Gendiagnostik als Therapie
Die prädiktive genetische Beratung ist eine neuartige medizinische Praxis, in der gesunde Menschen auf Gendefekte hin untersucht werden, die erst im späteren Leben eine schwere Krankheit zur Folge haben können. Nils Heyen analysiert konkrete Beratungsgespräche aus soziologischer Perspektive und rekonstruiert so das therapeutische Potential, das die prädiktive Gendiagnostik im Hinblick auf die Probleme der Ratsuchenden hat. Vor diesem Hintergrund verortet er die gendiagnostische Praxis gesellschafts- und professionalisierungstheoretisch und zeigt, dass die Zukunft keineswegs zwangsläufig zu einer technokratischen (Bio-)Medizin führt.
Nils B. Heyen, Dr. phil., hat am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld promoviert und ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe.
Inhalt
Vorwort 9
1 Einleitung 11
2 Prädiktive Gendiagnostik, humangenetische Beratung und die Berufsgruppe der humangenetischen Ärzte - Einführung und Forschungsstand 23
2.1 Prädiktive Gendiagnostik - Grundlagen, Implikationen, Deutungen 25
2.1.1 Grundlagen und Begriffsbestimmungen der prädiktiven Gendiagnostik 25
2.1.2 Psychosoziale Implikationen der prädiktiven Gendiagnostik 34
2.1.3 Gesellschaftliche Implikationen der prädiktiven Gendiagnostik 37
2.1.4 Die diskursive Deutung der prädiktiven Gendiagnostik als Krankheitsprävention 44
2.2 Humangenetische Beratung - Grundlagen, Forschung, Ethik, Diskurs 49
2.2.1 Grundlagen und Begriffsbestimmungen der humangenetischen Beratung 49
2.2.2 Humangenetische Beratung als Gegenstand empirischer Forschung 58
2.2.3 Zur Ethik der humangenetischen Beratung 62
2.2.4 Das genetische Beratungsgespräch als Informations- und Entscheidungshilfegespräch 68
2.3 Die Berufsgruppe der humangenetischen Ärzte - professionssoziologische Aspekte 75
2.3.1 Die Berufsgruppe der humangenetischen Ärzte als Teil der medizinischen Profession 75
2.3.2 Standards und Leitlinien in der medizinischen Profession 81
2.3.3 Unsicherheitsabsorption durch Standards und Leitlinien humangenetischer Beratung 85
2.3.4 Auf dem Weg zur Bestimmung typisch ärztlich-professionellen Handelns 94
3 Prädiktive Gendiagnostik und prädiktive genetische Beratung - theoretische Perspektiven 97
3.1 Unterscheidungstheoretische Beobachtung der prädiktiven Gendiagnostik 99
3.1.1 Unterscheidungstheoretische Grundlagen 99
3.1.2 Dekonstruktion der diskursiven Deutung der prädiktiven Gendiagnostik in Unterscheidungen 103
3.1.3 Rekonstruktion zweier Beobachtungsweisen der prädiktiven Gendiagnostik 111
3.2 Prädiktive genetische Beratung und Gesellschaftstheorie 114
3.2.1 Das Gesundheitssystem der Gesellschaft 115
3.2.2 Medizintheorie und Gesundheitswissenschaften: Selbstbeschreibungen des Gesundheitssystems 129
3.2.3 Die prädiktive genetische Beratung des Gesundheitssystems 142
3.3 Prädiktive genetische Beratung aus professionalisierungstheoretischer Sicht 148
3.3.1 Professionalisiertes Handeln 148
3.3.2 Professionalisierungstheoretische Kritik und Entwicklungsgeschichte der Nichtdirektivität 159
3.3.3 Die prädiktive genetische Beratung: eine professionalisierte Praxis? 162
4 Die problembewältigende Praxis der prädiktiven genetischen Beratung - empirische Untersuchung 167
4.1 Methodisches Vorgehen 169
4.1.1 Datenerhebung und Datenmaterial 170
4.1.2 Datenauswertung: das Verfahren der objektiven Hermeneutik 178
4.2 Exemplarische Analyse eines genetischen Beratungsgesprächs 182
4.2.1 Zwischenfazit zum behandlungsbedürftigen Klientenproblem 203
4.2.2 Zwischenfazit zur ärztlichen Problemerfassung und -behandlung 224
4.2.3 Zusammenfassung 239
4.3 Das Unsicherheitsproblem und seine stellvertretende Bewältigung 243
4.3.1 Das Problem der Klienten mit ihrer Unsicherheit 245
4.3.2 Die Erfassung des Unsicherheitsproblems 255
4.3.3 Die Behandlung des Unsicherheitsproblems 261
4.3.4 Zusammenfassung 276
4.4 Zur Professionalisiertheit der Unsicherheitsbewältigung 277
4.4.1 Zum Arbeitsbündnis zwischen Arzt und Klient 278
4.4.2 Zum Spannungsverhältnis von Wissensbasis und Fallspezifität 292
4.4.3 Zusammenfassung 302
4.5 Zur Praxisreflexion der genetischen Berater 305
4.5.1 Ziel der Beratungspraxis und das zu bewältigende Klientenproblem 308
4.5.2 Zum Arbeitsbündnis zwischen Arzt und Klient 314
4.5.3 Zum Spannungsverhältnis von Wissensbasis und Fallspezifität 328
4.5.4 Zum Selbstverständnis der genetischen Berater 331
4.5.5 Zusammenfassung 337
4.6 Die prädiktive genetische Beratung als professionalisierte Unsicherheitsbewältigungspraxis - Zusammenfassung der Befunde 339
5 Resümee und Ausblick 344
Literatur 374
Sachregister 406
Verzeichnis der Transkriptionszeichen 411
"Heyens mit akribischer Sorgfalt geschriebene Arbeit ist bedeutsam und kann die Diskussion über prädiktive Medizin auf eine neue Grundlage stellen." Christoph Rehmann-Sutter, Bioethica Forum, 01.06.2013
Wer als "gut informierter Bürger" (Schütz 1946) die wichtigsten Nachrichten und öffentlichen Debatten in den Massenmedien verfolgt, erfährt regelmäßig von den neuesten Erkenntnissen und Fortschritten der humangenetischen Forschung und biotechnologischen Entwicklung. Man weiß etwa, dass es ein mit großen internationalen Anstrengungen vorangetriebenes Humangenomprojekt gegeben hat, das die komplette Sequenzierung des menschlichen Erbgutes zum Ziel hatte und 2003 erfolgreich abgeschlossen wurde, und vielleicht weiß man sogar, dass damit wissenschaftlich deutlich weniger gewonnen worden ist als ursprünglich erwartet. Man registriert die Debatte zur Stammzellforschung und ihrer rechtlichen Regulierung in Deutschland. Man liest und hört Berichte von der Entdeckung eines bestimmten Gens, das für eine menschliche Eigenschaft oder eine spezifische Krankheit verantwortlich gemacht wird, und erfährt auch manchmal etwas über den aktuellen Stand der Bemühungen um die Entwicklung einer Gentherapie. Man wird zunehmend vertraut mit Begriffen wie Klonen oder Präimplantationsdiagnostik und nimmt vielleicht auch Reportagen von Journalisten zur Kenntnis, die dem kostspieligen Angebot mancher Unternehmen im Internet gefolgt sind, das eigene persönliche Genom analysieren zu lassen. Weit weniger präsent ist in den Medien dagegen, wie sehr humangenetische Erkenntnisse und Technologien bereits Eingang in die medizinische (Anwendungs-)Praxis gefunden haben. Längst ist die Humangenetik im medizinischen Alltag angekommen. Das betrifft nicht nur die sogenannte Pränataldiagnostik, die schon lange zur Routine in der Schwangerschaftsvorsorge gehört, sondern auch die sogenannte (postnatale) prädiktive Gendiagnostik. Sie dient der Untersuchung von symptomfreien, das heißt klinisch gesunden Menschen auf Erbanlagen hin, welche die Disposition für eine sich erst im späteren Leben manifestierende Erkrankung mit sich bringen. Es geht ihr mit anderen Worten um genetisch bedingte Krankheitsrisiken, also nicht um aktuelle, sondern um zukünftige Erkrankungen, deren tatsächliches Eintreten mal mehr, mal weniger wahrscheinlich ist. Die prädiktive Gendiagnostik ist daher auch schon mit "Horoskopen" (Rehmann-Sutter 1998) verglichen oder als "der medizinische Blick in die Zukunft" (Kollek & Lemke 2008) umschrieben worden. Zentrale medizinische Anwendungspraxis dieser voraussagenden (prädiktiven) Gendiagnostik ist die sogenannte humangenetische Beratung. Sie wird in Deutschland von Ärzten durchgeführt und steht durch das jüngst verabschiedete Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz) auch explizit unter Arztvorbehalt. Hier werden die jeweiligen Fragen des Ratsuchenden geklärt, ein für die Beurteilung von Erbvorgängen entscheidender Familienstammbaum erhoben, relevante Informationen vermittelt und gegebenenfalls eine Blutprobe des Ratsuchenden für eine genetische Laboranalyse entnommen. Eine humangenetische Beratung, in deren Fokus eine prädiktive Gendiagnostik - und nicht etwa eine Pränataldiagnostik - steht, wird im Folgenden als prädiktive genetische Beratung bezeichnet. Sie ist Thema dieses Buches. Die prädiktive genetische Beratung ist nämlich eine überaus auffällige ärztliche Praxis, gerade wenn man sie mit einer herkömmlichen vergleicht. Zunächst einmal sind die "Patienten", die Arzt und Beratung aufsuchen, vollkommen gesund. Sie haben keine körperlichen Schmerzen, zeigen keine Symptome und leiden an keiner akuten Krankheit, und wenn doch, liegt darin nicht der Grund für ihren Arztbesuch. Dabei ist mit dem Begriff des Patienten gemeinhin ein Kranker in ärztlicher Behandlung bezeichnet. Entsprechend gelten Arzt und Patient als komplementäre Rollenbegriffe. In der prädiktiven genetischen Beratung aber sitzt dem Arzt kein kranker, sondern ein klinisch gesunder Mensch gegenüber. Deshalb wird in diesem Buch in der Regel vom Klienten und nicht vom Patienten der prädiktiven genetischen Beratung die Rede sein. Was aber ist mit denjenigen Klienten, bei denen mittels eines prädiktiven Gentests eine Erbanlage diagnostiziert worden ist, die eine schwere Erkrankung - sei es Krebs oder eine klassische Erbkrankheit wie Chorea Huntington - im Laufe des Lebens wahrscheinlich oder sogar so gut wie sicher macht? Abgesehen davon, dass eine solche Gendiagnose für die Betroffenen alles andere als einfach zu bewältigen ist, werden diese positiv getesteten Personen in der Literatur gerne als "gesunde Kranke" bezeichnet, denn sie befinden sich in einer Art Zwischenreich: Zwar sind sie klinisch gesund, sie tragen aber etwas in sich, das sie (sehr) wahrscheinlich krank machen wird. Möglicherweise gehen sie deshalb regelmäßig zur Vorsorge oder lassen sich im Hinblick auf erste Symptome der erwarteten Erkrankung untersuchen. Dann wären sie tatsächlich ähnlich wie Kranke in regelmäßiger ärztlicher Behandlung, obwohl vielleicht (noch) symptomfrei. Aus dieser Perspektive erscheint die prädiktive genetische Beratung als eine ärztliche Praxis, in der nicht etwa - wie gewöhnlich - Kranke gesund, sondern Gesunde zu (gesunden) Kranken werden. Die prädiktive genetische Beratung fällt als ärztliche Praxis auch deshalb auf, weil dem Arzt hier in der Regel keinerlei (gen-)therapeutische Handlungsoptionen zur Verfügung stehen. Der Arzt therapiert nicht, und er heilt auch keine Krankheiten. Er diagnostiziert - und zwar spezifische Genveränderungen. Allem Anschein nach geht es in der prädiktiven genetischen Beratung also allein um Diagnostik, nicht um Therapie. Darüber hinaus ist es weniger die akute Gegenwart als die gesundheitliche Zukunft des Klienten, die sich im Fokus der Aufmerksamkeit befindet. Keine behandlungsbedürftige Krankheit, keine nach unmittelbarer Linderung verlangenden Schmerzen stehen im Zentrum dieser ärztlichen Praxis, sondern für den Klienten allenfalls abstrakt erfahrbare Erkrankungen, die sich in naher oder ferner Zukunft manifestieren können, aber keineswegs müssen. Mit dem klassischen ärztlichen Handlungsziel der Heilung akuter Krankheiten hat die prädiktive genetische Beratung also offenbar recht wenig zu tun.
Erscheint lt. Verlag | 14.5.2012 |
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Reihe/Serie | Kultur der Medizin ; 36 |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 141 x 214 mm |
Gewicht | 507 g |
Themenwelt | Studium ► 1. Studienabschnitt (Vorklinik) ► Med. Psychologie / Soziologie |
Sozialwissenschaften ► Soziologie | |
Schlagworte | Gendefekt • Gendiagnostik • Genetische Beratung • Gentest • Humangenetik • prädiktive genetische Beratung • Prävention • Therapie • Vorhersage |
ISBN-10 | 3-593-39592-4 / 3593395924 |
ISBN-13 | 978-3-593-39592-0 / 9783593395920 |
Zustand | Neuware |
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