es könnte also sein, dass Oxytocin in Zukunft zur Behandlung von Personen mit autistischen Störungen eingesetzt wird. Und möglicherweise kann der vor allem in der postpartalen Phase geübte Hautkontakt zwischen Eltern und ihren kleinen Kindern die Manifestation autistischer Symptome reduzieren. Die Kampf-und-Flucht-Reaktion und ihr durch Anti-Stress-Mechanismen (growth and relaxation response) und soziale Fertigkeiten (calm and connection reaction) gekennzeichnetes Gegenmuster Säugetiere und Menschen zeichnen sich durch eine Reihe gemeinsamer psychophysiologischer Reaktionsmuster aus, die, evolutionsgeschichtlich gesehen, sehr alt sind und einen Schutz- und Überlebenswert besitzen. Es ist allgemein bekannt, dass Abwehr- oder Stressreaktionen durch eine Gefahr, durch körperliche Schädigung/körperlichen Schmerz und durch Furcht aktiviert werden. Die Kampf- und Flucht-Reaktion, wie Walter Cannon sie beschrieben hat, ist ein Beispiel einer integrierten Stressreaktion, die mit mentalen und physiologischen Anpassungen einhergeht. Angst, Zorn, Erregung, Wut sind Teil dieses Reaktionsmusters. Zudem erreicht mehr Blut die Muskeln, um sie mit Nährstoffen und Sauerstoff zu versorgen, und es kommt zur vermehrten Aktivität des Herzkreislaufsystems und zu einer erhöhten Lungenfunktion. Zugleich wird die Tätigkeit des Verdauungstraktes zurückgefahren, und die Nährstoffe werden von der Leber beansprucht und als Brennstoff, der Aktivität ermöglicht, verwendet. Berührungsempfindlichkeit, Sozialkompetenz und Mitleidensfähigkeit sind gering. Die Kampf- und-Flucht-Reaktion ist durch eine hohe Aktivität der HPA-Achse und des sympathischen Nervensystems und durch eine geringe Aktivität des parasympathischen Nervensystems gekennzeichnet. Daneben gibt es ein nahezu entgegengesetztes Reaktionsmuster, bei dem die sozialen Fertigkeiten gestärkt, der Stresspegel reduziert und die Nährstoffe für Wachstum und Wiederherstellung genutzt werden. Dieses Reaktionsmuster wird als growth and relaxation response oder auch als calm and connection -System bezeichnet. Es wird durch Berührung, durch Wärme und leichten Druck auf die Haut und auch in Situationen aktiviert, die als ruhig, freundlich und sicher empfunden werden, also etwa in der Gegenwart von Personen, die wir mögen und denen wir vertrauen. In solchen Situationen herrschen Gelassenheit, Wohl befinden und Entspanntheit vor. Die Empfänglichkeit für erfreuliche und unschädliche Sinnesreize ist hoch, ebenso die Fähigkeit zum Mitleiden und zum sozialen Austausch. Die Aktivität der HPA-Achse und des sympathischen Nervensystems ist gering, die des parasympathischen Systems dagegen hoch. Die Nährstoffe werden für Wachstums- und Wiederherstellungsprozesse genutzt. Gene, Hormone und die sensorische Interaktion Die Tendenz, mit Abwehrreaktionen oder aber mit dem calm and connection -System zu reagieren, variiert von Individuum zu Individuum und kann auch innerhalb des gleichen Individuums schwanken. Neben genetischen Unterschieden, die dabei beteiligt sein dürften, können auch hormonelle Faktoren sowie sensorische und emotionale Erfahrungen von Einfluss darauf sein, wie stark sich diese Reaktionsmuster über kürzere oder längere Zeit äußern. Die Neigung, kämpferisch und aggressiv zu reagieren, kann durch Testosteron gefördert werden, aber auch durch erschreckende, schmerzliche und belastende Ereignisse. Analog dazu kann die Äußerung des entgegengesetzten Reaktionsmusters, des calm and connection -Systems, durch den Einfluss weiblicher Sexualhormone wie Östrogen und Progesteron, aber auch durch emotionale und sensorische Erfahrungen nichtschädlicher, erfreulicher und beruhigender Art verstärkt werden. Hormonelle, emotionale und Sinnesreize bringen in der Regel stärkere und länger anhaltende Wirkungen hervor, wenn sie frühzeitig im Leben oder sogar schon in utero erfahren werden (Uvnäs-Moberg 1997, 2004; Uvnäs-Moberg et al. 2005). Die neuroendokrine Regulierung der Kampf-Flucht-Reaktion und des growth and relaxation- bzw. des calm and connection -Systems Es ist eine bekannte Tatsache, dass die im paraventrikulären Nukleus (PVN) des Hypothalamus (und in der Amygdala) gebildeten Neuropeptide CRF und Vasopressin gemeinsam mit dem Noradrenalin (NA) aus dem Locus caeruleus (LC) im Hirnstamm die verhaltensspezifischen und endokrinen Aspekte von Abwehr- und Stressreaktionen regulieren. Dagegen integriert das ebenfalls im PVN produzierte Neuropeptid Oxytocin wichtige Aspekte der growth and relaxation/calm and connection -Reaktion. Es folgt ein auf Tierexperimenten basierender Überblick über die Morphologie des oxytocinergen Systems im Gehirn und über die verschiedenen Funktionen von Oxytocin. Dabei werden nur solche Daten erwähnt, die für die hier präsentierten Vorstellungen und Ergebnisse relevant sind. Oxytocin Oxytocin ist ein aus 9 Aminosäuren bestehendes Peptidhormon von sehr konservierter Struktur, die bei allen Säugern die gleiche ist. Produziert wird es im PVN und im supraoptischen Kern (supraoptic nucleus, SON) des Hypothalamus. Aus beiden Kernen wird es über den Hypophysenhinterlappen in den Blutkreislauf abgegeben und dient dazu, die Kontraktionen der Gebärmutter und den Milcheinschuss zu stimulieren. Zusätzlich wird es auch aus den Axonen von Nervenzellen abgegeben, die ihren Ursprung im PVN haben und in viele wichtige Steuerungsareale des Gehirns projizieren, wo es als Neurotransmitter fungiert. In Reaktion auf eine intensive Stimulierung der oxytocinproduzierenden Neuronen wird Oxytocin auch von den Zellkörpern und den Dendriten der Neuronen abgegeben und kann damit parakrine Wirkungen nicht nur in der engen Nachbarschaft der oxytocinproduzierenden Zellen, sondern im Wege der Diffusion auch in entfernten Regionen ausüben. Oxytocinhaltige Neuronen erreichen z. B. die Amygdala (ein wichtiges Steuerzentrum für soziale Interaktion und Sozialangst), den Hippocampus (das Lern-und Gedächtniszentrum), andere Bereiche innerhalb des Hypothalamus (des Steuerbereichs für Stresssreaktionen, Aggression, Nahrungsaufnahme usw.), den Hypophysenvorderlappen (wichtige Hormonproduktion), den Locus caeruleus (LC; Regulierung von Aggression und Wachsein), die Raphe-Kerne (Regulierung der Stimmung), das Striatum und den Nucleus accumbens (NclAcc; Regulierung motorischer Funktionen, von Wohlbefinden und Belohnungsempfinden), das periaquäduktale Grau (PAG und Rückenmark) (Schmerzregulierung) und die motorischen und sensorischen Kerne (DMX und NTS) des Nervus vagus (Zentren der Kontrolle des vegetativen Nervensystems) (Sofroniew 1983; Buijs et al. 1985; Ludwig & Leng 2006). Die Wirkungen von Oxytocin bei Tieren Auf der Basis von Tierexperimenten konnte gezeigt werden, dass Oxytocin im Gehirn das sozial-interaktive Verhalten und damit auch das mütterliche Verhalten fördert, die Bindung zwischen der Mutter und ihrem Nachwuchs stärkt und bei manchen Spezies auch die Paarbindung stimuliert. An der letztgenannten Wirkung sind die dopaminergen Mechanismen im NclAcc und das Vasopressin beteiligt. Oxytocin erhöht auch das Gefühl des Wohlbefindens, indem es serotonerge und dopaminerge Mechanismen im NclAcc und den Raphe-Kernen beeinflusst. Oxytocin mindert Angst, indem es auf die Amygdala einwirkt; es mindert das Schmerzempfinden durch eine über endogene opioiderge Mechanismen vermittelte Wirkung auf das PAG und das Rückenmark; es wirkt über Alpha-2Adrenozeptoren im Locus caeruleus der Aggression und der Erregung entgegen; und es wirkt der Aktivität der HPA-Achse entgegen, indem es die Sekretion von CRF in den PVN und von ACTH (= adrenokortikotropes Hormon) in den Hypophysenvorderlappen blockiert. Auch die Funktion der Glukokortikoidrezeptoren im Hippocampus wird beeinflusst, mit der Folge einer Verminderung der Sekretionsspiegel von Kortikosteron (bei Ratten) oder Kortisol (bei Menschen). Oxytocin mindert auch die Aktivität wichtiger Komponenten des sympathischen Nervensystems, die das Herzkreislaufsystem steuern, was zu einer Verminderung des Blutdrucks und zu erhöhter peripherer Zirkulation und erhöhter Hauttemperatur führt. Dabei spielen oxytocin-induzierte Effekte auf die Alpha-2-Adrenozeptoren eine wichtige Rolle. Oxytocin verstärkt die Funktion gewisser Komponenten des parasympathischen Nervensystems, die ihrerseits die Funktion des endokrinen Systems des Verdauungstrakts steuern, was die Verdauung fördert und zur Speicherung der Nährstoffe bzw. zu ihrer Verwendung im Sinne von Wachstum, Wiederherstellung und Wundheilung führt. Gedächtnis- und Lernleistung verbessern sich möglicherweise ebenfalls. Dabei spielt die oxytocin-vermittelte Aktivierung cholinerger Mechanismen und Wachstumsfaktoren eine wichtige Rolle. Wenn Oxytocin wiederholt verabreicht wird, halten die Wirkungen lange Zeit (bis zu mehreren Wochen) an, weil die Funktion etwa der opioidergen, (nor)adrenergen, serotonergen, dopaminergen und cholinergen Signalsysteme verstärkt wird (Pedersen et al. 1979: Richard et al. 1991; Keverne & Kendrick 1992; Neumann et al. 2000; Insel 2003; Petersson et al. 1996, 1999; Uvnäs-Moberg 1989, 1994, 1996, 1998; Uvnäs-Moberg & Petersson 2005). Die Verabreichung von Oxytocin an Menschen mittels Nasenspray oder Infusion Bei Menschen bringt die Verabreichung von Oxytocin in Form eines Nasensprays ähnliche Wirkmuster hervor, wie sie zuvor schon in Tierexperimenten beobachtet wurden. Selbstverständlich verursacht Oxytocin Uteruskontraktionen und den Milcheinschuss. Darüber hinaus reduziert es Angst, Stress und Schmerz. Es fördert die soziale Interaktion und auch die Sozialkompetenz (die Fähigkeit, sich die emotionale Botschaft des Gesichtsausdrucks oder auch der Stimmlage des Gegenübers zu erklären). Oxytocin wirkt zudem vertrauensfördernd. Alle diese Effekte können bei Männern wie bei Frauen auftreten (Heinrichs et al. 2003; Kirsch et al. 2005; Kosfeld et al. 2005; Domes et al. 2007a, b; Hollander et al. 2007; Jonas et al. 2008b; Guastella et al. 2009a, b). Oxytocin-Ausschüttung und -Wirkung in Reaktion auf sensorische Stimulierung Stillen als »menschliches« Beispiel für die wiederholteOxytocin-Ausschüttung Das Stillen kann als »menschliches« Beispiel für oxytocin-induzierte Wirkungen auf Verhalten und physiologische Vorgänge betrachtet werden, da Oxytocin in Reaktion auf jeden einzelnen Stillvorgang in den Blutkreislauf abgegeben wird, wo es den Milcheinschuss in Gang setzt. Darüber hinaus wird Oxytocin in das Gehirn abgegeben, wo es eine Vielzahl verhaltensspezifischer und physiologischer Anpassungsfunktionen integriert. Mütter sind jedes Mal, wenn sie ihr Kind stillen, aufgeschlossener für den sozialen Austausch, gelassener und weniger ängstlich. Sie lernen auch rasch, ihr Kind »zu verstehen«, und beginnen eine Bindung zu ihm zu entwickeln. Überdies fühlen sie sich wohl, und ihr Stresshormonpegel sinkt ebenso wie ihr Blutdruck. Gleichzeitig werden die Funktionen ihres Magen-Darm-Trakts und der aufbauende Stoffwechsel gestärkt (Widström et al. 1987; Uvnäs-Moberg 1989, 1996; Nissen et al. 1996; Heinrichs et al. 2002; Jonas et al. 2008a; Guastella et al. 2009a, b). Die langfristigen Wirkungen von Oxytocin bei stillenden Frauen Die Anpassungsleistungen von Müttern sind nach einer Periode des Stillens deutlicher ausgeprägt und dauerhafter und halten über die gesamte Stillperiode und vielleicht noch darüber hinaus an. Solange sie stillen, sind Mütter weniger ängstlich und offener für den sozialen Austausch (Jonas et al. 2008b). Ihr Kortisolspiegel sinkt in Reaktion auf physische Tätigkeit, und auch der basale Blutdruck nimmt im Verlauf einer sechsmonatigen Stillperiode ab (Altemus et al. 1995; Jonas et al. 2008a). Zudem haben Frauen, die gestillt haben, sogar ein verringertes Risiko, später im Leben eine Herzkreislauferkrankung, etwa einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall, zu erleiden oder an Diabetes Typ 2 zu erkranken (Lee et al. 2005; Stuebe 2009). Diese lang anhaltenden Veränderungen in der Folge des Stillens ähneln den langfristigen Wirkungen, wie sie - vermittelt durch Veränderungen in der Funktion anderer Signalsysteme - auch bei Ratten nach wiederholter Verabreichung von Oxytocin auftreten. Was bewirkt Oxytocin beim saugenden Säugling? Während des Stillvorgangs kommt bei dem saugenden Kind ein Wirkmuster in Gang, das dem bei stillenden Müttern beobachteten Muster ähnelt und es ergänzt. Anders als bei einer Reihe anderer Säugetiere wie z. B. beim Rind steigt der Spiegel des im Blut zirkulierenden Oxytocins während des Saugvorgangs beim menschlichen Kind nicht an. Das oxytocin-induzierte Wirkmuster setzt aber auch beim menschlichen Baby ein: Das Saugen übt eine beruhigende Wirkung aus, der Kortisolspiegel sinkt, die Hauttemperatur steigt als Zeichen der entspannten Verfassung. Auf dem Weg über die Aktivierung der Vagusnerven kommt es zu einem Anstieg gastrointestinaler Hormone und damit zu einer effizienteren Verwertung der Nährstoffe; in der Tat steigt die Gewichtszunahme pro aufgenommener Kalorie (Uvnäs-Moberg et al. 1987, 1989; Jonas et al. 2007). Aus der Perspektive des vorliegenden Beitrags können die mit dem Stillen verbundenen kurz- und langfristigen Anpassungen sowohl der Mutter als auch des Kindes, wie sie durch die wiederholte Ausschüttung von Oxytocin in Reaktion auf das Saugen zustande kommen, als Ausdruck einer vermehrten Aktivität des growth and relaxation- bzw. des calm and connection -Systems betrachtet werden. Oxytocin-Ausschüttung über die Aktivierung der Sinneszellen der Haut Oxytocin wird nicht nur durch den Saugreiz beim Stillen ausgeschüttet, sondern auch durch das nahe Beieinandersein wie etwa beim Hautkontakt. Das hat seinen Grund darin, dass die Sinneszellen der Haut, die eine Oxytocin-Ausschüttung verursachen, durch Wärme, leichten Druck und Streichelbewegungen, wie sie beim Hautkontakt zustande kommen, aktiviert werden. In Reaktion auf diese Art von »Nähe« wird zwar sehr viel weniger Oxytocin als beim Saugen in den Blutkreislauf abgegeben; vergleichsweise mehr Oxytocin gelangt dafür aber im Dienst zentraler Wirkungen in das Gehirn. Tatsächlich können alle durch das Saugen angeregten verhaltensbezogenen und physiologischen Wirkungen mit Ausnahme des Milcheinschusses und der Prolactin-Sekretion auch durch den Hautkontakt zwischen Mutter und Kind im Verlauf einer Stillepisode zustande kommen (Uvnäs Moberg 1998; Heinrichs et al. 2002; Jobas et al. 2007; Handlin et al. 2009; Uvnäs-Moberg & Petersson 2010). Oxytocin in der postnatalen Periode Ein Kind, das seiner Mutter gleich nach der Geburt an die Brust gelegt wird, »übt« ein »brustsuchendes« Verhalten und »massiert« die Brust der Mutter zugleich mit seiner Annäherung. Diese Massage ist dosisabhängig mit einem Anstieg des Oxytocinspiegels der Mutter verknüpft. In der Folge der Oxytocin-Ausschüttung (die auch in Gang kommt, wenn die Mutter ihr kleines Kind sieht, hört und riecht) steigt die Brusttemperatur, und die Mutter beginnt mit dem Kind zu interagieren und zu kommunizieren (Widström et al. 1987; Matthiesen et al. 2001; Bystrova et al. 2007). Im Hautkontakt beruhigt sich das kleine Kind eher und schreit weniger als ein Kind in einer Kinderkrippe. Dieser »mentalen« Gelassenheit entspricht eine körperliche Entspanntheit, wie sie sich in der höheren Haupttemperatur z. B. an den Füßen des Kindes zeigt. Diese hat mit einer Erweiterung der Blutgefäße zu tun, verursacht wiederum durch eine Blockade des für die Kontraktion der Blutgefäße zuständigen sympathischen Nervensystems. Zudem kommt es durch den veränderten Pegel der Hormone des Magen-Darm-Trakts zu vermehrter Aktivität des Verdauungssystems und des Speicherstoffwechsels beim Kind. Alle diese Wirkungen dürften ebenso wie bei der Mutter durch Oxytocin miteinander integriert werden, das in Reaktion auf die Stimulierung der Sinneszellen durch Berührung, Wärme und leichten Druck in das Gehirn des Kindes abgegeben wird. Zusätzlich wird die Hauttemperatur des Kindes von derjenigen der Mutter reguliert und dieser angepasst. Je wärmer die Mutter, desto höher ist die Hauttemperatur des Kindes insbesondere an den Füßen. Mit anderen Worten, je wärmer und entspannter die Mutter, desto wärmer und entspannter auch das Kind (Christensson et al. 1992; Törnhage et al. 1998; Bystrova et al. 2003, 2007). Durch den Hautkontakt vermittelte wechselseitige Vorgänge bei Mutter und Kind - eine primitive Form des Spiegelns Heute besteht allgemeine Übereinstimmung darüber, dass Kind und Mutter durch Aktivierung der Spiegelneuronen im sensorischen und motorischen Kortex unbewusst den Gesichtsausdruck und die lautlichen Äußerungen der jeweils anderen Person imitieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass man die durch den Hautkontakt zustande kommende Anpassung der Hauttemperatur des Kindes an diejenige seiner Mutter als eine primitive Form des Spiegelns betrachten könnte. Tatsächlich lassen sich sogar die bilaterale Aktivierung der Oxytocin-Ausschüttung und die oxytocin-induzierten Wirkmuster, wie sie bei beiden in der Folge des Hautkontaktes zu beobachten sind, als elementare Form des Spiegelns ansehen. Wenn Oxytocin in Reaktion auf einen gleich nach der Geburt bestehenden Hautkontakt abgegeben wird, dann begünstigt das auch die Äußerung eher klassischer Formen des Spiegelns. Zum Beispiel imitieren Mutter und Kind in dieser Situation die Vokalisierungen der jeweils anderen Person - also ihre »Anliegen« - häufiger (Lepage & Theoret 2007; Velandia et al. 2010). Eine Oxytocin-Ausschüttung durch Hautkontakt wirkt dem Geburtsstress des Kindes entgegen Während der Wehen ist der Stresspegel des Kindes sehr hoch. Das ist während der Geburt selbstverständlich notwendig, aber es ist auch von großer Bedeutung für die Entwicklung und Entfaltung gewisser physiologischer Funktionen. Lang anhaltender Stress ist allerdings schädlich für Funktionen, die mit Entwicklung und Wachstum zu tun haben. Da der Hautkontakt beim Kind für Gelassenheit und körperliche Entspanntheit sorgt, ist er zwischen Kind und Mutter in der postpartalen Periode eine natürliche Möglichkeit, dem Geburtsstress entgegenzuwirken (Lagercrantz & Slotkin 1986; Bystrova et al. 2003). Die Känguru-Pflege Die Känguru-Pflege, also der direkte Hautkontakt zwischen Mutter/Vater und ihrem zu früh geborenen Kind, ist auch ein Beispiel dafür, dass und wie man sich den Einfluss von Hautkontakt und die oxytocin-vermittelten Wirkungen in einem längerfristigen klinischen Setting zunutze machen kann. Mit der Känguru-Pflege wachsen und gedeihen die Kinder rascher, und die Mutter hat mehr Milch. Zudem werden Zuneigung und Bindung zwischen Eltern und Kind stärker. Diese Wirkungen sind in einer Vielzahl klinischer Studien bestätigt worden (Feldman et al. 2002). Ein biologisches »Fenster« für die langfristige Stimulierung von Anti-Stress-Wirkungen und sozialen Fertigkeiten unmittelbar nach der Geburt Sowohl Klaus als auch Kennell haben darauf aufmerksam gemacht, dass Mutter und Kind, denen der Hautkontakt unmittelbar nach der Geburt ermöglicht wurde, mehrere Monate lang besser miteinander interagieren. Zur Beschreibung dieses Phänomens prägten sie den Begriff der frühen sensiblen Phase (Klaus et al. 1972; Kennel et al. 1975). In einer in Russland durchgeführten randomisierten Studie wurde aufgezeigt, dass Mutter und Kind, denen in den ersten zwei Stunden nach der Geburt Haut kontakt ermöglicht wird, zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind ein Jahr alt ist, vergleichsweise feinfühliger miteinander umgehen und stärker aufeinander bezogen sind. Auch kann ein solches Kind dann besser mit Stresserfahrungen fertig werden. Diese Wirkung ist schwächer entwickelt, wenn das Kind nach der Geburt zwar fest im Arm seiner Mutter liegt, aber bekleidet ist - ein Hinweis auf die besondere Rolle des Hautkontakts an sich und möglicherweise auch auf die isolierende Wirkung von Kleidung. Wie wichtig die ersten Stunden nach der Geburt sind, zeigte sich daran, dass Mutter-Kind-Dyaden, die in den ersten 90 Minuten nach der Geburt voneinander getrennt und anschließend wiedervereinigt wurden, diese vermehrte soziale Interaktion und geringere Stress-Reaktivität eben nicht zeigten. Insgesamt legen diese Daten es nahe, dass es unmittelbar nach der Geburt ein biologisches »Fenster« gibt, eine Zeit, in der die Entwicklung sozial-interaktiver Verhaltensweisen und die Fähigkeit, mit Stress fertig zu werden, bei menschlichen Mutter-Kind-Dyaden in der gleichen Weise verstärkt werden dürften wie bei anderen Arten von Säugern (Bystrova et al. 2009). Der Oxytocin-Spiegel als Reflex oxytocin-vermittelter zentraler Wirkungen Mehrere Studien zeigen, dass Mütter in Schwangerschaft und Stillzeit einen bestimmten, sehr individuellen Oxytocin-Spiegel haben. Manche Studien verweisen auch darauf, dass die Höhe der Oxytocin-Werte im Blutkreislauf gewisse Wirkungen des Oxytocins spiegelt, die in Wahrheit im Gehirn stattfinden. Mütter mit hohen Oxytocin-Spiegeln während Schwangerschaft und Stillzeit haben größere Babys, interagieren mehr mit ihren kleinen Kindern und stillen sie länger. Auch das Ausmaß ihrer sozialen Interaktion und ihrer Gelassenheit, ermittelt durch Personenfragebögen wie die Karolinska Scales of Personality, und die Menge an Milch, die während des Stillvorgangs ausfließt, korrelieren mit den Oxytocin-Spiegeln während des Stillens. Zusammengenommen sprechen diese Daten für die wichtige regulierende Rolle des Oxytocins bei diesen Anpassungsleistungen von Müttern (Uvnäs-Moberg et al. 1990a, b; Silber et al. 1991; Nissen et al. 1996, 1998; Feldman et al. 2007).
Erscheint lt. Verlag | 9.6.2015 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | ADHS • ADS • Aufmerksamkeitsstörung • Autismus • Bindung • Bindungsforschung • Depression • Emotionale Störung • Entwicklungspsychologie • Erziehung • Kindepsychotherapie • Kinderpsychiatrie • Kleinkind • Kleinkindforschung • Kognitive Entwicklung • Pädiatrie • Prävention • Psychologie • Psychologische Beratung • psychosoziale Störung • Psychotherapie • Säugling • Säuglingsforschung • Sozialarbeit |
ISBN-10 | 3-608-20292-7 / 3608202927 |
ISBN-13 | 978-3-608-20292-2 / 9783608202922 |
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