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Bindungen - Paare, Sexualität und Kinder

Karl Heinz Brisch (Herausgeber)

Buch | Hardcover
294 Seiten
2011
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-94717-5 (ISBN)
CHF 55,95 inkl. MwSt
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Paarbeziehungen werden durch die früheren Bindungserfahrungen der jeweiligen Partner bestimmt. Wie entstehen vor diesem Hintergrund echte Liebesbeziehungen? Welchen Einfluss hat die Bindungsqualität auf Sexualität, Partnerschaft der Eltern und auf die Entwicklung der Kinder? Wie wirken sich Trennungen des Elternpaares auf die Bindungsfähigkeit der Kinder aus? Wie verarbeiten Eltern den Verlust eines Kindes? Welchen Einfluss haben traumatische Erfahrungen auf die Entstehung von destruktiven Täter-Opfer-Bindungen? Wie können diese behandelt werden?


Paarbeziehungen werden durch die früheren Bindungserfahrungen der jeweiligen Partner bestimmt. Wie entstehen vor diesem Hintergrund echte Liebesbeziehungen? Welchen Einfluss hat die Bindungsqualität auf Sexualität, Partnerschaft der Eltern und auf die Entwicklung der Kinder? Wie wirken sich Trennungen des Elternpaares auf die Bindungsfähigkeit der Kinder aus? Wie verarbeiten Eltern den Verlust eines Kindes? Welchen Einfluss haben traumatische Erfahrungen auf die Entstehung von destruktiven Täter-Opfer-Bindungen? Wie können diese behandelt werden?

Karl Heinz Brisch, Priv.-Doz., Dr. med. habil., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrie, Psychosomatische Medizin sowie Nervenarzt und Psychoanalytiker. Er leitet die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie im Dr. von Haunerschen Kinderspital, Klinikum der Universität München.

Vorwort7
Einleitung 9


HANS JELLOUSCHEK
Die Bedeutung der Partner-Liebe
für das Eltern-Sein 13

KAREN HASSELMO, JAMES A. COAN UND LANE BECKES
Die »Social
Baseline«-Theorie und die soziale Regulierung von
Emotionen 22

JULIA BERKIC UND JULIA QUEHENBERGER
Bindungsspezifische Mechanismen der
Emotionsregulation bei Langzeit-Ehepaaren 36

KIRSTEN VON SYDOW
Bindung und Partnerschaft: Forschungsergebnisse und

Implikationen für die Paar- und die Einzeltherapie 61KATE WHITE
Die
Verflechtung von Bindung und Sexualität in der klinischen Arbeit 80

ANTONIA BIFULCO
Problematische Partnerschaften und elterliches
Erziehungsverhalten: Ein bindungstheoretischer Blick auf die transgenerationale

Weitergabe von Risiken 96

PHILIP A. COWAN UND CAROLYN PAPE COWAN
Erwachsenenbindung, Paarbindung und
Kindesentwicklung:
Ein familiensystemisches Modell und seine Bedeutung für

beziehungs- und bindungsorientierte Interventionen 123


JUDITH A. CROWELL
Frühe Schädigung, Bindungsrepräsentationen und
Partnerschaft 147

EGON GARSTICK
Vom Elternwerden zur Elternschaft: Über
Identitätskrisen bei Eltern 158


ROLAND KACHLER
Paare nach dem Verlust eines
Kindes177


SUSAN GOLOMBOK
Neue Familienformen 195


JOCHEN PEICHL
Destruktive Paarbeziehungen: Wie
entsteht die Spirale der Gewalt? 226


MICHAELA HUBER
Destruktive Täter-Opfer-Bindungen
244

KARL HEINZ BRISCH
Die Bedeutung von Gewalt in der Paarbeziehung für die

Psychotherapie mit Kindern 269

Adressen der Autorinnen und Autoren 292

»Nach meinen nun mehr als 20 Jahren Beratung in und mit Gruppen als "Partnerschule" freue ich mich insbesondere über solche Belege, die meinen Erfahrungen und eigenen prospektiven Untersuchungen entsprechen. Und in diesem Sinne finden wir eine Fülle an empirisch gesicherten Daten, die in hohem Maße nützlich sein können, die Schwerpunkte und Vorgehensweisen der Arbeit in Ehe- und Familienberatungsstellen zu überprüfen.«
Dr. Rudolf Sanders, Beratung Aktuell, Juni 2012

»Das Spektrum des Buches ist über die Beiträge hinweg breit gefächert, von der Emotionsregulierung in Partnerschaften, Sexualität über die Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe von Bindungs(un)sicherheit bis zu den Wirkungen von Gewalterfahrung und deren Therapie. Insgesamt finde ich in diesem Buch eine gelungene Mischung von Forschung und Praxis, von Wissenschaft und Praktikern.«
Lothar Unzner, socialnet.de, 20.02.2012

Das vorliegende Buch fasst verschiedene Beiträge aus den Bereichen Forschung, Klinik und Prävention zusammen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema Bindung – Paare, Sexualität und Kinder beschäftigen. Es werden sowohl Ergebnisse aus der Grundlagenforschung als auch solche aus der empirischen Forschung, die in Längsschnittstudien zur Prävention mit Paaren gewonnen wurden, dargestellt; zudem werden Erfahrungen aus der klinischen Arbeit beschrieben und anhand von Fallbeispielen veranschaulicht, um die therapeutischen Möglichkeiten und Voraussetzungen für die Arbeit mit Paaren wie auch mit Kindern, die Zeuge oder Opfer von Gewalt in Paarbeziehungen geworden sind, aufzuzeigen. Hans Jellouschek beschreibt sehr feinfühlig den Unterschied zwischen Partnerschaft und Partnerliebe und zeigt deutlich auf, welchen Einfluss die Liebe zwischen den Eltern speziell auf die langfristige Beziehungsfähigkeit von Paaren hat und wie hierdurch die Entwicklung und das Erleben der Kinder langfristig positiv beeinflusst werden. Karen Hasselmo, James A. Coan und Lane Beckes haben eine neue Theorie für die Regulierung von Emotionen in sozialen Beziehungen entwickelt, die für das Verständnis von Bindungserfahrungen zwischen Paaren von Bedeutung ist. Die Ergebnisse ihrer Grundlagenforschung zeigen sehr deutlich, dass Menschen wahrscheinlich von Grund auf soziale Nähe erwarten und diese auch zur Unterstützung in stressvollen Situationen erfolgreich nutzen, weil sie hierdurch die Möglichkeit haben, Stress, Schmerzen und Angst weniger intensiv zu erleben. Viele Paare wünschen sich eine langfristige Beziehung, aber nur wenigen gelingt dies. Julia Berkic und Julia Quehenberger berichten von ihrer Studie über bindungsspezifische Marker der Emotionsregulation, die sie bei Langzeit-Ehepaaren finden konnten. Ihre Untersuchungen helfen zu verstehen, was Paare über viele Jahre zusammenhält und wie diese sich wechselseitig emotional positiv beeinflussen. Kirsten von Sydow diskutiert Forschungsergebnisse über die verschiedenen Bindungsmuster, die sich bei Paaren finden, und den unterschiedlichen Einfluss dieser Bindungsmuster auf die Zufriedenheit und die Sexualität in Paarbeziehungen. An Fallbeispielen erläutert sie die Implikationen für die Paar- und Einzeltherapie. Kate White macht an mehreren Beispielen aus der Therapie sehr eindrücklich verständlich, wie sehr frühe Bindungserfahrungen sowie das Erleben von Sexualität und Partnerschaft miteinander verknüpft sind und wie im klinischen Bereich hiermit bindungsorientiert gearbeitet werden kann. Problematische Partnerschaften haben einen immensen Einfluss auf das elterliche Erziehungsverhalten, wie Antonia Bifulco in ihrem Beitrag zeigt. Aus dieser bindungstheoretischen Perspektive wird auch die Weitergabe von transgenerationalen Risiken und Traumatisierungen von Elternpaaren auf ihre Kinder verständlich. Bisher gab es kaum Präventionsprogramm, die gezielt die Paarebene unterstützt haben, um die Entwicklung, besonders auch die sichere Bindung von Kindern zu ihren Eltern, zu fördern. Phil und Carolyn Pape Cowan berichten aus ihrem langjährigen Interventionsprogramm mit Paaren. Sie konnten zeigen, dass die Bindungserfahrungen der Erwachsenen sehr deutlich die Qualität der Paarbeziehung bestimmen und hieraus auch Schlüsse für die Entwicklung des Kindes gezogen werden können. Ihr familiensystemisches Modell hat große Bedeu tung für die beziehungs- und bindungsorientierten Interventionen. Sie konnten durch eine präventive Verbesserung der Beziehungsqualität auf der Paarebene die Zufriedenheit der Eltern mit ihrer Partnerschaft verbessern. Dies hatte auch langfristig positive Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung der Kinder dieser Paare. Die Studie von Judith A. Crowell gibt Hinweise, wie frühe Schädigungen die Bindungsrepräsentationen der Erwachsenen und damit auch die Art und Weise der Gestaltung der späteren Partnerschaft beeinflussen können. Egon Garstick berichtet aus seiner klinischen Arbeit mit Eltern, insbesondere auch Vätern, die über die Elternschaft in Identitätskrisen geraten sind und hierbei psychotherapeutische Hilfestellungen in Anspruch nehmen. Garstick zeigt auf, wie durch frühe Interventionen auf der Paarebene schwere Störungen in der Eltern-Kind-Beziehung relativ rasch auf einen besseren, die Entwicklung fördernden Weg gebracht werden können. Der Verlust eines Kindes ist für die Paarbeziehung immer eine traumatische und höchst belastende Erfahrung, die die Paardynamik über viele Jahre beeinflussen kann. Roland Kachler hat ein neues Behandlungsmodell entwickelt, das sehr bindungsorientiert mit den Trauerprozessen der Eltern umgeht und diesen hilft, langfristig eine positive Repräsentation des verlorenen Kindes zu bewahren. Susan Golombok berichtet aus ihren Forschungen zu den vielen verschiedenen neuen Familienformen, die weit über die traditionelle Paarbeziehung hinausgehen. Auch diese Familienformen haben einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Neben den neuen Formen der Partnerschaft und des Zusammenlebens widmet sich Golombok besonders der Bedeutung von Adoptio nen. Spiralen der Gewalt in Paarbeziehungen, die über Jahre eskalieren, stellen in psychotherapeutischen Behandlungen eine große Problematik dar. Nicht selten kommt es zu destruktiv-aggressiven Verhaltensweisen zwischen den Partnern, wie häusliche Gewalt, die beide sowohl als Täter wie auch als Opfer erscheinen lassen. Jochen Peichl stellt ein Modell vor, wie destruktive Paarbeziehungen besser verstanden werden können, und zeigt, wie auf diesem Hintergrund therapeutische Prozesse besser gelingen können. Es ist immer wieder auffällig, welch starke Bindung zwischen Opfer und Täter besteht, so auch bei destruktiven Paarbeziehungen. Michaela Huber analysiert, wie diese pathologischen Bindungen entstehen, wie sie aufrechterhalten werden und welche Möglichkeiten es gibt, aus diesen destruktiven Bindungen auszusteigen und sie auch zu verarbeiten. Abschließend berichtet Karl Heinz Brisch an verschiedenen Beispielen, wie Gewalt in der Paarbeziehung Kinder traumatisiert, wenn sie Zeuge dieser Art des Streits zwischen den Eltern werden. Wenn Kinder eine solche Gewalt miterleben, hat dies großen Einfluss auf die Art ihrer psychotherapeutischen Behandlung. An verschiedenen Konstellationen wird verdeutlicht, wie die Voraussetzungen für eine Psychotherapie gestalten werden müssen und wie trotz der Verstrickungen zwischen den Paaren und ihren Kinder eine erfolgreiche Therapie – auf Basis dieser Voraussetzungen – möglich ist. Alle Beiträge vermitteln zusammen einen umfassenden Überblick darüber, welchen positiven Einfluss liebevolle elterliche Paarbeziehungen auf die Entwicklung von Kindern haben können und wie destruktive Gewalt in der Paarbeziehung sich langfristig auch auf die Entwicklung von Kindern negativ auswirken und frühe Störungen bedingen kann. Auf dem Boden der Grundlagenforschung wird verständlich, wie gesunde, aber auch destruktive Paarbeziehungen entstehen, wie sie sich langfristig entwickeln, welche Möglichkeiten zur Therapie für die Paare, aber auch für die Kinder bestehen und unter welchen Bedingungen erfolgreiche Behandlungen möglich sind. Auf dem Hintergrund dieser Erkenntnisse werden modellhaft neue Wege der psychotherapeutischen Behandlung, sowohl für Paare als auch für ihre Kinder, aber auch Möglichkeiten der frühen Intervention und Prävention aufgezeigt. HANS JELLOUSCHEK Die Bedeutung der Partner-Liebe für das Eltern-SeinWas ist und worin besteht Partner-Liebe? Partner-Liebe ist eine Beziehungsform, die sich von allen anderen Beziehungsformen unterscheidet: Sie unterscheidet sich von der Partner-schaft, denn diese gehorcht der Handlungslogik der Gerechtigkeit: Ich gebe dir – und bekomme dadurch einen Anspruch darauf, dass du mir ›wiedergibst‹, Gleichwertiges zurückgibst. Demgegenüber gehorcht die Partner-Liebe der Handlungslogik der Hingabe: Ich gebe dir, weil ich dich liebe! Der Liebende erwirbt durch seine Liebe keinen Anspruch darauf, dass der andere ihn ›wiederliebt‹. Liebe kann keine Schuldscheine ausstellen, Liebe ist ein Geschenk. Man kann darum die Liebe des anderen nicht »einklagen«. Freilich bleibt der Liebende – jedenfalls auf die Dauer – darauf angewiesen, dass der andere seine Liebe erwidert, sonst wird es eine unglückliche, unerfüllte Liebe, weil Partner-Liebe einseitig nicht wirklich möglich ist. Oder es wird eine Art Eltern-Liebe daraus, wie die Liebe der Mutter oder des Vaters zum Kind. Denn die Elternliebe ist vom Wesen her insofern eine einseitige Liebe, als das Kind von seiner Entwicklung her noch gar keine gleichwertige Liebe ›wieder-geben‹ kann. Die Liebe der Eltern zum Kind ist keine Liebe auf der gleichen Ebene wie die Liebe zwischen zwei erwachsenen Partnern. Diese lebt von der Hingabe der Frau an den Mann und des Mannes an die Frau, und sie lebt von der Verbundenheit und Intimität zwischen den beiden, die daraus erwächst: Sie sind gern zusammen, sie tauschen sich aus, sie können sich »riechen« – im übertragenen und durchaus auch im wörtlichen Sinn! Diese Liebe hat also auch eine typische körperliche Komponente: Die beiden sind sich gern auch körperlich nahe, haben darum auch Sexualität miteinander. In der Partner-Liebe sind Mann und Frau seelisch und körperlich miteinander verbunden. Das ist die typische Form der Intimität, welche die Partner-Liebe von jeder anderen Beziehungsform, sowohl von einer lediglich partnerschaftlichen wie der fürsorglichen der Eltern-Kind-Liebe als auch von einer nur freundschaftlichen Beziehung, unterscheidet. Natürlich sind in der PartnerLiebe von all diesen Formen auch Elemente enthalten, vor allem in einer auch auf Dauer angelegten Mann-Frau-Beziehung. Wenn z. B. ein Partner dauerhaft erkrankt und der andere sein Pfleger wird, wird – wie in jeder »Pflege-Beziehung« – auch die Partnerbeziehung zu einer Art Eltern-Kind-Beziehung. Und im gewöhnlichen Alltag, den es miteinander zu bewältigen gibt, spielt das Vorhandensein väterlicher/mütterlicher Elemente der Partner wie natürlich auch eine partnerschaftlich gerechte Aufgabenverteilung zwischen den beiden eine ganz wichtige Rolle. Aber der entscheidende Unterschied, der die Liebesbeziehung ausmacht, sollte dennoch nicht vergessen, sondern immer wieder auch zwischen Paaren gepflegt werden, damit sie lebendig bleibt. Dies geschieht in der Regel viel zu wenig. Ein wichtiger Grund dafür ist: Der Partner-Liebe wurde in früheren Generationen innerhalb einer Ehe wenig Bedeutung beigemessen. Wichtiger war die Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau damals für Nachwuchs und als Wirtschaftsgemeinschaft für das gemeinsame Überleben. Heute erleben wir eher das Gegenteil: Da wird der lebendigen Liebe höchste Bedeutung beigemessen, andere Faktoren spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Wenn die Liebe tot ist, ist eine Ehe akut gefährdet. Darum müssen wir sagen: Die Wahrscheinlichkeit, dass Ehen und damit auch Familien stabil bleiben, erhöht sich, wenn auch die Partner-Liebe stabil bleibt. Das kommt nicht nur den Erwachsenen zugute, sondern vor allem auch den gemeinsamen Kindern. Darauf gehe ich nun im zweiten und dritten Abschnitt dieses Beitrags ein. Welche Bedeutung hat die Partner-Liebe für Elternschaft und Kinder? Zur Bedeutung der Partner-Liebe für Elternschaft und Kinder möchte ich die folgenden sechs Thesen aufstellen und jeweils erläutern: These 1: Die Partner-Liebe fördert den Bestand der Ehe und gibt dadurch auch den Kindern Bindungssicherheit. In der heutigen gesellschaftlichen Situation, in der Paare sich zusammentun, wird immer deutlicher, dass die Partner-Liebe tatsächlich immer ausschließlicher das Einzige ist, das dem Zusammenbleiben von Partnern Bestand verleiht. In früheren Generationen haben viele andere mächtige Faktoren dafür gesorgt, dass Paare, die einander das Ja-Wort gegeben hatten, die einen gemeinsamen Haushalt aufbauten und gemeinsame Kinder aufzogen, beisammen geblieben sind: Im ländlichen Betrieb war dies eine Frage des wirtschaftlichen Überlebens, in adligen Familien war es wichtig für den Bestand des Geschlechts. Die kirchliche Ehe-Ideologie, vor allem die katholische, sprach ein Bannwort über die Scheidungs-Willigen, und dementsprechend war der Druck durch eigene Eltern, Verwandte und Gemeinden auf Paare, die sich trennen wollten, riesengroß, auch dann noch, als staatliche Gesetze die Möglichkeit zu rechtskräftigen Scheidungen eröffneten. Diese Einflüsse wirtschaftlicher, ideologischer und gesellschaftlicher Art gibt es natürlich auch heute noch in unterschiedlicher Stärke. Aber entscheidend sind sie immer weniger. Das Einzige, das auch heute noch eine Ehe – und damit auch eine Familie – zusammenhält, ist die lebendig erfahrene Liebe zwischen den beiden Partnern. Eine solche Stabilität aus Liebe ist aber eine sehr günstige Voraussetzung für die Erfahrung einer sicheren Bindung der Kinder an Mutter und Vater – vor allem, wenn die Kinder noch klein sind. Die Bedeutung dieser Erfahrung hat ja die Säuglingsforschung schon lange als zentral für ein gutes Aufwachsen der Kinder erkannt, und diese Erkenntnis wird heute auch von der Neurobiologie in vielfältiger Weise bestätigt. Die Trennung der Eltern bedeutet für die Kinder, jedenfalls zunächst, immer einen Bindungsverlust. Ein Elternteil ist plötzlich nicht mehr da. Auch dann, wenn es den Eltern gelingt, gut und fair mit dieser Trennung umzugehen, was ja sehr häufig nicht der Fall ist, werden Kinder in ihrer Bindungssicherheit irritiert, verunsichert, durcheinandergebracht. Und vor allem, wenn die getrennten Eltern einander weiterhin grollen, geraten die Kinder in Solidaritätskonflikte, verlieren die Bindung zu einem Elternteil, weil sie vom andern zum Bündnispartner gemacht und gegen den anderen aufgehetzt werden usw. Dabei möchte ich betonen, dass es einen großen Unterschied macht, ob Eltern, die zusammenbleiben, dies aus Pflichtgefühl, wegen der Kinder oder aufgrund der Liebe des einen zum anderen tun. Ich höre in der Therapie von Klien ten immer wieder, dass ein Zusammenbleiben ihrer Eltern »aus Pflichtgefühl« für sie als Kinder eine riesige Belastung war; denn sie spürten es ganz deutlich, auch wenn sie noch sehr klein waren, wenn nicht Liebe und Wohlwollen zueinander, sondern sie selbst der – womöglich einzige – Grund für das Zusammenbleiben waren. Das ist für Kinder nur belastend, eine Last, unter der sie manchmal ein ganzes Leben lang leiden. These 2: Die Partner-Liebe stärkt die Eltern in ihrer Eltern-Funktion. Wenn sie in Liebe verbunden sind, werden sie sich auch gegenseitig unterstützen. Dies fördert auch eine partnerschaftlich gerechte Aufgabenverteilung sowie ganz generell ihre Kooperationsbereitschaft, und dies besonders auch bei der Bewältigung von Stress-Situationen. Die Partner werden bereit, auch im emotionalen und zeitlichen Stress, den Kinder ja immer auch mit verursachen, einander wechselseitig zu entlasten, und so tragen sie zur gemeinsamen Stressreduktion bei. Dies schafft zudem Erfolgserlebnisse, und diese wiederum beleben die Achtung und Liebe der Partner füreinander (»Wir sind ein tüchtiges, ein starkes Paar!«). Damit ist auch gesagt: Die lebendige Liebe der Partner fördert die Präsenz des Mannes in der Familie. Er ist dann gern zu Hause, und das erhöht seine Ansprechbarkeit für die Kinder. Die Bedeutung, die diesem »Dritten« in der familiären Triade für das Kind zukommt, ist uns in den letzten Jahren ebenfalls sehr stark bewusst geworden: Der Vater bringt in der Regel gegenüber der Mutter andere wichtige Elemente in die Erziehung ein: das größere Interesse am Technischen, die stärkere Betonung des Wettkampfs und Wettbewerbs im Spiel und Ähnliches sind neben anderen Elementen, die im Durchschnitt stärker von den Müttern vertreten werden, ebenfalls wichtige »Steine« im »Mosaik« der ganzheitlichen kindlichen Reifung. Vor allem für die männlichen Kinder ist es von großer Bedeutung, dass sie im Vater eine präsente Identifikationsfigur ihres eigenen Geschlechts finden, die ihnen Orientierung gibt und den Rücken stärkt in ihrer oft vom Weiblichen überdominierten »Kinder-Welt«. Das Fehlen dieser Orientierung und »Rückenstärkung« durch präsente Väter wird von vielen Pädagogen auch als eine wichtige Ursache für das gegenüber den Mädchen viel häufigere schulische Versagen der Jungen gewertet, für die größere Zahl der Verhaltensauffälligkeiten und Kriminalitätsfälle bei ihnen wie auch die stärkere Gefährdung der männlichen Jugendlichen durch Drogen. Aber auch für die Identitätsfindung der Mädchen scheint die Präsenz des Vaters in der Familie von großer Bedeutung zu sein: In ihm erleben sie ja die erste wichtige Beziehung zu einem Mann und damit ihrerseits ihr Anders-Sein ihm gegenüber. Der Vater und Mann bleibt für sie nicht die ferne Sehnsuchtsfigur am Horizont, sondern wird erlebte Realität, was sich vor allem später in einer realistischen Beziehung zum Partner als sehr nützlich erweist. These 3: Die Partner-Liebe kompensiert Unterschiedlichkeiten und Meinungsdifferenzen der Eltern im Hinblick auf die Kinder. Eltern müssen im Umgang mit ihren Kindern nicht immer gleich und einer Meinung sein. Dies kann sich sogar als schädlich erweisen, vor allem dann, wenn sie sich auf der Paar-Ebene nicht lebendig lieben. Kinder erleben das als Doppelbödigkeit, und das verwirrt sie eher. Wenn eine grundlegende gegenseitige Akzeptanz der Eltern auf der PaarEbene vorhanden ist, können Unterschiede im Umgang mit den Kindern, sogar wenn diese in Anwesenheit der Kinder ausdiskutiert werden, sogar gut für die eigene Autonomie-Entwicklung der Kinder sein. Sie erfahren: Beim einen geht es so, beim andern eben anders. Man kann es so, man kann es aber auch anders machen. Also kann man auch für sich selber ausprobieren und entscheiden, was für einen besser ist! Damit will ich natürlich nicht verneinen, dass eine Übereinstimmung der Eltern in Grundsatzfragen der Erziehung wichtig ist. Aber Übereinstimmung muss nicht in allen Einzelfragen bestehen. Eine immer wieder erfahrene einheitliche »Eltern-Phalanx« in allem und jedem kann für Kinder sogar eine schlimme Erfahrung von Ohnmacht bedeuten. These 4: Eine lebendige Partner-Liebe der Eltern ist ein gutes Lernmodell für die Kinder im Hinblick auf spätere eigene Partnerbeziehungen. Wie Vater und Mutter miteinander umgehen, ist für Kinder das grundlegende Modell, wie ein Mann mit einer Frau und eine Frau mit einem Mann umgeht. Wenn dies in einer liebevollen Weise geschieht, machen sie die zentrale Erfahrung: »Liebe ist möglich« – auch über längere Zeit, auch »auf Dauer«. Dies wird auf diese Weise eine Art Grundüberzeugung, trotz aller Konflikte, die Kinder bei ihren Eltern vielleicht auch erlebt haben. Aber: Sie haben wieder den Weg zueinander gefunden! Meine Erfahrung als Paartherapeut ist hier: Kinder aus Familien, in denen die Liebe zwischen den Eltern tot war, sind, vor allem wenn noch eine Scheidung mit »Rosenkriegen« dazukam, in ihrem eigenen Erwachsenenleben oft überängstlich, eigene verbindliche Beziehungen einzugehen, oder aber sie versuchen, sich bei jedem Konflikt mit dem Partner ängstlich an diesen anzuklammern und erzeugen gerade damit ein Konfliktmuster, das den Bestand der Ehe gefährden kann. These 5: Die Partner-Liebe schützt die Kinder vor einer Überfürsorglichkeit der Eltern. Der Grund für diese These ist: Die Partner-Liebe fördert das Bedürfnis der Partner, öfter auch als Paar beieinander und miteinander zu sein, und stärkt darum ihren Willen, auch ab und zu etwas allein, ohne die Kinder, zu unternehmen oder auch einen Bereich in der gemeinsamen Wohnung zu schaffen, der für die Kinder, jedenfalls zu bestimmten Zeiten, »tabu« ist. Wenn dies nicht der Fall ist, konzentrieren sich Hauptinteresse und Energie der Eltern auf die Kinder – in Form von Überfürsorglichkeit. Dadurch aber werden diese zu wichtig. Oft werden sie dadurch zu echten »Familien-Tyrannen«, die die Eltern auch nach Strich und Faden manipulieren, oder sie werden nie erwachsen, bleiben ihr ganzes Leben Kinder, die dauernd Ansprüche an den anderen haben, und sind damit eine furchtbare Belastung für ihre Beziehungspartner. Oft begegne ich dieser Überfürsorglichkeit auch in einseitiger Form: Beispielsweise ›über-versorgt‹ die Mutter die Kinder, während der Vater immer mehr zum »Ausgeschlossenen« wird und sich auch selber immer mehr dazu macht, indem er zu Hause immer weniger präsent ist. Dadurch entsteht eine übermäßige Bindung der Kinder an die Mutter. Wenn diese sich zu einem anderen Zeitpunkt wieder mehr ihrem Mann zuwenden will, wittert eines der Kinder »diese Gefahr« und entwickelt womöglich irgendwelche Symptome, deretwegen die Mutter jetzt erst recht wieder »für das Kind da sein muss«. Dabei beklagt sie sich zudem dann oft darüber, dass sie so wenig Unterstützung von ihrem Mann bekommt. So entstehen beispielsweise die typischen »Muttersöhne« unter den Männern. Was ich sage, ist in dieser Form vielleicht etwas überpointiert. Es gibt natürlich Familiensituationen, in denen die Kinder (oder das Kind) mit Recht im Mittelpunkt stehen, z. B. in der späten Schwangerschaft und kurz nach der Geburt, wenn die Frau noch stillt. Dann stehen das Kind und dessen Bindung an die Mutter mit Recht im Vordergrund. Oder auch in Zeiten, in denen ein Kind schwerer erkrankt ist oder andere akute Probleme hat. Dann muss für einige Zeit die Elternebene gegenüber der Paar-Ebene Vorrang haben. Auch wenn einer der Partner eine übermäßige Stress-Situation im Beruf erlebt, kann es mit der Pflege der Paarbeziehung sehr schwierig werden. Paare müssen allerdings darauf achten, dass sich solche Zustände nicht »chronifizieren«, wie das in zahlreichen Familien zu beobachten ist. These 6: Die Partner-Liebe fördert eine gelingende Ablösung der Kinder von den Eltern. Mit dem Vorausgehenden ist dies implizit schon gesagt. Denn Eltern, die auch ein Liebespaar sind und bleiben, geben die Kinder frei für ihr eigenes beginnendes Erwachsenenleben. Das heißt natürlich nicht, dass pubertierende Jugendliche, junge oder auch schon lange »flügge gewordene« Erwachsene nicht noch öfter oder manchmal dringend ihre Eltern als Eltern »brauchten«. Aber das Entscheidende ist: Sie fühlen sich nicht als Kinder von den Eltern festgehalten oder ihnen gegenüber »verpflichtet«. Wenn das Gegenteil geschieht, wenn beide Eltern oder auch ein Elternteil sich zu viel um die Kinder kümmert, wird – wie Systemische Therapeuten sagen – die »Generationen-Grenze« zwischen Eltern und Kindern verwischt oder verletzt. Kinder, die nicht mit dem Wohlwollen der Eltern in ein eigenes Erwachsenen-Dasein entlassen werden, kommen im Familiensystem in eine »falsche Position«. Sie werden Eltern-Kinder, pendeln als überforderte Helfer oder auch »Manipulierer« zwischen den Eltern hin und her; oder sie werden durch Bindung an einen Elternteil Muttersöhne oder Vatertöchter, die ein Leben lang an Mutter oder Vater gebunden bleiben, was zur Störung oder sogar zum Scheitern eigener Paarbeziehungen führt, weil solche Erwachsenen nicht frei sind für eigene Beziehungen. Darum ist eine lebendige und immer wieder verlebendigte Liebe zwischen den Eltern als Paar auch für die Elternschaft von großer Bedeutung. Was dazu erforderlich ist, vor allem in Beziehungen, die auf Dauer angelegt, also darauf angelegt sind, diese Liebe immer wieder zu beleben, darauf kommen wir im folgenden, dritten Teil zu sprechen. Was braucht die Partner-Liebe, damit sie erhalten bleibt und sich sogar vertieft? Klar ist, dass im Leben eines Paares die Familienphase, die ja meist nicht nur mit der Kindererziehung, sondern auch mit Existenzaufbau, Bewährung im Beruf, Investitionen in Wohnungskauf oder Hausbau und dergleichen verbunden ist, eine Zeit mit sehr großem Stress darstellt. Und klar ist auch, dass man Liebe nicht »machen« kann. Wenn nie Liebe da war, kann ich auch keine »machen«. Aber man kann Bedingungen schaffen und erhalten, die für das Bestehenbleiben und die Verlebendigung der Liebe wichtig sind. Was bedeutet dies nun konkret? Es bedeutet z. B.: verbindlich geplante Zeiten und Orte für die Zweisamkeit, für das persönliche Gespräch, für die Pflege gemeinsamer Interessen, für Unternehmungen zu zweit. Diese Gelegenheiten ergeben sich nicht »von selbst«, sie müssen bewusst geschaffen, geplant, vereinbart, durchgeführt werden. So simpel dies klingt, es scheint mir eine der wesentlichen Bedingungen dafür zu sein, dass die Liebe im Stress oder auch in der Gewöhnung des Alltags nicht untergeht. Und es sind Energie und Initiative von beiden Partnern erforderlich, damit solche Zeiten zustande kommen. Sie ergeben sich, wie gesagt, nicht oder nur selten »von selbst«. Dies gilt – für manche sehr überraschend – auch für die Pflege gemeinsamer Sexualität. Je länger man mit dem Partner zusammen ist, desto weniger treibt es einen »von selber« zum anderen, um »Sex zu machen«. Das ist eine natürliche Entwicklung, und darum ist darauf zu achten, dass man weiterhin diesen Bereich der auch körperlichen Intimität bewusst pflegt und gestaltet. Und dazu gehören auch geschützte Zeiten und Orte, an denen und in denen die Wahrscheinlichkeit einer Störung von außen weitgehend reduziert ist. Der Schwung der Verliebtheit hat früher wie von selber dafür gesorgt, dass Verliebte solche Räume und Zeiten geschaffen haben. In der Dauerbeziehung sind der bewusste Entschluss dazu und die bewusste Sorge beider dafür nötig. Viele Paare unterliegen hier einer »Spontaneitäts-Ideologie« – sehr zum Schaden einer realistischen Liebesbeziehung! Damit für das Paar solche Räume für Gespräch, Unternehmungen, Pflege gemeinsamer Interessen und Sexualität immer wieder verwirklicht werden, müssen Paare unter Umständen für Hilfen von außen sorgen, vor allem, wenn sie noch kleinere Kinder und/oder anspruchsvolle Berufe haben. Natürlich sind die Möglichkeiten dazu in unserer deutschen Gesellschaft sehr vernachlässigt worden, und wir stehen hier, verglichen mit anderen Staaten, noch ganz am Anfang. Aber ich erlebe oft auch, dass sich Paare solche Unterstützung nicht verschaffen, obwohl es Möglichkeiten gäbe – aus den unterschiedlichsten Motiven heraus: Sie wollen den Kindern keine »Fremden« als Babysitter zumuten, sie wollen das Geld nicht dafür ausgeben, obwohl es hier vielleicht besser angelegt wäre als in einem Hausbau zu diesem Zeitpunkt, sie wollen ihre Eltern, auch wenn diese es gern täten, dafür nicht in Anspruch nehmen, sie wollen »keine Fremden« für die Erledigung des Haushalts in ihre Privatsphäre lassen oder sie können sich aus einem übertriebenen Pflichtgefühl heraus so etwas nicht erlauben. Meist ist ihnen nicht bewusst, dass sie dadurch aber die Liebe, das für den Erhalt ihrer Familie Wichtigste, gefährden. Eine weitere wichtige Bedingung für den Erhalt und die Pflege der Liebe ist schließlich auch die Wechselseitigkeit des Engagements beider Partner. Liebe ist zwar auch geduldig, sie verlangt kein Engagement beider zu exakt gleichen Teilen, wie das in einer »bloß« partnerschaftlichen Beziehung, die ja solche Gerechtigkeit verlangt, der Fall wäre. Liebe kann hier auch Zugeständnisse machen, großzügig sein. Aber eine Einseitigkeit des Engagements kann kein Dauerzustand sein. Auch die Liebe braucht Wechselseitigkeit. Gaben brauchen Gegengaben, sonst versiegt der Wille zum Geben und Schenken. Oft verlangt das vor allem ein Umdenken bei den Männern, die auch heute noch – wie ihre Väter und Großväter es getan haben – eher »lieben lassen«, als hier selber ihren Beitrag zu leisten. Dabei muss eines, das Gesagte ein wenig relativierend, hinzugefügt werden: Ohne Zweifel können Eltern auch gute Eltern sein und bleiben, wenn ihre Liebe zueinander als Paar gestorben und nicht mehr zum Leben zu erwecken ist – auch dann, oder sogar dann eher, wenn sie sich auch äußerlich getrennt haben. Dazu müssen sie sich aber klar bewusstmachen: Mit der Trennung endet die Beziehung auf der Paar-Ebene, aber nicht die auf der Eltern-Ebene. Häufig erleben wir allerdings, dass das viele überfordert. Der getrennt lebende Elternteil – häufig sind das die Väter – wird aus der Familie ausgeschlossen oder schließt sich selber aus, ja man verfolgt einander mit Hass- und Rachegefühlen, und man zieht die Kinder in einseitige Bundesgenossenschaften gegen den anderen hinein. Sicher haben Väter und Mütter in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten hier viel dazugelernt, wie man auch als getrennte Eltern die gemeinsame Elternfunktion einigermaßen kooperativ weiter ausüben kann. Aber das ist nicht einfach und verlangt den Erwachsenen viel ab. Sehr viel einfacher und für alle befriedigender ist es, wenn die Elternschaft auch von einer lebendigen Liebe der Partner zueinander getragen wird. Darum lohnt es sich in jeder Hinsicht, in die Erhaltung und Vertiefung der wechselseitigen Liebe zu investieren, auch wenn dies immer wieder bewusstes Engagement, hohe Achtsamkeit im Alltag und Toleranz verlangt. Literatur Jellouschek, H. (2011): Achtsamkeit in der Partnerschaft. Was dem Zusammenleben Tiefe gibt. Freiburg i. Br. (Kreuz-Verlag). Jellouschek, Hans (2010): Liebe auf Dauer. Was Partnerschaft lebendig hält. Freiburg i. Br. (Herder). Jellouschek, Hans (2008): Wenn Paare älter werden. Die Liebe neu entdecken. Freiburg i. Br. (Herder) (Taschenbuchausg. 2011).KAREN HASSELMO, JAMES A. COAN UND LANE BECKES Die »Social Baseline«-Theorie und die soziale Regulierung von Emotionen Jeder Organismus hat den evolutionären Auftrag, zu überleben und sich fortzupflanzen. Um dieses wichtigste aller Ziele zu erfüllen, sind Ressourcen und die entsprechende Energie erforderlich, durch welche diese Ressourcen gewonnen werden können. Die natürliche Selektion wird folglich Anpassungen begünstigen, die es den Organismen ermöglichen, weniger Energie zu verbrauchen als aufzunehmen und sich so viel Energie wie möglich zu bewahren. Dieser Zwang, bekannt als die Ökonomie des Handelns, ist ein biologisches Prinzip, dem die Organismen gehorchen müssen, um zu überleben und sich zu reproduzieren (Proffitt 2006). Es führt zu Anpassungen, die den wirtschaftlichen Umgang mit den aktuell vorhandenen Ressourcen regeln, damit künftige evolutionsrelevante Aufgaben wie Nahrungssuche und Paarung ausgeführt werden können. Ganz ähnlich wie nahrungssuchende Tiere, die ihren Energieverbrauch möglichst gering halten und nach Prioritäten ordnen – in einem Prozess, der als Theorie der optimalen Nahrungssuche beschrieben wird (MacArthur & Pianka 1966) –, müssen auch die Menschen mit ihren Energien haushalten und ihre Effizienz maximieren. Menschen besitzen allerdings hochkomplexe Gehirne, die ihre Verhaltensflexibilität ganz erheblich steigern – einschließlich der sehr ausgeprägten Fähigkeiten zur Hemmung und zur Selbstkontrolle. Dabei handelt es sich um Fähigkeiten, die im Rahmen exekutiver Prozesse wie der Zukunftsplanung, der Reaktionshemmung und der selektiven Aufmerksamkeit ins Spiel kommen, die ihrerseits von großer Bedeutung für die Selbstregulierung sind. Von diesen Fähigkeiten könnte speziell die Selbstregulierung, vor allem soweit es die Regulierung emotionaler Impulse betrifft, »im Visier« der potentiellen Energieerhaltung stehen – dies deshalb, weil die Menschen die zusätzliche Fähigkeit entwickelt haben, sich zum Zweck des schonenden Umgangs mit ihren Energien aufeinander zu verlassen, indem sie zusammenarbeiten, gemeinsame Ziele verfolgen und ihre Aufmerksamkeit teilen. Nach der »Social Baseline«-Theorie (Coan 2010) ist dieses Anliegen in der Stammesgeschichte des Menschen begründet und hat dazu geführt, dass das primäre Umfeld, an das der Mensch adaptiert ist, andere Menschen sind – dass also die »baseline expectation«, die Grundannahme des menschlichen Gehirns, dem Kontakt und der sozialen Nähe gilt. Tatsächlich ist die Fähigkeit, das aufwendige Geschäft der Selbstregulierung auf ein soziales Netzwerk nahestehender anderer auszulagern, eine adaptive Errungenschaft, die erkennen lässt, wie das menschliche Gehirn mit seinen Ressourcen wirtschaftet. Selbstregulierung und der präfrontale Cortex Die emotionale Selbstregulierung umfasst die Verstärkung oder Abschwächung von Reaktionen auf emotionale Reize, den Belohnungsaufschub, das Sich-hinweg-Setzen über Impulse, die Gedankenunterdrückung und andere Formen bemühter und damit aufwendiger Kontrolle (Gross & Thompson 2007). Selbstregulierung befähigt die Menschen unter anderem dazu, sich Täuschungen hinzugeben und geduldig auf Belohnungen zu warten (Gross & Thompson 2007). Sie hat insofern Konsequenzen für die menschliche Entwicklung, als Kinder, die eine vergleichsweise bessere Selbstregulierung zeigen, weniger in Gefahr sind, aggressive Tendenzen, Verhaltensstörungen und trotzig-oppositionelle Symptome zu entwickeln (z. B. Crowe & Bair 2008; Beauchaine et al. 2007; Hill et al. 2006; Rydell et al. 2003). Erwachsene, die sich auf die Selbstregulierung verstehen, erleben es, dass ihr allgemeiner Gesundheitszustand sich bessert und ihre Lebenszufriedenheit steigt (Haga et al. 2009; Smyth & Arigo 2009). Und sowohl Erwachsene als auch Kinder, die erfolgreich Taktiken der Selbstregulierung einsetzen, profitieren insofern von dieser kognitiven Kontrolle, als ihr Risiko, eine affektive Störung zu entwickeln, geringer wird (Buckner et al. 2009; Dennis et al. 2007). Es sind vor allem Roy F. Baumeister und sein Team, deren Interesse der Selbstregulierung und speziell dem Umstand gilt, dass die kognitive Konzentration auf eine solche Aufgabe sich darauf auswirken kann, wie nachfolgende derartige Aufgaben bewältigt werden (Gailliott & Baumeister 2007; Baumeister et al. 2008): Ihrer Ansicht nach zapft die Selbstregulierung nämlich eine begrenzte Ressource an, und langfristige derartige Anforderungen führen zu einem Phänomen, das sie als »Ich-Erschöpfung« bzw. »Ich-Entleerung« (»ego depletion«) bezeichnen. Ich-Erschöpfung erschwert die Selbstregulierung, und die betroffenen Menschen sind in diesem Zustand häufig nicht imstande, kognitiv anspruchsvolle Aufgaben auszuführen. Baumeister und Kollegen meinen, dass die Glukosekonzentration im Blut den Zusammenhang zwischen Ich-Erschöpfung und kognitiver Kontrolle erklären könnte. Sie tragen ferner die These vor, dass die Fähigkeit zur Selbstregulierung nur für kurze Zeitspannen als legitime Kontrollstrategie dienen könne, da sie das Gehirn – und zumal den präfrontalen Cortex – seiner Ressourcen beraube und damit das weitere Funktionieren der Selbstregulierung beeinträchtige (Gailliott & Baumeister 2007). Zahlreiche Studien stützen die Hypothese der Ich-Erschöpfung. So verbessert z. B. der Konsum eines glukosehaltigen Getränks vor der Ausführung einer kognitiven Aufgabe die entsprechende Leistung (Heatherton & Wagner 2011), und nach der Bewältigung einer solchen schwierigen Aufgabe steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der betreffende Mensch ein alkoholisches Getränk zu sich nimmt, bevor er ein Auto bedient (Muraven et al. 2002). Die Hypothese von der Glukosekonzentration im Blut ist dagegen schwieriger zu bestätigen. So weist Kurzban (2010) z. B. darauf hin, dass die Blutzuckerkonzentration im Gehirn von einer Region zur anderen und auch von einer Reizsituation zur anderen nicht hinreichend variiert, um einen exzessiven Anstieg des Energieverbrauchs als Folge der Aktivität des präfrontalen Cortex zu erklären. Im Gegenteil: Die verschiedenen Hirnregionen verbrauchen Ressourcen etwa im gleichen Verhältnis, und der Großteil der Stoffwechselkosten des Gehirns geht auf das Konto der endogenen Aktivität (d. h. der Aktivität des Gehirns im Ruhezustand) und wird nicht von einem Anstieg der funktionalen Hirntätigkeit infolge der Einführung eines akuten Reizes verantwortet. Neuere Hinweise sprechen zudem dafür, dass die primären und übrigens gut belegten Wirkungen der Ich-Erschöpfung nachlassen, wenn man den Betroffenen ganz einfach sagt, ihre Fähigkeit zur Selbstregulierung sei unbegrenzt (Job et al. 2010). Auch wenn etwas so Simples wie die Blutzuckerkonzentration wohl kaum allein für das Phänomen der Ich-Erschöpfung verantwortlich sein kann, machen Baumeister und Kollegen doch auf eine bedeutsame Tatsache aufmerksam: Kognitive Anstrengungen – zumal solche, die der Selbstregulierung dienen – führen häufig zur Erschöpfung. Und in der Tat besteht kaum ein Zweifel daran, dass zwischen der kognitiven Kontrolle, der Tätigkeit des präfrontalen Cortex und dem Management neuronaler Ressourcen gewichtige Zusammenhänge bestehen. Diese Zusammenhänge könnten sehr wohl etwas mit der Glukosekonzentration im Blutkreislauf zu tun haben. Das Gehirn ist ein einigermaßen unbewegliches metabolisches System, und das bedeutet, dass es auch bei Anspannung nicht dazu neigt, seine Blutversorgung zu erhöhen – tatsächlich kann es das gar nicht (Raichle & Mintum 2006). Wenn das Gehirn seine Aktivität in einer Region erheblich steigert, muss es sich Blut aus einer seiner anderen Regionen holen, d. h. sich intern versorgen. Erfordert eine Aufgabe lange Perioden der Selbstregulierung, dann kann dies folglich dazu führen, dass andere neuronale Systeme »unterernährt« bleiben. Das Ganze ist also eine Frage der Prioritäten, und auch wenn der präfrontale Cortex der menschlichen Spezies unendliche Vorteile eingebracht hat, ist er im Allgemeinen doch nicht so maßgeblich für unser Überleben wie andere Systeme. Die Blutzufuhr zum Gehirn in Zeiten hoher emotionaler Intensität oder physischer Aktivität bestätigt dies: In beiden Fällen ist der präfrontale Cortex deutlich weniger aktiv, und dies häufig deshalb, weil Blut von ihm weggeleitet und diesen anderen Systemen zugeführt wird (Coan et al. 2006; Dietrich & Sparling 2004). Der präfrontale Cortex ist eine jener Hirnregionen, die als Letzte, nämlich erst in der Adoleszenz, zur vollen Ausbildung und Funktion gelangen (Huttenlocher 1990). Zugleich ist er häufig das erste neuronale System, das bei anhaltender Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr (Anoxie), infolge von Mangelernährung oder aufgrund des Alterungsprozesses dahinschwindet, was wiederum darauf verweist, dass er im Vergleich zu anderen human-neuronalen Systemen ein relativ luxuriöses und zumindest insofern teures System ist. Sein Einsatz bei Problemen der Selbstregulierung, wie sie durch die Aktivierung negativer Emotionen ins Spiel kommen, kann überdies Opportunitätskosten mit sich bringen, denn der präfrontale Cortex kann seine Möglichkeiten der analytischen Verarbeitung und des Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnisses auch zur Bewältigung sehr vieler anderer Aufgaben einsetzen; dies reicht von der kreativen Problemlösung über die Sprachgenerierung bis hin zu dem Versuch, zukünftige Entwicklungen zu prognostizieren. In jeder dieser Hinsichten und noch darüber hinaus bietet der präfrontale Cortex sich also als Adresse für die Ressourcenschonung an, wo immer dies möglich ist. Der wirtschaftliche Umgang mit dem »Bayes’schen1 Gehirn« Um Energien zu bewahren und sein Ressourcenbudget zu optimieren, ist das Gehirn offensichtlich darauf angelegt, den präfrontalen Cortex auf vielfältige Weise zu handhaben. Es kann z. B. notwendig sein, den eher »routinisierten« oder rückkoppelnden Schaltkreisen, die für die Motorik und die Affektkontrolle zuständig sind, die metabolische Priorität einzuräumen oder sparsam mit der Selbstregulierung umzugehen, damit andere Funktionen des präfrontalen Cortex in Dienst genommen werden können. Das setzt voraus, dass das Gehirn fähig ist, ein ständiges Inventar seiner aktuellen Ressourcen und der aus dem Umfeld hereinkommenden Anforderungen anzulegen und bereit zu haben und diese Information in energetische Entscheidungen einzubringen, also in die Frage, wann Energie ausgegeben und wann Energie zurückgehalten werden muss. Das Gehirn agiert also als eine Art Bayes’sche Wettmaschine (bzw. Maschine zur Berechnung von Wahrscheinlichkeit), die mit Informationen über die laufende »Einspeisung« und mit der Überlegung arbeitet, wie viel Energie ein bestimmtes Verhalten in der gegebenen Situation vermutlich kosten wird. Stefanucci et al. (2005) präsentieren Nachweise dafür, dass und wie das Gehirn seine physischen Ressourcen einteilt, indem es die Wahrnehmung verändert: Ihre Probanden, von denen einige einen schweren Rucksack tragen mussten, sollten den Neigungswinkel und die Längenausdehnung eines Hügels beurteilen. Die Rucksackträger schätzten den Hügel erheblich steiler ein als die Teilnehmer, die kein zusätzliches Gewicht zu tragen hatten: Ihre Gehirne hatten die Steigung kalkuliert, nachdem sie überlegt hatten, welches Mehr an Energie es sie kosten würde, mit dem Rucksack aufzusteigen. Sie orientierten sich bei ihrer Beurteilung also an der Wahrnehmung der Aufgabe als vergleichsweise mühsam. Diejenigen Teilnehmer, die kein Fremdgewicht zu tragen hatten, schätzten die Steigung dagegen als sanfter ein und kamen folglich nicht auf ein solches zusätzliches Ungleichgewicht in ihrer Energieerhaltung. Die Funktionsweise eines derart mit Budgetfragen befassten Gehirns zeigt sich ferner in der unterschiedlichen regionalen Aktivierung in Reaktion auf distale (= rumpfabgewandte) und proximale (= rumpfzugewandte) Bedrohungen (Mobbs et al. 2007). Die Region, die – im Rahmen eines Experiments – angesichts eines potentiell schmerzhaften, aber relativ weit entfernten (= distalen) Reizes die stärkste Aktivierung erfuhr, war der präfrontale Cortex. Das könnte insofern, als ja noch Zeit war, dem Reiz auszuweichen, eine hochwirksame Strategie des Gehirns sein, denn der präfrontale Cortex kann kreative potentielle Lösungen planen und gestalten. War die Bedrohung bei diesem Experiment aber eher nahe (= proximal), dann »bewegte« sich die Aktivierung weg vom präfrontalen Cortex und hin zum periaquäduktalen Grau, einer Region des Mittelhirns, die für Fluchtreflexe zuständig ist. Auch das ist eine wirksame Strategie, denn wenn die Bedrohung unmittelbar »da« ist, bietet sich kaum noch Gelegenheit, das Problem durch Nachdenken zu lösen. Im Gegenteil: Im Fall einer akuten Bedrohung sind die stammesgeschichtlich bewährten ursprünglichen Strategien wahrscheinlich die beste Wahl. Dass der präfrontale Cortex seine Aktivität unter den Bedingungen einer proximalen Bedrohung reduziert, ist mit Sicherheit weise, aber das Gehirn muss auch im täglichen Gebrauch Wege finden, seine Ressourcen nach Möglichkeit zu schonen und entsprechend einzuteilen. Wie oben erwähnt, ist der präfrontale Cortex hochgradig aktiv, wenn distale Bedrohungen wahrgenommen werden. Das erklärt sich mit einer der Hauptaktivitäten des präfrontalen Cortex unter einer Vielzahl von Gegebenheiten, nämlich mit der Vigilität oder Wachsamkeit. Häufig handelt es sich dabei um eine Wachsamkeit sowohl in Bezug auf Belohnungen (auf Annäherung ausgerichtete Vigilität) als auch in Bezug auf Bestrafungen (auf Rückzug oder Vermeidung ausgerichtete Vigilität; vgl. Coan & Allen 2004). Interessanterweise kann Vigilität, insbesondere die auf Vermeidung ausgerichtete Hypervigilität, wie sie bei Angststörungen auftritt, recht »teuer« sein, weil sie ja ein erhebliches Maß an kognitivem Aufwand auf Seiten des präfrontalen Cortex erfordert. Ähnlich teuer – weil ähnliche Formen von Vigilität und kognitivem Aufwand im Spiel sind – ist die emotionale Selbstregulierung, eine Manifestation der Versuche des präfrontalen Cortex, die Kontrolle über die eher reflexhafte Affektverarbeitung zu wahren. Nach Coan (2008, 2010) gehören soziale Nähe und Interaktion zu den vorrangigen Strategien, die Menschen einsetzen, um die durch den präfrontalen Cortex vermittelte Vigilität und laufende Selbstregulierung zu reduzieren, die zur kognitiven Belastung, zur subjektiven Erschöpfung oder zu unerwünschten Opportunitätskosten führen können. Die soziale Regulierung von Emotionen Ein Beleg für diese letzte Behauptung findet sich in einem unlängst durchgeführten Experiment mit verheirateten Paaren, bei dem die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) eingesetzt wurde (Coan et al. 2006). Im Rahmen dieser Studie wurden die Ehefrauen in der Röhre (MRT) leichten Stromstößen, also einer »Bedrohung«, ausgesetzt, und zwar unter drei verschiedenen Gegebenheiten: Einmal hielten sie die Hand ihres Partners, ein weiteres Mal die Hand einer ihnen gänzlich fremden Person, ein drittes Mal lagen sie allein im Scanner. Die für die Wahrnehmung der Bedrohung zuständigen Schaltkreise im Gehirn dieser Frauen waren deutlich weniger aktiv, solange sie die Hand des Partners hielten – dies galt insbesondere für Frauen in besonders glücklichen Beziehungen. Wenn die Frauen die Hand einer fremden Person hielten, nahm die Responsivität des Gehirns zu, und zwar in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht: Es wurden mehr Areale aktiviert als im ersten Durchgang, und zugleich stieg die Aktivität derjenigen Areale an, die schon beim Handkontakt mit dem Partner aktiv gewesen waren. Seinen höchsten Pegel erreichte das Antwortverhalten im gesamten Gehirn, als die Frauen allein im Scanner lagen. Bemerkenswerterweise zählte der dorsolaterale präfrontale Cortex (dlPFC) – der intensiv an der emotionalen Selbstregulierung beteiligt ist – zu den Regionen, die deutlich auf die Anwesenheit bzw. Nichtanwesenheit des Partners reagierten. Am aktivsten war diese Region in der Zeit, in der die Frauen allein in der Röhre lagen, weniger aktiv in der Zeit, in der sie die Hand einer ihnen unbekannten Person hielten, und kaum aktiv in der Zeit, in der sie die Hand ihres Partners hielten. Das spricht stark dafür, dass die regulierende Wirkung sozialer Nähe nicht durch den präfrontalen Cortex vermittelt wird, im Gegensatz zu dem, was für die aufwendige Selbstregulierung gilt. Nach unserem Eindruck besagt dieses Ergebnismuster in der Tat, dass der präfrontale Cortex bei sozial vermittelten Formen der Emotionsregulierung eine wichtige »Adresse« für die Ressourcenschonung ist. Mit anderen Worten, das Gehirn macht sich soziale Ressourcen in der Weise zunutze, dass es viele seiner anstrengenderen Aufgaben nach außen verlagert bzw. sozusagen »per Vertrag auslagert«. Das wiederum reduziert sowohl den Energieaufwand, der auf solche Aufgaben verwendet werden muss, als auch die damit verbundenen Begleitkosten, denn die Statistik spricht dafür, dass die Nähe zu sozialen Ressourcen die Notwendigkeit der Wachsamkeit und des Problemlösens reduziert. Das »Social Baseline«-Modell Das »Social Baseline«-Modell verheißt Energievorteile dank sozialer Nähe, nämlich durch Risikostreuung und Lastenverteilung. Risikostreuung bedeutet in unserem Zusammenhang, dass die enge Nachbarschaft mit anderen Artgenossen es dem Individuum ermöglicht, das Risiko seines bloßen Daseins auf diese in seiner Nähe befindlichen Wesen zu verteilen. Tiere z. B. »streuen« dieses Risiko, indem sie in Herden beisammenstehen: Sie bewahren sich auf diese Weise ihre Körperwärme (Pinshow et al. 1976), minimieren denjenigen Anteil ihrer Körperoberfläche, der den Insekten und Parasiten ausgesetzt ist, und wehren Raubtierattacken ab (Krebs & Davies 1993). Wenn Artgenossen in enger Nachbarschaft leben, dann sind mehr Augen, Ohren und Nasen darauf fixiert, Räuber aufzuspüren. Wesentlich ist dabei, dass die Gehirne von Tieren, die sich diesen Zusammenhang zunutze machen, fähig sind, die Streuung des Risikos abzuschätzen und ihr Verhalten entsprechend auszurichten. Wie Gilbert Roberts (1996) schreibt, zählt »die Reduzierung der individuellen Vigilität bei zunehmender Gruppengröße zu den am häufigsten berichteten Zusammenhängen auf dem Gebiet des Tierverhaltens« (S. 1077). In seinem Beispiel ist es geselligen Tieren dank der Nähe zu ihren Artgenossen möglich, ihre Wachsamkeit in einem gewissen Umfang zu lockern; sie sparen damit Zeit, die andernfalls für das Aufspüren von »Räubern« verwendet werden müsste, und gewinnen Zeit für die Futtersuche. Wir Menschen profitieren mit großer Wahrscheinlichkeit von der Risikostreuung, und unsere Fähigkeit, Risiken vor dem Hintergrund der Nähe zu den Mitmenschen einzuschätzen, ist fraglos von Einfluss darauf, wieweit wir persönliche Ressourcen darauf verwenden, aufmerksam auf Bedrohungen zu achten. Das dürfte die regulierende Wirkung des Händehaltens mit einer gänzlich fremden Person erklären, von der oben die Rede war. Aber anders als viele oder sogar die meisten geselligen Tiere sind die Menschen fähig, sich noch eine weitere Ebene der Risikostreuung durch soziale Kontakte zunutze zu machen – nämlich das, was wir auch in unserem Zusammenhang als load sharing, Lastenverteilung, bezeichnen. Lastenverteilung erfordert das Vorhandensein von Artgenossen; sie fußt aber nicht ausschließlich auf Zahlen, sondern setzt Interdependenz, also wechselseitige Abhängigkeit oder Bezogenheit, und vertraute Bande voraus, etwa die genetische Beziehung der Partner, ihre Liebesbeziehung oder schlicht ihre Freundschaft zueinander. Lastenverteilung geschieht, wenn ein Mensch einem anderen beisteht, und zwar so, als wäre dieser andere er selbst. Dabei kann es sich um Wachsamkeit zugunsten dieses anderen, um die »Nahrungssuche« für diesen anderen oder um Fürsorge und Beistand in Bezug auf ihn handeln – ganz ähnlich der Fürsorge einer Mutter für ihr Kind. Derartige Aufmerksamkeit ist vorteilhaft für den Empfänger, mit Sicherheit aber kostspielig für den Geber, denn mit dem Grad der Interdependenz der Partner steigen die Kosten ebenso wie der Gewinn. Alles in allem aber macht die Fähigkeit zur wirksamen Lastenverteilung die Umgebung eines Menschen sehr viel weniger bedrohlich, und damit wird es auch weniger wahrscheinlich, dass sie neuronale Ressourcen beanspruchen wird. Soziale Nähe »spart« neuronale Aktiviät sowohl durch Risikostreuung als auch durch Lastenverteilung, wobei Lastenverteilung im Augenblick ihres Funktionierens zumeist sehr viel wirksamer, zugleich aber auch potentiell teurer ist. Soziale Ressourcen sind höchst nützlich für das Gehirn, wenn sie berechenbar sind. Je mehr Zeit ein Paar miteinander verbringt, desto berechenbarer werden die Partner füreinander und desto größer wird damit auch ihre wechselseitige Abhängigkeit, was das Bayes’sche Gehirn veranlasst, im Partner eine stabile soziale Ressource zu sehen. Und mit zunehmender Berechenbarkeit der sozialen Umgebung parallel zur abnehmenden Notwendigkeit von Wachsamkeit und aufwendiger Selbstregulierung kann das Gehirn verhaltensmäßig und psychologisch flexibler werden. Die (potentiellen) Mechanismen der sozialen Regulierung von Emotionen Soziale Isolation war im gesamten Verlauf der Evolution ein seltenes und gefährliches Phänomen. Tatsächlich kam es während des größten Teils der menschlichen Geschichte selten zu Begegnungen mit Fremden, und viele Menschen lebten ihr Leben, ohne jemals auf einen Fremden zu treffen (Berreman 1978). Dass unser Modell sich auf eine »baseline«, also auf eine »Grundlinie« oder einen Ausgangszustand bezieht, hat u. a. damit zu tun, dass soziale Nähe sehr wahrscheinlich die Grundannahme des menschlichen Gehirns ist. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um eine eher simple Vorstellung zu handeln, tatsächlich bewirkt sie aber einen grundsätzlichen Wandel in unserer Sicht der Menschen und der menschlichen Gehirne – weg von der Vorstellung der einzelnen Person als der kleinsten Analyseeinheit und hin zu der Vorstellung, diese kleinste Analyseeinheit könnten in Wahrheit zwei Personen sein; und dieser Wandel wiederum könnte sich spürbar auf unsere Untersuchung und unser Verständnis der neuronalen Mechanismen mitmenschlicher Hilfe und Unterstützung auswirken: Wenn das menschliche Gehirn soziale Nähe als eine Grundbedingung versteht, dann müssen wir als Erstes neu über unser Verständnis von Emotionsregulierung als soziales Phänomen nachdenken. Die neuronalen Mechanismen der Selbstregulierung sind ja zunehmend besser dokumentiert und schließen bekanntlich ein hohes Maß an Aktivierung des präfrontalen Cortex ein. Im Gegensatz dazu sind die neuronalen Mechanismen der Regulierung sozialer Emotionen noch relativ unbekannt. Eines wissen wir in diesem Zusammenhang aber doch – nämlich dass die Regulierung sozialer Emotionen den präfrontalen Cortex mit ziemlicher Sicherheit nicht aktiviert. Das mag daran liegen, dass die Regulierung sozialer Emotionen nicht zur Blockierung einer aktiven emotionalen Reaktion führt, wie dies bei der Selbstregulierung der Fall ist (James Gross, persönliche Mitteilung, Februar 2011). Die sozial-emotionale Regulierung kann vielmehr eine Rückkehr zum oben konstatierten Ausgangszustand des Gehirns mit sich bringen, was bedeutet, dass emotionale Reaktionen nicht so sehr blockiert als vielmehr unnötig werden. Mit anderen Worten, die sozialen Ressourcen werden wohl kaum hemmende Schaltkreise beispielsweise im gesamten präfrontalen Cortex aktivieren, da sie ja eher dazu tendieren, die Wahrnehmung situativer Anforderungen zu verändern, so dass es nicht in erster Linie zur Aktivierung emotionaler Reaktionen kommt (vgl. Coan et al. 2006; Eisenberger et al. 2007). Ein isolierter Mensch findet sich in einer einmalig gefährlichen Lage, und das hat zur Folge, dass mehr neuronale Ressourcen auf Vigilität und andere überlebensrelevante Prozesse verwendet werden müssen. Das bedeutet wahrscheinlich, dass Menschen in der Isolation vergleichsweise rascher und intensiver auf bedrohliche Stimuli reagieren. All das spricht dafür, dass die regulierende Wirkung sozialer Nähe in den Wahrnehmungssystemen verwurzelt sein muss – insbesondere denjenigen, die unkonditioniert (außerhalb des Lernens) auf soziale Stichworte regieren. Menschen nehmen Intentionalität und biologische Bewegungen sehr rasch und wahrscheinlich unkonditioniert wahr. Diese perzeptuellen Fähigkeiten sind vermutlich an ganz bestimmte eigene Schaltkreise (z. B. an den Sulcus temporalis superior und das fusiforme »Gesichtsfeld«; Pelphrey & Morris 2006) gebunden und bewirken ein »Feedforward«, eine Vorwärtsmeldung, an die evaluativen und repräsentationalen Systeme wie die Amygdala, die Basalganglien, den insulären und den cingulären Cortex und den präfrontalen Cortex. Zu den möglichen Kandidaten für die Umwandlung sozialer Signale hin zur Alarmreduzierung zählen das Neuropeptid Oxytocin, die endogenen Opioide und die mit Belohnungen verbundene dopaminerge Aktivität (Coan 2008). Eine Fülle von Tier- und Humanstudien hat das Oxytocin als jenen Kitt identifiziert, der soziale Beziehungen festigt. Oxytocin wird durch soziale Kontakte oder durch das Potential für soziale Kontakte ausgeschüttet und fördert die Entstehung und Beibehaltung sozialer Bindungen (Insel & Fernald 2004; Taylor 2006). Wichtig ist: Oxytocin vermittelt – als Konsequenz des Vorhandenseins sozialer Kontakte – auch die Stressreaktion (Taylor & Master 2011). In einer Magnetresonanz-Studie zur BOLD2-Reaktion der Amygdala auf negative Reize zeigten diejenigen Teilnehmer, denen ein Oxytocin-Nasenspray verabreicht worden war, eine signifikant reduzierte Aktivierung, verglichen mit Teilnehmern, die ein Placebo-Spray erhalten hatten (Kirsch et al. 2005). Die Amygdala hat teil an der auf Bedrohungen ausgerichteten Vigilität, was es nahelegt, dass diejenigen Probanden, die unter dem Einfluss des Oxytocins standen, sich beim Betrachten unerfreulicher Bilder weniger bedroht fühlten. Das heißt also, eine Person, die enge Nähe zu ihren sozialen Ressourcen wahrt, wird ihre Oxytocinkonzentration wahrscheinlich erhöhen und in der Folge ihre Wahrnehmung von Bedrohungen in der Umgebung reduzieren. Endogene Opioide werden in Reaktion auf positive Interaktionen mit anderen ebenfalls unkonditioniert ausgeschüttet (Panksepp 1998; Panksepp et al. 1994) und könnten im Zusammenwirken mit Oxytocin eine Rolle bei der Abschwächung der Bedrohungsreaktion des Gehirns spielen. Der dorsale anteriore cinguläre Cortex (dACC) beherbergt bekanntlich eine große Dichte endogener Opioidrezeptoren und wird von Eisenberger und Kollegen als Indikator des Zusammen hangs zwischen sozialen Ressourcen und Bedrohungsreaktionen ins Spiel gebracht (Eisenberger et al. 2007): Ihrer Studie zufolge zeigten diejenigen Probanden, die nach ihren eigenen Worten täglich erhebliche mitmenschliche Unterstützung erfuhren, in Reaktion auf Bedrohungen entsprechend ein niedrigeres Aktivierungsniveau im dACC. Darüber hinaus ist gezeigt worden, dass der dACC nach wiederholter Exposition gegenüber solchen Opioiden unter Umständen weniger stark auf Bedrohungen reagiert (Eisenberger et al. 2007; Harris et al. 2007). Von anderer Seite ist der Gedanke vorgetragen worden, dass die mit Belohnungen verbundene dopaminerge Aktivität in Kombination mit der unkonditioniert verstärkenden Natur sozialer Kontakte bei »Vorhandensein« solcher Ressourcen, also anderer Menschen, negative Affekte blockieren kann (Depue & Morrone-Strupinsky 2005; Younger et al. 2010). Das klingt plausibel, vor allem weil Oxytocin die dopaminerge Aktivität in den Basalganglien zu verstärken vermag (Coan 2008). Allerdings sind weitere Forschungen nötig, um einschätzen zu können, ob die dopaminerge Aktivität wirklich als Mechanismus mitmenschlicher Unterstützung fungieren kann und nicht nur ein allgemeines Korrelat in diesem Zusammenhang darstellt. Fazit Das menschliche Gehirn ist offensichtlich fähig, die Wahrnehmung sozialer Nähe zu nutzen, um analog dem Bayes’schen Theorem darüber zu befinden, wie viel von seinen eigenen Ressourcen es für die Reaktion auf potentiell »herausfordernde« Umgebungen verwenden will. Zu den möglichen Mechanismen dieser Fähigkeit dürften die Aktivität von Neuropeptiden wie des Oxytocin und von Neurotransmittern wie des Dopamin sowie die Aktivität der endogenen Opioide zählen. Man kann sagen, dass die Menschen ihre Emotionen und ihre Bemühungen um die emotionale Regulierung durch diesen Prozess auf ihre sozialen Netzwerke »auslagern«. Unserer Ansicht nach haben diese Vorgänge damit zu tun, dass die primäre Adaptation des menschlichen Gehirns die Adaptation an andere Menschen ist, dass also andere Menschen die Grundsituation bzw. Grundannahme des menschlichen Gehirns darstellen. So gesehen ist es die Bewegung weg von dieser Grundannahme, die eine erhöhte Sensibilität und Reaktivität gegenüber wahrgenommenen Bedrohungen in der Umgebung zur Folge hat, und in ebendiesem Sinne führt soziale Nähe zur »emotionalen Regulierung«. Soziale Nähe wird also an erster Stelle einer notwendigen Aktivierung von Emotionen zuvorkommen, anstatt dem Individuum die Aktivierung eines regulierenden Schaltkreises (wie bei der Selbstregulierung) aufzunötigen. Wir sprechen im Zusammenhang mit dieser Sicht der Dinge vom »Social Baseline«-Modell, das seinerseits Teil der umfassenderen »Social Baseline«Theorie (Coan 2010) ist. Ein sozial, also auf die Mitmenschen orientiertes Gehirn ist nicht nur in energetischer Hinsicht von Vorteil; es hat zudem eine glückliche und dabei nicht etwa beabsichtigte Folge: Enge und befriedigende Beziehungen sind das Allerbeste im Leben; nichts betrachten die Menschen als für ihr mentales und physisches Wohlergehen wichtiger und maßgeblicher als ihre engen Beziehungen zu anderen Menschen (vgl. Berscheid & Reis 1998). Anmerkungen 1 Thomas Bayes, englischer Mathematiker (1702 – 61), entwickelte eine Formel für das Rechnen mit bedingten Wahrscheinlichkeiten, das sogenannte Bayes-Theorem. 2 BOLD steht für »blood oxygen level dependency«, d. h. für die in der Magnetresonanztomographie festgestellte Abhängigkeit des Bildsignals vom Sauerstoffgehalt in den roten Blutkörperchen. Literatur Baumeister, R. F., Sparks, E. A., Stillman, T. F. & Vohs, K. D. (2008): Free will in consumer behavior: Self-control, ego depletion, and choice. Journal of Consumer Psychology, 18, S. 4 – 13. Beauchaine, T. P., Gatzke-Kopp, L. & Mead, H. K. (2007): Polyvagal theory and developmental psychopathology: Emotion dysregulation and conduct problems from preschool to adolescence. Biological Psychology, 74, S. 174 – 84. Berreman, G. D. (1978): Scale and social relations. Current Anthropology, 19, S. 225 – 245. Berscheid, E. & Reis, H. T. (1998): Attraction and close relationships. In: D. T. Gilbert, S. T. Fiske & G. Lindzey (Hrsg.), The handbook of social psychology (4. Aufl.). New York (McGraw-Hill), S. 193 – 281. Buckner, J. C., Mezzacappa, E. & Beardslee, W. R. (2009): Self-regulation and its relations to adaptive functioning in low-income youths. American Journal of Orthopsychiatry, 79, S. 19 – 30. Coan, J. A. (2008): Toward a neuroscience of attachment. In: J. Cassidy & P. R. Shaver (Hrsg.), Handbook of attachment: Theory, research, and clinical applications (2. Aufl.). New York (Guilford Press), S. 241 – 265.

Das vorliegende Buch fasst verschiedene Beiträge aus den Bereichen Forschung, Klinik und Prävention zusammen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema Bindung – Paare, Sexualität und Kinder beschäftigen. Es werden sowohl Ergebnisse aus der Grundlagenforschung als auch solche aus der empirischen Forschung, die in Längsschnittstudien zur Prävention mit Paaren gewonnen wurden, dargestellt; zudem werden Erfahrungen aus der klinischen Arbeit beschrieben und anhand von Fallbeispielen veranschaulicht, um die therapeutischen Möglichkeiten und Voraussetzungen für die Arbeit mit Paaren wie auch mit Kindern, die Zeuge oder Opfer von Gewalt in Paarbeziehungen geworden sind, aufzuzeigen. Hans Jellouschek beschreibt sehr feinfühlig den Unterschied zwischen Partnerschaft und Partnerliebe und zeigt deutlich auf, welchen Einfluss die Liebe zwischen den Eltern speziell auf die langfristige Beziehungsfähigkeit von Paaren hat und wie hierdurch die Entwicklung und das Erleben der Kinder langfristig positiv beeinflusst werden. Karen Hasselmo, James A. Coan und Lane Beckes haben eine neue Theorie für die Regulierung von Emotionen in sozialen Beziehungen entwickelt, die für das Verständnis von Bindungserfahrungen zwischen Paaren von Bedeutung ist. Die Ergebnisse ihrer Grundlagenforschung zeigen sehr deutlich, dass Menschen wahrscheinlich von Grund auf soziale Nähe erwarten und diese auch zur Unterstützung in stressvollen Situationen erfolgreich nutzen, weil sie hierdurch die Möglichkeit haben, Stress, Schmerzen und Angst weniger intensiv zu erleben. Viele Paare wünschen sich eine langfristige Beziehung, aber nur wenigen gelingt dies. Julia Berkic und Julia Quehenberger berichten von ihrer Studie über bindungsspezifische Marker der Emotionsregulation, die sie bei Langzeit-Ehepaaren finden konnten. Ihre Untersuchungen helfen zu verstehen, was Paare über viele Jahre zusammenhält und wie diese sich wechselseitig emotional positiv beeinflussen. Kirsten von Sydow diskutiert Forschungsergebnisse über die verschiedenen Bindungsmuster, die sich bei Paaren finden, und den unterschiedlichen Einfluss dieser Bindungsmuster auf die Zufriedenheit und die Sexualität in Paarbeziehungen. An Fallbeispielen erläutert sie die Implikationen für die Paar- und Einzeltherapie. Kate White macht an mehreren Beispielen aus der Therapie sehr eindrücklich verständlich, wie sehr frühe Bindungserfahrungen sowie das Erleben von Sexualität und Partnerschaft miteinander verknüpft sind und wie im klinischen Bereich hiermit bindungsorientiert gearbeitet werden kann. Problematische Partnerschaften haben einen immensen Einfluss auf das elterliche Erziehungsverhalten, wie Antonia Bifulco in ihrem Beitrag zeigt. Aus dieser bindungstheoretischen Perspektive wird auch die Weitergabe von transgenerationalen Risiken und Traumatisierungen von Elternpaaren auf ihre Kinder verständlich. Bisher gab es kaum Präventionsprogramm, die gezielt die Paarebene unterstützt haben, um die Entwicklung, besonders auch die sichere Bindung von Kindern zu ihren Eltern, zu fördern. Phil und Carolyn Pape Cowan berichten aus ihrem langjährigen Interventionsprogramm mit Paaren. Sie konnten zeigen, dass die Bindungserfahrungen der Erwachsenen sehr deutlich die Qualität der Paarbeziehung bestimmen und hieraus auch Schlüsse für die Entwicklung des Kindes gezogen werden können. Ihr familiensystemisches Modell hat große Bedeu tung für die beziehungs- und bindungsorientierten Interventionen. Sie konnten durch eine präventive Verbesserung der Beziehungsqualität auf der Paarebene die Zufriedenheit der Eltern mit ihrer Partnerschaft verbessern. Dies hatte auch langfristig positive Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung der Kinder dieser Paare. Die Studie von Judith A. Crowell gibt Hinweise, wie frühe Schädigungen die Bindungsrepräsentationen der Erwachsenen und damit auch die Art und Weise der Gestaltung der späteren Partnerschaft beeinflussen können. Egon Garstick berichtet aus seiner klinischen Arbeit mit Eltern, insbesondere auch Vätern, die über die Elternschaft in Identitätskrisen geraten sind und hierbei psychotherapeutische Hilfestellungen in Anspruch nehmen. Garstick zeigt auf, wie durch frühe Interventionen auf der Paarebene schwere Störungen in der Eltern-Kind-Beziehung relativ rasch auf einen besseren, die Entwicklung fördernden Weg gebracht werden können. Der Verlust eines Kindes ist für die Paarbeziehung immer eine traumatische und höchst belastende Erfahrung, die die Paardynamik über viele Jahre beeinflussen kann. Roland Kachler hat ein neues Behandlungsmodell entwickelt, das sehr bindungsorientiert mit den Trauerprozessen der Eltern umgeht und diesen hilft, langfristig eine positive Repräsentation des verlorenen Kindes zu bewahren. Susan Golombok berichtet aus ihren Forschungen zu den vielen verschiedenen neuen Familienformen, die weit über die traditionelle Paarbeziehung hinausgehen. Auch diese Familienformen haben einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Neben den neuen Formen der Partnerschaft und des Zusammenlebens widmet sich Golombok besonders der Bedeutung von Adoptio nen. Spiralen der Gewalt in Paarbeziehungen, die über Jahre eskalieren, stellen in psychotherapeutischen Behandlungen eine große Problematik dar. Nicht selten kommt es zu destruktiv-aggressiven Verhaltensweisen zwischen den Partnern, wie häusliche Gewalt, die beide sowohl als Täter wie auch als Opfer erscheinen lassen. Jochen Peichl stellt ein Modell vor, wie destruktive Paarbeziehungen besser verstanden werden können, und zeigt, wie auf diesem Hintergrund therapeutische Prozesse besser gelingen können. Es ist immer wieder auffällig, welch starke Bindung zwischen Opfer und Täter besteht, so auch bei destruktiven Paarbeziehungen. Michaela Huber analysiert, wie diese pathologischen Bindungen entstehen, wie sie aufrechterhalten werden und welche Möglichkeiten es gibt, aus diesen destruktiven Bindungen auszusteigen und sie auch zu verarbeiten. Abschließend berichtet Karl Heinz Brisch an verschiedenen Beispielen, wie Gewalt in der Paarbeziehung Kinder traumatisiert, wenn sie Zeuge dieser Art des Streits zwischen den Eltern werden. Wenn Kinder eine solche Gewalt miterleben, hat dies großen Einfluss auf die Art ihrer psychotherapeutischen Behandlung. An verschiedenen Konstellationen wird verdeutlicht, wie die Voraussetzungen für eine Psychotherapie gestalten werden müssen und wie trotz der Verstrickungen zwischen den Paaren und ihren Kinder eine erfolgreiche Therapie – auf Basis dieser Voraussetzungen – möglich ist. Alle Beiträge vermitteln zusammen einen umfassenden Überblick darüber, welchen positiven Einfluss liebevolle elterliche Paarbeziehungen auf die Entwicklung von Kindern haben können und wie destruktive Gewalt in der Paarbeziehung sich langfristig auch auf die Entwicklung von Kindern negativ auswirken und frühe Störungen bedingen kann. Auf dem Boden der Grundlagenforschung wird verständlich, wie gesunde, aber auch destruktive Paarbeziehungen entstehen, wie sie sich langfristig entwickeln, welche Möglichkeiten zur Therapie für die Paare, aber auch für die Kinder bestehen und unter welchen Bedingungen erfolgreiche Behandlungen möglich sind. Auf dem Hintergrund dieser Erkenntnisse werden modellhaft neue Wege der psychotherapeutischen Behandlung, sowohl für Paare als auch für ihre Kinder, aber auch Möglichkeiten der frühen Intervention und Prävention aufgezeigt. HANS JELLOUSCHEK Die Bedeutung der Partner-Liebe für das Eltern-SeinWas ist und worin besteht Partner-Liebe? Partner-Liebe ist eine Beziehungsform, die sich von allen anderen Beziehungsformen unterscheidet: Sie unterscheidet sich von der Partner-schaft, denn diese gehorcht der Handlungslogik der Gerechtigkeit: Ich gebe dir – und bekomme dadurch einen Anspruch darauf, dass du mir ›wiedergibst‹, Gleichwertiges zurückgibst. Demgegenüber gehorcht die Partner-Liebe der Handlungslogik der Hingabe: Ich gebe dir, weil ich dich liebe! Der Liebende erwirbt durch seine Liebe keinen Anspruch darauf, dass der andere ihn ›wiederliebt‹. Liebe kann keine Schuldscheine ausstellen, Liebe ist ein Geschenk. Man kann darum die Liebe des anderen nicht »einklagen«. Freilich bleibt der Liebende – jedenfalls auf die Dauer – darauf angewiesen, dass der andere seine Liebe erwidert, sonst wird es eine unglückliche, unerfüllte Liebe, weil Partner-Liebe einseitig nicht wirklich möglich ist. Oder es wird eine Art Eltern-Liebe daraus, wie die Liebe der Mutter oder des Vaters zum Kind. Denn die Elternliebe ist vom Wesen her insofern eine einseitige Liebe, als das Kind von seiner Entwicklung her noch gar keine gleichwertige Liebe ›wieder-geben‹ kann. Die Liebe der Eltern zum Kind ist keine Liebe auf der gleichen Ebene wie die Liebe zwischen zwei erwachsenen Partnern. Diese lebt von der Hingabe der Frau an den Mann und des Mannes an die Frau, und sie lebt von der Verbundenheit und Intimität zwischen den beiden, die daraus erwächst: Sie sind gern zusammen, sie tauschen sich aus, sie können sich »riechen« – im übertragenen und durchaus auch im wörtlichen Sinn! Diese Liebe hat also auch eine typische körperliche Komponente: Die beiden sind sich gern auch körperlich nahe, haben darum auch Sexualität miteinander. In der Partner-Liebe sind Mann und Frau seelisch und körperlich miteinander verbunden. Das ist die typische Form der Intimität, welche die Partner-Liebe von jeder anderen Beziehungsform, sowohl von einer lediglich partnerschaftlichen wie der fürsorglichen der Eltern-Kind-Liebe als auch von einer nur freundschaftlichen Beziehung, unterscheidet. Natürlich sind in der PartnerLiebe von all diesen Formen auch Elemente enthalten, vor allem in einer auch auf Dauer angelegten Mann-Frau-Beziehung. Wenn z. B. ein Partner dauerhaft erkrankt und der andere sein Pfleger wird, wird – wie in jeder »Pflege-Beziehung« – auch die Partnerbeziehung zu einer Art Eltern-Kind-Beziehung. Und im gewöhnlichen Alltag, den es miteinander zu bewältigen gibt, spielt das Vorhandensein väterlicher/mütterlicher Elemente der Partner wie natürlich auch eine partnerschaftlich gerechte Aufgabenverteilung zwischen den beiden eine ganz wichtige Rolle. Aber der entscheidende Unterschied, der die Liebesbeziehung ausmacht, sollte dennoch nicht vergessen, sondern immer wieder auch zwischen Paaren gepflegt werden, damit sie lebendig bleibt. Dies geschieht in der Regel viel zu wenig. Ein wichtiger Grund dafür ist: Der Partner-Liebe wurde in früheren Generationen innerhalb einer Ehe wenig Bedeutung beigemessen. Wichtiger war die Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau damals für Nachwuchs und als Wirtschaftsgemeinschaft für das gemeinsame Überleben. Heute erleben wir eher das Gegenteil: Da wird der lebendigen Liebe höchste Bedeutung beigemessen, andere Faktoren spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Wenn die Liebe tot ist, ist eine Ehe akut gefährdet. Darum müssen wir sagen: Die Wahrscheinlichkeit, dass Ehen und damit auch Familien stabil bleiben, erhöht sich, wenn auch die Partner-Liebe stabil bleibt. Das kommt nicht nur den Erwachsenen zugute, sondern vor allem auch den gemeinsamen Kindern. Darauf gehe ich nun im zweiten und dritten Abschnitt dieses Beitrags ein. Welche Bedeutung hat die Partner-Liebe für Elternschaft und Kinder? Zur Bedeutung der Partner-Liebe für Elternschaft und Kinder möchte ich die folgenden sechs Thesen aufstellen und jeweils erläutern: These 1: Die Partner-Liebe fördert den Bestand der Ehe und gibt dadurch auch den Kindern Bindungssicherheit. In der heutigen gesellschaftlichen Situation, in der Paare sich zusammentun, wird immer deutlicher, dass die Partner-Liebe tatsächlich immer ausschließlicher das Einzige ist, das dem Zusammenbleiben von Partnern Bestand verleiht. In früheren Generationen haben viele andere mächtige Faktoren dafür gesorgt, dass Paare, die einander das Ja-Wort gegeben hatten, die einen gemeinsamen Haushalt aufbauten und gemeinsame Kinder aufzogen, beisammen geblieben sind: Im ländlichen Betrieb war dies eine Frage des wirtschaftlichen Überlebens, in adligen Familien war es wichtig für den Bestand des Geschlechts. Die kirchliche Ehe-Ideologie, vor allem die katholische, sprach ein Bannwort über die Scheidungs-Willigen, und dementsprechend war der Druck durch eigene Eltern, Verwandte und Gemeinden auf Paare, die sich trennen wollten, riesengroß, auch dann noch, als staatliche Gesetze die Möglichkeit zu rechtskräftigen Scheidungen eröffneten. Diese Einflüsse wirtschaftlicher, ideologischer und gesellschaftlicher Art gibt es natürlich auch heute noch in unterschiedlicher Stärke. Aber entscheidend sind sie immer weniger. Das Einzige, das auch heute noch eine Ehe – und damit auch eine Familie – zusammenhält, ist die lebendig erfahrene Liebe zwischen den beiden Partnern. Eine solche Stabilität aus Liebe ist aber eine sehr günstige Voraussetzung für die Erfahrung einer sicheren Bindung der Kinder an Mutter und Vater – vor allem, wenn die Kinder noch klein sind. Die Bedeutung dieser Erfahrung hat ja die Säuglingsforschung schon lange als zentral für ein gutes Aufwachsen der Kinder erkannt, und diese Erkenntnis wird heute auch von der Neurobiologie in vielfältiger Weise bestätigt. Die Trennung der Eltern bedeutet für die Kinder, jedenfalls zunächst, immer einen Bindungsverlust. Ein Elternteil ist plötzlich nicht mehr da. Auch dann, wenn es den Eltern gelingt, gut und fair mit dieser Trennung umzugehen, was ja sehr häufig nicht der Fall ist, werden Kinder in ihrer Bindungssicherheit irritiert, verunsichert, durcheinandergebracht. Und vor allem, wenn die getrennten Eltern einander weiterhin grollen, geraten die Kinder in Solidaritätskonflikte, verlieren die Bindung zu einem Elternteil, weil sie vom andern zum Bündnispartner gemacht und gegen den anderen aufgehetzt werden usw. Dabei möchte ich betonen, dass es einen großen Unterschied macht, ob Eltern, die zusammenbleiben, dies aus Pflichtgefühl, wegen der Kinder oder aufgrund der Liebe des einen zum anderen tun. Ich höre in der Therapie von Klien ten immer wieder, dass ein Zusammenbleiben ihrer Eltern »aus Pflichtgefühl« für sie als Kinder eine riesige Belastung war; denn sie spürten es ganz deutlich, auch wenn sie noch sehr klein waren, wenn nicht Liebe und Wohlwollen zueinander, sondern sie selbst der – womöglich einzige – Grund für das Zusammenbleiben waren. Das ist für Kinder nur belastend, eine Last, unter der sie manchmal ein ganzes Leben lang leiden. These 2: Die Partner-Liebe stärkt die Eltern in ihrer Eltern-Funktion. Wenn sie in Liebe verbunden sind, werden sie sich auch gegenseitig unterstützen. Dies fördert auch eine partnerschaftlich gerechte Aufgabenverteilung sowie ganz generell ihre Kooperationsbereitschaft, und dies besonders auch bei der Bewältigung von Stress-Situationen. Die Partner werden bereit, auch im emotionalen und zeitlichen Stress, den Kinder ja immer auch mit verursachen, einander wechselseitig zu entlasten, und so tragen sie zur gemeinsamen Stressreduktion bei. Dies schafft zudem Erfolgserlebnisse, und diese wiederum beleben die Achtung und Liebe der Partner füreinander (»Wir sind ein tüchtiges, ein starkes Paar!«). Damit ist auch gesagt: Die lebendige Liebe der Partner fördert die Präsenz des Mannes in der Familie. Er ist dann gern zu Hause, und das erhöht seine Ansprechbarkeit für die Kinder. Die Bedeutung, die diesem »Dritten« in der familiären Triade für das Kind zukommt, ist uns in den letzten Jahren ebenfalls sehr stark bewusst geworden: Der Vater bringt in der Regel gegenüber der Mutter andere wichtige Elemente in die Erziehung ein: das größere Interesse am Technischen, die stärkere Betonung des Wettkampfs und Wettbewerbs im Spiel und Ähnliches sind neben anderen Elementen, die im Durchschnitt stärker von den Müttern vertreten werden, ebenfalls wichtige »Steine« im »Mosaik« der ganzheitlichen kindlichen Reifung. Vor allem für die männlichen Kinder ist es von großer Bedeutung, dass sie im Vater eine präsente Identifikationsfigur ihres eigenen Geschlechts finden, die ihnen Orientierung gibt und den Rücken stärkt in ihrer oft vom Weiblichen überdominierten »Kinder-Welt«. Das Fehlen dieser Orientierung und »Rückenstärkung« durch präsente Väter wird von vielen Pädagogen auch als eine wichtige Ursache für das gegenüber den Mädchen viel häufigere schulische Versagen der Jungen gewertet, für die größere Zahl der Verhaltensauffälligkeiten und Kriminalitätsfälle bei ihnen wie auch die stärkere Gefährdung der männlichen Jugendlichen durch Drogen. Aber auch für die Identitätsfindung der Mädchen scheint die Präsenz des Vaters in der Familie von großer Bedeutung zu sein: In ihm erleben sie ja die erste wichtige Beziehung zu einem Mann und damit ihrerseits ihr Anders-Sein ihm gegenüber. Der Vater und Mann bleibt für sie nicht die ferne Sehnsuchtsfigur am Horizont, sondern wird erlebte Realität, was sich vor allem später in einer realistischen Beziehung zum Partner als sehr nützlich erweist. These 3: Die Partner-Liebe kompensiert Unterschiedlichkeiten und Meinungsdifferenzen der Eltern im Hinblick auf die Kinder. Eltern müssen im Umgang mit ihren Kindern nicht immer gleich und einer Meinung sein. Dies kann sich sogar als schädlich erweisen, vor allem dann, wenn sie sich auf der Paar-Ebene nicht lebendig lieben. Kinder erleben das als Doppelbödigkeit, und das verwirrt sie eher. Wenn eine grundlegende gegenseitige Akzeptanz der Eltern auf der PaarEbene vorhanden ist, können Unterschiede im Umgang mit den Kindern, sogar wenn diese in Anwesenheit der Kinder ausdiskutiert werden, sogar gut für die eigene Autonomie-Entwicklung der Kinder sein. Sie erfahren: Beim einen geht es so, beim andern eben anders. Man kann es so, man kann es aber auch anders machen. Also kann man auch für sich selber ausprobieren und entscheiden, was für einen besser ist! Damit will ich natürlich nicht verneinen, dass eine Übereinstimmung der Eltern in Grundsatzfragen der Erziehung wichtig ist. Aber Übereinstimmung muss nicht in allen Einzelfragen bestehen. Eine immer wieder erfahrene einheitliche »Eltern-Phalanx« in allem und jedem kann für Kinder sogar eine schlimme Erfahrung von Ohnmacht bedeuten. These 4: Eine lebendige Partner-Liebe der Eltern ist ein gutes Lernmodell für die Kinder im Hinblick auf spätere eigene Partnerbeziehungen. Wie Vater und Mutter miteinander umgehen, ist für Kinder das grundlegende Modell, wie ein Mann mit einer Frau und eine Frau mit einem Mann umgeht. Wenn dies in einer liebevollen Weise geschieht, machen sie die zentrale Erfahrung: »Liebe ist möglich« – auch über längere Zeit, auch »auf Dauer«. Dies wird auf diese Weise eine Art Grundüberzeugung, trotz aller Konflikte, die Kinder bei ihren Eltern vielleicht auch erlebt haben. Aber: Sie haben wieder den Weg zueinander gefunden! Meine Erfahrung als Paartherapeut ist hier: Kinder aus Familien, in denen die Liebe zwischen den Eltern tot war, sind, vor allem wenn noch eine Scheidung mit »Rosenkriegen« dazukam, in ihrem eigenen Erwachsenenleben oft überängstlich, eigene verbindliche Beziehungen einzugehen, oder aber sie versuchen, sich bei jedem Konflikt mit dem Partner ängstlich an diesen anzuklammern und erzeugen gerade damit ein Konfliktmuster, das den Bestand der Ehe gefährden kann. These 5: Die Partner-Liebe schützt die Kinder vor einer Überfürsorglichkeit der Eltern. Der Grund für diese These ist: Die Partner-Liebe fördert das Bedürfnis der Partner, öfter auch als Paar beieinander und miteinander zu sein, und stärkt darum ihren Willen, auch ab und zu etwas allein, ohne die Kinder, zu unternehmen oder auch einen Bereich in der gemeinsamen Wohnung zu schaffen, der für die Kinder, jedenfalls zu bestimmten Zeiten, »tabu« ist. Wenn dies nicht der Fall ist, konzentrieren sich Hauptinteresse und Energie der Eltern auf die Kinder – in Form von Überfürsorglichkeit. Dadurch aber werden diese zu wichtig. Oft werden sie dadurch zu echten »Familien-Tyrannen«, die die Eltern auch nach Strich und Faden manipulieren, oder sie werden nie erwachsen, bleiben ihr ganzes Leben Kinder, die dauernd Ansprüche an den anderen haben, und sind damit eine furchtbare Belastung für ihre Beziehungspartner. Oft begegne ich dieser Überfürsorglichkeit auch in einseitiger Form: Beispielsweise ›über-versorgt‹ die Mutter die Kinder, während der Vater immer mehr zum »Ausgeschlossenen« wird und sich auch selber immer mehr dazu macht, indem er zu Hause immer weniger präsent ist. Dadurch entsteht eine übermäßige Bindung der Kinder an die Mutter. Wenn diese sich zu einem anderen Zeitpunkt wieder mehr ihrem Mann zuwenden will, wittert eines der Kinder »diese Gefahr« und entwickelt womöglich irgendwelche Symptome, deretwegen die Mutter jetzt erst recht wieder »für das Kind da sein muss«. Dabei beklagt sie sich zudem dann oft darüber, dass sie so wenig Unterstützung von ihrem Mann bekommt. So entstehen beispielsweise die typischen »Muttersöhne« unter den Männern. Was ich sage, ist in dieser Form vielleicht etwas überpointiert. Es gibt natürlich Familiensituationen, in denen die Kinder (oder das Kind) mit Recht im Mittelpunkt stehen, z. B. in der späten Schwangerschaft und kurz nach der Geburt, wenn die Frau noch stillt. Dann stehen das Kind und dessen Bindung an die Mutter mit Recht im Vordergrund. Oder auch in Zeiten, in denen ein Kind schwerer erkrankt ist oder andere akute Probleme hat. Dann muss für einige Zeit die Elternebene gegenüber der Paar-Ebene Vorrang haben. Auch wenn einer der Partner eine übermäßige Stress-Situation im Beruf erlebt, kann es mit der Pflege der Paarbeziehung sehr schwierig werden. Paare müssen allerdings darauf achten, dass sich solche Zustände nicht »chronifizieren«, wie das in zahlreichen Familien zu beobachten ist. These 6: Die Partner-Liebe fördert eine gelingende Ablösung der Kinder von den Eltern. Mit dem Vorausgehenden ist dies implizit schon gesagt. Denn Eltern, die auch ein Liebespaar sind und bleiben, geben die Kinder frei für ihr eigenes beginnendes Erwachsenenleben. Das heißt natürlich nicht, dass pubertierende Jugendliche, junge oder auch schon lange »flügge gewordene« Erwachsene nicht noch öfter oder manchmal dringend ihre Eltern als Eltern »brauchten«. Aber das Entscheidende ist: Sie fühlen sich nicht als Kinder von den Eltern festgehalten oder ihnen gegenüber »verpflichtet«. Wenn das Gegenteil geschieht, wenn beide Eltern oder auch ein Elternteil sich zu viel um die Kinder kümmert, wird – wie Systemische Therapeuten sagen – die »Generationen-Grenze« zwischen Eltern und Kindern verwischt oder verletzt. Kinder, die nicht mit dem Wohlwollen der Eltern in ein eigenes Erwachsenen-Dasein entlassen werden, kommen im Familiensystem in eine »falsche Position«. Sie werden Eltern-Kinder, pendeln als überforderte Helfer oder auch »Manipulierer« zwischen den Eltern hin und her; oder sie werden durch Bindung an einen Elternteil Muttersöhne oder Vatertöchter, die ein Leben lang an Mutter oder Vater gebunden bleiben, was zur Störung oder sogar zum Scheitern eigener Paarbeziehungen führt, weil solche Erwachsenen nicht frei sind für eigene Beziehungen. Darum ist eine lebendige und immer wieder verlebendigte Liebe zwischen den Eltern als Paar auch für die Elternschaft von großer Bedeutung. Was dazu erforderlich ist, vor allem in Beziehungen, die auf Dauer angelegt, also darauf angelegt sind, diese Liebe immer wieder zu beleben, darauf kommen wir im folgenden, dritten Teil zu sprechen. Was braucht die Partner-Liebe, damit sie erhalten bleibt und sich sogar vertieft? Klar ist, dass im Leben eines Paares die Familienphase, die ja meist nicht nur mit der Kindererziehung, sondern auch mit Existenzaufbau, Bewährung im Beruf, Investitionen in Wohnungskauf oder Hausbau und dergleichen verbunden ist, eine Zeit mit sehr großem Stress darstellt. Und klar ist auch, dass man Liebe nicht »machen« kann. Wenn nie Liebe da war, kann ich auch keine »machen«. Aber man kann Bedingungen schaffen und erhalten, die für das Bestehenbleiben und die Verlebendigung der Liebe wichtig sind. Was bedeutet dies nun konkret? Es bedeutet z. B.: verbindlich geplante Zeiten und Orte für die Zweisamkeit, für das persönliche Gespräch, für die Pflege gemeinsamer Interessen, für Unternehmungen zu zweit. Diese Gelegenheiten ergeben sich nicht »von selbst«, sie müssen bewusst geschaffen, geplant, vereinbart, durchgeführt werden. So simpel dies klingt, es scheint mir eine der wesentlichen Bedingungen dafür zu sein, dass die Liebe im Stress oder auch in der Gewöhnung des Alltags nicht untergeht. Und es sind Energie und Initiative von beiden Partnern erforderlich, damit solche Zeiten zustande kommen. Sie ergeben sich, wie gesagt, nicht oder nur selten »von selbst«. Dies gilt – für manche sehr überraschend – auch für die Pflege gemeinsamer Sexualität. Je länger man mit dem Partner zusammen ist, desto weniger treibt es einen »von selber« zum anderen, um »Sex zu machen«. Das ist eine natürliche Entwicklung, und darum ist darauf zu achten, dass man weiterhin diesen Bereich der auch körperlichen Intimität bewusst pflegt und gestaltet. Und dazu gehören auch geschützte Zeiten und Orte, an denen und in denen die Wahrscheinlichkeit einer Störung von außen weitgehend reduziert ist. Der Schwung der Verliebtheit hat früher wie von selber dafür gesorgt, dass Verliebte solche Räume und Zeiten geschaffen haben. In der Dauerbeziehung sind der bewusste Entschluss dazu und die bewusste Sorge beider dafür nötig. Viele Paare unterliegen hier einer »Spontaneitäts-Ideologie« – sehr zum Schaden einer realistischen Liebesbeziehung! Damit für das Paar solche Räume für Gespräch, Unternehmungen, Pflege gemeinsamer Interessen und Sexualität immer wieder verwirklicht werden, müssen Paare unter Umständen für Hilfen von außen sorgen, vor allem, wenn sie noch kleinere Kinder und/oder anspruchsvolle Berufe haben. Natürlich sind die Möglichkeiten dazu in unserer deutschen Gesellschaft sehr vernachlässigt worden, und wir stehen hier, verglichen mit anderen Staaten, noch ganz am Anfang. Aber ich erlebe oft auch, dass sich Paare solche Unterstützung nicht verschaffen, obwohl es Möglichkeiten gäbe – aus den unterschiedlichsten Motiven heraus: Sie wollen den Kindern keine »Fremden« als Babysitter zumuten, sie wollen das Geld nicht dafür ausgeben, obwohl es hier vielleicht besser angelegt wäre als in einem Hausbau zu diesem Zeitpunkt, sie wollen ihre Eltern, auch wenn diese es gern täten, dafür nicht in Anspruch nehmen, sie wollen »keine Fremden« für die Erledigung des Haushalts in ihre Privatsphäre lassen oder sie können sich aus einem übertriebenen Pflichtgefühl heraus so etwas nicht erlauben. Meist ist ihnen nicht bewusst, dass sie dadurch aber die Liebe, das für den Erhalt ihrer Familie Wichtigste, gefährden. Eine weitere wichtige Bedingung für den Erhalt und die Pflege der Liebe ist schließlich auch die Wechselseitigkeit des Engagements beider Partner. Liebe ist zwar auch geduldig, sie verlangt kein Engagement beider zu exakt gleichen Teilen, wie das in einer »bloß« partnerschaftlichen Beziehung, die ja solche Gerechtigkeit verlangt, der Fall wäre. Liebe kann hier auch Zugeständnisse machen, großzügig sein. Aber eine Einseitigkeit des Engagements kann kein Dauerzustand sein. Auch die Liebe braucht Wechselseitigkeit. Gaben brauchen Gegengaben, sonst versiegt der Wille zum Geben und Schenken. Oft verlangt das vor allem ein Umdenken bei den Männern, die auch heute noch – wie ihre Väter und Großväter es getan haben – eher »lieben lassen«, als hier selber ihren Beitrag zu leisten. Dabei muss eines, das Gesagte ein wenig relativierend, hinzugefügt werden: Ohne Zweifel können Eltern auch gute Eltern sein und bleiben, wenn ihre Liebe zueinander als Paar gestorben und nicht mehr zum Leben zu erwecken ist – auch dann, oder sogar dann eher, wenn sie sich auch äußerlich getrennt haben. Dazu müssen sie sich aber klar bewusstmachen: Mit der Trennung endet die Beziehung auf der Paar-Ebene, aber nicht die auf der Eltern-Ebene. Häufig erleben wir allerdings, dass das viele überfordert. Der getrennt lebende Elternteil – häufig sind das die Väter – wird aus der Familie ausgeschlossen oder schließt sich selber aus, ja man verfolgt einander mit Hass- und Rachegefühlen, und man zieht die Kinder in einseitige Bundesgenossenschaften gegen den anderen hinein. Sicher haben Väter und Mütter in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten hier viel dazugelernt, wie man auch als getrennte Eltern die gemeinsame Elternfunktion einigermaßen kooperativ weiter ausüben kann. Aber das ist nicht einfach und verlangt den Erwachsenen viel ab. Sehr viel einfacher und für alle befriedigender ist es, wenn die Elternschaft auch von einer lebendigen Liebe der Partner zueinander getragen wird. Darum lohnt es sich in jeder Hinsicht, in die Erhaltung und Vertiefung der wechselseitigen Liebe zu investieren, auch wenn dies immer wieder bewusstes Engagement, hohe Achtsamkeit im Alltag und Toleranz verlangt. Literatur Jellouschek, H. (2011): Achtsamkeit in der Partnerschaft. Was dem Zusammenleben Tiefe gibt. Freiburg i. Br. (Kreuz-Verlag). Jellouschek, Hans (2010): Liebe auf Dauer. Was Partnerschaft lebendig hält. Freiburg i. Br. (Herder). Jellouschek, Hans (2008): Wenn Paare älter werden. Die Liebe neu entdecken. Freiburg i. Br. (Herder) (Taschenbuchausg. 2011).KAREN HASSELMO, JAMES A. COAN UND LANE BECKES Die »Social Baseline«-Theorie und die soziale Regulierung von Emotionen Jeder Organismus hat den evolutionären Auftrag, zu überleben und sich fortzupflanzen. Um dieses wichtigste aller Ziele zu erfüllen, sind Ressourcen und die entsprechende Energie erforderlich, durch welche diese Ressourcen gewonnen werden können. Die natürliche Selektion wird folglich Anpassungen begünstigen, die es den Organismen ermöglichen, weniger Energie zu verbrauchen als aufzunehmen und sich so viel Energie wie möglich zu bewahren. Dieser Zwang, bekannt als die Ökonomie des Handelns, ist ein biologisches Prinzip, dem die Organismen gehorchen müssen, um zu überleben und sich zu reproduzieren (Proffitt 2006). Es führt zu Anpassungen, die den wirtschaftlichen Umgang mit den aktuell vorhandenen Ressourcen regeln, damit künftige evolutionsrelevante Aufgaben wie Nahrungssuche und Paarung ausgeführt werden können. Ganz ähnlich wie nahrungssuchende Tiere, die ihren Energieverbrauch möglichst gering halten und nach Prioritäten ordnen – in einem Prozess, der als Theorie der optimalen Nahrungssuche beschrieben wird (MacArthur & Pianka 1966) –, müssen auch die Menschen mit ihren Energien haushalten und ihre Effizienz maximieren. Menschen besitzen allerdings hochkomplexe Gehirne, die ihre Verhaltensflexibilität ganz erheblich steigern – einschließlich der sehr ausgeprägten Fähigkeiten zur Hemmung und zur Selbstkontrolle. Dabei handelt es sich um Fähigkeiten, die im Rahmen exekutiver Prozesse wie der Zukunftsplanung, der Reaktionshemmung und der selektiven Aufmerksamkeit ins Spiel kommen, die ihrerseits von großer Bedeutung für die Selbstregulierung sind. Von diesen Fähigkeiten könnte speziell die Selbstregulierung, vor allem soweit es die Regulierung emotionaler Impulse betrifft, »im Visier« der potentiellen Energieerhaltung stehen – dies deshalb, weil die Menschen die zusätzliche Fähigkeit entwickelt haben, sich zum Zweck des schonenden Umgangs mit ihren Energien aufeinander zu verlassen, indem sie zusammenarbeiten, gemeinsame Ziele verfolgen und ihre Aufmerksamkeit teilen. Nach der »Social Baseline«-Theorie (Coan 2010) ist dieses Anliegen in der Stammesgeschichte des Menschen begründet und hat dazu geführt, dass das primäre Umfeld, an das der Mensch adaptiert ist, andere Menschen sind – dass also die »baseline expectation«, die Grundannahme des menschlichen Gehirns, dem Kontakt und der sozialen Nähe gilt. Tatsächlich ist die Fähigkeit, das aufwendige Geschäft der Selbstregulierung auf ein soziales Netzwerk nahestehender anderer auszulagern, eine adaptive Errungenschaft, die erkennen lässt, wie das menschliche Gehirn mit seinen Ressourcen wirtschaftet. Selbstregulierung und der präfrontale Cortex Die emotionale Selbstregulierung umfasst die Verstärkung oder Abschwächung von Reaktionen auf emotionale Reize, den Belohnungsaufschub, das Sich-hinweg-Setzen über Impulse, die Gedankenunterdrückung und andere Formen bemühter und damit aufwendiger Kontrolle (Gross & Thompson 2007). Selbstregulierung befähigt die Menschen unter anderem dazu, sich Täuschungen hinzugeben und geduldig auf Belohnungen zu warten (Gross & Thompson 2007). Sie hat insofern Konsequenzen für die menschliche Entwicklung, als Kinder, die eine vergleichsweise bessere Selbstregulierung zeigen, weniger in Gefahr sind, aggressive Tendenzen, Verhaltensstörungen und trotzig-oppositionelle Symptome zu entwickeln (z. B. Crowe & Bair 2008; Beauchaine et al. 2007; Hill et al. 2006; Rydell et al. 2003). Erwachsene, die sich auf die Selbstregulierung verstehen, erleben es, dass ihr allgemeiner Gesundheitszustand sich bessert und ihre Lebenszufriedenheit steigt (Haga et al. 2009; Smyth & Arigo 2009). Und sowohl Erwachsene als auch Kinder, die erfolgreich Taktiken der Selbstregulierung einsetzen, profitieren insofern von dieser kognitiven Kontrolle, als ihr Risiko, eine affektive Störung zu entwickeln, geringer wird (Buckner et al. 2009; Dennis et al. 2007). Es sind vor allem Roy F. Baumeister und sein Team, deren Interesse der Selbstregulierung und speziell dem Umstand gilt, dass die kognitive Konzentration auf eine solche Aufgabe sich darauf auswirken kann, wie nachfolgende derartige Aufgaben bewältigt werden (Gailliott & Baumeister 2007; Baumeister et al. 2008): Ihrer Ansicht nach zapft die Selbstregulierung nämlich eine begrenzte Ressource an, und langfristige derartige Anforderungen führen zu einem Phänomen, das sie als »Ich-Erschöpfung« bzw. »Ich-Entleerung« (»ego depletion«) bezeichnen. Ich-Erschöpfung erschwert die Selbstregulierung, und die betroffenen Menschen sind in diesem Zustand häufig nicht imstande, kognitiv anspruchsvolle Aufgaben auszuführen. Baumeister und Kollegen meinen, dass die Glukosekonzentration im Blut den Zusammenhang zwischen Ich-Erschöpfung und kognitiver Kontrolle erklären könnte. Sie tragen ferner die These vor, dass die Fähigkeit zur Selbstregulierung nur für kurze Zeitspannen als legitime Kontrollstrategie dienen könne, da sie das Gehirn – und zumal den präfrontalen Cortex – seiner Ressourcen beraube und damit das weitere Funktionieren der Selbstregulierung beeinträchtige (Gailliott & Baumeister 2007). Zahlreiche Studien stützen die Hypothese der Ich-Erschöpfung. So verbessert z. B. der Konsum eines glukosehaltigen Getränks vor der Ausführung einer kognitiven Aufgabe die entsprechende Leistung (Heatherton & Wagner 2011), und nach der Bewältigung einer solchen schwierigen Aufgabe steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der betreffende Mensch ein alkoholisches Getränk zu sich nimmt, bevor er ein Auto bedient (Muraven et al. 2002). Die Hypothese von der Glukosekonzentration im Blut ist dagegen schwieriger zu bestätigen. So weist Kurzban (2010) z. B. darauf hin, dass die Blutzuckerkonzentration im Gehirn von einer Region zur anderen und auch von einer Reizsituation zur anderen nicht hinreichend variiert, um einen exzessiven Anstieg des Energieverbrauchs als Folge der Aktivität des präfrontalen Cortex zu erklären. Im Gegenteil: Die verschiedenen Hirnregionen verbrauchen Ressourcen etwa im gleichen Verhältnis, und der Großteil der Stoffwechselkosten des Gehirns geht auf das Konto der endogenen Aktivität (d. h. der Aktivität des Gehirns im Ruhezustand) und wird nicht von einem Anstieg der funktionalen Hirntätigkeit infolge der Einführung eines akuten Reizes verantwortet. Neuere Hinweise sprechen zudem dafür, dass die primären und übrigens gut belegten Wirkungen der Ich-Erschöpfung nachlassen, wenn man den Betroffenen ganz einfach sagt, ihre Fähigkeit zur Selbstregulierung sei unbegrenzt (Job et al. 2010). Auch wenn etwas so Simples wie die Blutzuckerkonzentration wohl kaum allein für das Phänomen der Ich-Erschöpfung verantwortlich sein kann, machen Baumeister und Kollegen doch auf eine bedeutsame Tatsache aufmerksam: Kognitive Anstrengungen – zumal solche, die der Selbstregulierung dienen – führen häufig zur Erschöpfung. Und in der Tat besteht kaum ein Zweifel daran, dass zwischen der kognitiven Kontrolle, der Tätigkeit des präfrontalen Cortex und dem Management neuronaler Ressourcen gewichtige Zusammenhänge bestehen. Diese Zusammenhänge könnten sehr wohl etwas mit der Glukosekonzentration im Blutkreislauf zu tun haben. Das Gehirn ist ein einigermaßen unbewegliches metabolisches System, und das bedeutet, dass es auch bei Anspannung nicht dazu neigt, seine Blutversorgung zu erhöhen – tatsächlich kann es das gar nicht (Raichle & Mintum 2006). Wenn das Gehirn seine Aktivität in einer Region erheblich steigert, muss es sich Blut aus einer seiner anderen Regionen holen, d. h. sich intern versorgen. Erfordert eine Aufgabe lange Perioden der Selbstregulierung, dann kann dies folglich dazu führen, dass andere neuronale Systeme »unterernährt« bleiben. Das Ganze ist also eine Frage der Prioritäten, und auch wenn der präfrontale Cortex der menschlichen Spezies unendliche Vorteile eingebracht hat, ist er im Allgemeinen doch nicht so maßgeblich für unser Überleben wie andere Systeme. Die Blutzufuhr zum Gehirn in Zeiten hoher emotionaler Intensität oder physischer Aktivität bestätigt dies: In beiden Fällen ist der präfrontale Cortex deutlich weniger aktiv, und dies häufig deshalb, weil Blut von ihm weggeleitet und diesen anderen Systemen zugeführt wird (Coan et al. 2006; Dietrich & Sparling 2004). Der präfrontale Cortex ist eine jener Hirnregionen, die als Letzte, nämlich erst in der Adoleszenz, zur vollen Ausbildung und Funktion gelangen (Huttenlocher 1990). Zugleich ist er häufig das erste neuronale System, das bei anhaltender Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr (Anoxie), infolge von Mangelernährung oder aufgrund des Alterungsprozesses dahinschwindet, was wiederum darauf verweist, dass er im Vergleich zu anderen human-neuronalen Systemen ein relativ luxuriöses und zumindest insofern teures System ist. Sein Einsatz bei Problemen der Selbstregulierung, wie sie durch die Aktivierung negativer Emotionen ins Spiel kommen, kann überdies Opportunitätskosten mit sich bringen, denn der präfrontale Cortex kann seine Möglichkeiten der analytischen Verarbeitung und des Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnisses auch zur Bewältigung sehr vieler anderer Aufgaben einsetzen; dies reicht von der kreativen Problemlösung über die Sprachgenerierung bis hin zu dem Versuch, zukünftige Entwicklungen zu prognostizieren. In jeder dieser Hinsichten und noch darüber hinaus bietet der präfrontale Cortex sich also als Adresse für die Ressourcenschonung an, wo immer dies möglich ist. Der wirtschaftliche Umgang mit dem »Bayes’schen1 Gehirn« Um Energien zu bewahren und sein Ressourcenbudget zu optimieren, ist das Gehirn offensichtlich darauf angelegt, den präfrontalen Cortex auf vielfältige Weise zu handhaben. Es kann z. B. notwendig sein, den eher »routinisierten« oder rückkoppelnden Schaltkreisen, die für die Motorik und die Affektkontrolle zuständig sind, die metabolische Priorität einzuräumen oder sparsam mit der Selbstregulierung umzugehen, damit andere Funktionen des präfrontalen Cortex in Dienst genommen werden können. Das setzt voraus, dass das Gehirn fähig ist, ein ständiges Inventar seiner aktuellen Ressourcen und der aus dem Umfeld hereinkommenden Anforderungen anzulegen und bereit zu haben und diese Information in energetische Entscheidungen einzubringen, also in die Frage, wann Energie ausgegeben und wann Energie zurückgehalten werden muss. Das Gehirn agiert also als eine Art Bayes’sche Wettmaschine (bzw. Maschine zur Berechnung von Wahrscheinlichkeit), die mit Informationen über die laufende »Einspeisung« und mit der Überlegung arbeitet, wie viel Energie ein bestimmtes Verhalten in der gegebenen Situation vermutlich kosten wird. Stefanucci et al. (2005) präsentieren Nachweise dafür, dass und wie das Gehirn seine physischen Ressourcen einteilt, indem es die Wahrnehmung verändert: Ihre Probanden, von denen einige einen schweren Rucksack tragen mussten, sollten den Neigungswinkel und die Längenausdehnung eines Hügels beurteilen. Die Rucksackträger schätzten den Hügel erheblich steiler ein als die Teilnehmer, die kein zusätzliches Gewicht zu tragen hatten: Ihre Gehirne hatten die Steigung kalkuliert, nachdem sie überlegt hatten, welches Mehr an Energie es sie kosten würde, mit dem Rucksack aufzusteigen. Sie orientierten sich bei ihrer Beurteilung also an der Wahrnehmung der Aufgabe als vergleichsweise mühsam. Diejenigen Teilnehmer, die kein Fremdgewicht zu tragen hatten, schätzten die Steigung dagegen als sanfter ein und kamen folglich nicht auf ein solches zusätzliches Ungleichgewicht in ihrer Energieerhaltung. Die Funktionsweise eines derart mit Budgetfragen befassten Gehirns zeigt sich ferner in der unterschiedlichen regionalen Aktivierung in Reaktion auf distale (= rumpfabgewandte) und proximale (= rumpfzugewandte) Bedrohungen (Mobbs et al. 2007). Die Region, die – im Rahmen eines Experiments – angesichts eines potentiell schmerzhaften, aber relativ weit entfernten (= distalen) Reizes die stärkste Aktivierung erfuhr, war der präfrontale Cortex. Das könnte insofern, als ja noch Zeit war, dem Reiz auszuweichen, eine hochwirksame Strategie des Gehirns sein, denn der präfrontale Cortex kann kreative potentielle Lösungen planen und gestalten. War die Bedrohung bei diesem Experiment aber eher nahe (= proximal), dann »bewegte« sich die Aktivierung weg vom präfrontalen Cortex und hin zum periaquäduktalen Grau, einer Region des Mittelhirns, die für Fluchtreflexe zuständig ist. Auch das ist eine wirksame Strategie, denn wenn die Bedrohung unmittelbar »da« ist, bietet sich kaum noch Gelegenheit, das Problem durch Nachdenken zu lösen. Im Gegenteil: Im Fall einer akuten Bedrohung sind die stammesgeschichtlich bewährten ursprünglichen Strategien wahrscheinlich die beste Wahl. Dass der präfrontale Cortex seine Aktivität unter den Bedingungen einer proximalen Bedrohung reduziert, ist mit Sicherheit weise, aber das Gehirn muss auch im täglichen Gebrauch Wege finden, seine Ressourcen nach Möglichkeit zu schonen und entsprechend einzuteilen. Wie oben erwähnt, ist der präfrontale Cortex hochgradig aktiv, wenn distale Bedrohungen wahrgenommen werden. Das erklärt sich mit einer der Hauptaktivitäten des präfrontalen Cortex unter einer Vielzahl von Gegebenheiten, nämlich mit der Vigilität oder Wachsamkeit. Häufig handelt es sich dabei um eine Wachsamkeit sowohl in Bezug auf Belohnungen (auf Annäherung ausgerichtete Vigilität) als auch in Bezug auf Bestrafungen (auf Rückzug oder Vermeidung ausgerichtete Vigilität; vgl. Coan & Allen 2004). Interessanterweise kann Vigilität, insbesondere die auf Vermeidung ausgerichtete Hypervigilität, wie sie bei Angststörungen auftritt, recht »teuer« sein, weil sie ja ein erhebliches Maß an kognitivem Aufwand auf Seiten des präfrontalen Cortex erfordert. Ähnlich teuer – weil ähnliche Formen von Vigilität und kognitivem Aufwand im Spiel sind – ist die emotionale Selbstregulierung, eine Manifestation der Versuche des präfrontalen Cortex, die Kontrolle über die eher reflexhafte Affektverarbeitung zu wahren. Nach Coan (2008, 2010) gehören soziale Nähe und Interaktion zu den vorrangigen Strategien, die Menschen einsetzen, um die durch den präfrontalen Cortex vermittelte Vigilität und laufende Selbstregulierung zu reduzieren, die zur kognitiven Belastung, zur subjektiven Erschöpfung oder zu unerwünschten Opportunitätskosten führen können. Die soziale Regulierung von Emotionen Ein Beleg für diese letzte Behauptung findet sich in einem unlängst durchgeführten Experiment mit verheirateten Paaren, bei dem die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) eingesetzt wurde (Coan et al. 2006). Im Rahmen dieser Studie wurden die Ehefrauen in der Röhre (MRT) leichten Stromstößen, also einer »Bedrohung«, ausgesetzt, und zwar unter drei verschiedenen Gegebenheiten: Einmal hielten sie die Hand ihres Partners, ein weiteres Mal die Hand einer ihnen gänzlich fremden Person, ein drittes Mal lagen sie allein im Scanner. Die für die Wahrnehmung der Bedrohung zuständigen Schaltkreise im Gehirn dieser Frauen waren deutlich weniger aktiv, solange sie die Hand des Partners hielten – dies galt insbesondere für Frauen in besonders glücklichen Beziehungen. Wenn die Frauen die Hand einer fremden Person hielten, nahm die Responsivität des Gehirns zu, und zwar in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht: Es wurden mehr Areale aktiviert als im ersten Durchgang, und zugleich stieg die Aktivität derjenigen Areale an, die schon beim Handkontakt mit dem Partner aktiv gewesen waren. Seinen höchsten Pegel erreichte das Antwortverhalten im gesamten Gehirn, als die Frauen allein im Scanner lagen. Bemerkenswerterweise zählte der dorsolaterale präfrontale Cortex (dlPFC) – der intensiv an der emotionalen Selbstregulierung beteiligt ist – zu den Regionen, die deutlich auf die Anwesenheit bzw. Nichtanwesenheit des Partners reagierten. Am aktivsten war diese Region in der Zeit, in der die Frauen allein in der Röhre lagen, weniger aktiv in der Zeit, in der sie die Hand einer ihnen unbekannten Person hielten, und kaum aktiv in der Zeit, in der sie die Hand ihres Partners hielten. Das spricht stark dafür, dass die regulierende Wirkung sozialer Nähe nicht durch den präfrontalen Cortex vermittelt wird, im Gegensatz zu dem, was für die aufwendige Selbstregulierung gilt. Nach unserem Eindruck besagt dieses Ergebnismuster in der Tat, dass der präfrontale Cortex bei sozial vermittelten Formen der Emotionsregulierung eine wichtige »Adresse« für die Ressourcenschonung ist. Mit anderen Worten, das Gehirn macht sich soziale Ressourcen in der Weise zunutze, dass es viele seiner anstrengenderen Aufgaben nach außen verlagert bzw. sozusagen »per Vertrag auslagert«. Das wiederum reduziert sowohl den Energieaufwand, der auf solche Aufgaben verwendet werden muss, als auch die damit verbundenen Begleitkosten, denn die Statistik spricht dafür, dass die Nähe zu sozialen Ressourcen die Notwendigkeit der Wachsamkeit und des Problemlösens reduziert. Das »Social Baseline«-Modell Das »Social Baseline«-Modell verheißt Energievorteile dank sozialer Nähe, nämlich durch Risikostreuung und Lastenverteilung. Risikostreuung bedeutet in unserem Zusammenhang, dass die enge Nachbarschaft mit anderen Artgenossen es dem Individuum ermöglicht, das Risiko seines bloßen Daseins auf diese in seiner Nähe befindlichen Wesen zu verteilen. Tiere z. B. »streuen« dieses Risiko, indem sie in Herden beisammenstehen: Sie bewahren sich auf diese Weise ihre Körperwärme (Pinshow et al. 1976), minimieren denjenigen Anteil ihrer Körperoberfläche, der den Insekten und Parasiten ausgesetzt ist, und wehren Raubtierattacken ab (Krebs & Davies 1993). Wenn Artgenossen in enger Nachbarschaft leben, dann sind mehr Augen, Ohren und Nasen darauf fixiert, Räuber aufzuspüren. Wesentlich ist dabei, dass die Gehirne von Tieren, die sich diesen Zusammenhang zunutze machen, fähig sind, die Streuung des Risikos abzuschätzen und ihr Verhalten entsprechend auszurichten. Wie Gilbert Roberts (1996) schreibt, zählt »die Reduzierung der individuellen Vigilität bei zunehmender Gruppengröße zu den am häufigsten berichteten Zusammenhängen auf dem Gebiet des Tierverhaltens« (S. 1077). In seinem Beispiel ist es geselligen Tieren dank der Nähe zu ihren Artgenossen möglich, ihre Wachsamkeit in einem gewissen Umfang zu lockern; sie sparen damit Zeit, die andernfalls für das Aufspüren von »Räubern« verwendet werden müsste, und gewinnen Zeit für die Futtersuche. Wir Menschen profitieren mit großer Wahrscheinlichkeit von der Risikostreuung, und unsere Fähigkeit, Risiken vor dem Hintergrund der Nähe zu den Mitmenschen einzuschätzen, ist fraglos von Einfluss darauf, wieweit wir persönliche Ressourcen darauf verwenden, aufmerksam auf Bedrohungen zu achten. Das dürfte die regulierende Wirkung des Händehaltens mit einer gänzlich fremden Person erklären, von der oben die Rede war. Aber anders als viele oder sogar die meisten geselligen Tiere sind die Menschen fähig, sich noch eine weitere Ebene der Risikostreuung durch soziale Kontakte zunutze zu machen – nämlich das, was wir auch in unserem Zusammenhang als load sharing, Lastenverteilung, bezeichnen. Lastenverteilung erfordert das Vorhandensein von Artgenossen; sie fußt aber nicht ausschließlich auf Zahlen, sondern setzt Interdependenz, also wechselseitige Abhängigkeit oder Bezogenheit, und vertraute Bande voraus, etwa die genetische Beziehung der Partner, ihre Liebesbeziehung oder schlicht ihre Freundschaft zueinander. Lastenverteilung geschieht, wenn ein Mensch einem anderen beisteht, und zwar so, als wäre dieser andere er selbst. Dabei kann es sich um Wachsamkeit zugunsten dieses anderen, um die »Nahrungssuche« für diesen anderen oder um Fürsorge und Beistand in Bezug auf ihn handeln – ganz ähnlich der Fürsorge einer Mutter für ihr Kind. Derartige Aufmerksamkeit ist vorteilhaft für den Empfänger, mit Sicherheit aber kostspielig für den Geber, denn mit dem Grad der Interdependenz der Partner steigen die Kosten ebenso wie der Gewinn. Alles in allem aber macht die Fähigkeit zur wirksamen Lastenverteilung die Umgebung eines Menschen sehr viel weniger bedrohlich, und damit wird es auch weniger wahrscheinlich, dass sie neuronale Ressourcen beanspruchen wird. Soziale Nähe »spart« neuronale Aktiviät sowohl durch Risikostreuung als auch durch Lastenverteilung, wobei Lastenverteilung im Augenblick ihres Funktionierens zumeist sehr viel wirksamer, zugleich aber auch potentiell teurer ist. Soziale Ressourcen sind höchst nützlich für das Gehirn, wenn sie berechenbar sind. Je mehr Zeit ein Paar miteinander verbringt, desto berechenbarer werden die Partner füreinander und desto größer wird damit auch ihre wechselseitige Abhängigkeit, was das Bayes’sche Gehirn veranlasst, im Partner eine stabile soziale Ressource zu sehen. Und mit zunehmender Berechenbarkeit der sozialen Umgebung parallel zur abnehmenden Notwendigkeit von Wachsamkeit und aufwendiger Selbstregulierung kann das Gehirn verhaltensmäßig und psychologisch flexibler werden. Die (potentiellen) Mechanismen der sozialen Regulierung von Emotionen Soziale Isolation war im gesamten Verlauf der Evolution ein seltenes und gefährliches Phänomen. Tatsächlich kam es während des größten Teils der menschlichen Geschichte selten zu Begegnungen mit Fremden, und viele Menschen lebten ihr Leben, ohne jemals auf einen Fremden zu treffen (Berreman 1978). Dass unser Modell sich auf eine »baseline«, also auf eine »Grundlinie« oder einen Ausgangszustand bezieht, hat u. a. damit zu tun, dass soziale Nähe sehr wahrscheinlich die Grundannahme des menschlichen Gehirns ist. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um eine eher simple Vorstellung zu handeln, tatsächlich bewirkt sie aber einen grundsätzlichen Wandel in unserer Sicht der Menschen und der menschlichen Gehirne – weg von der Vorstellung der einzelnen Person als der kleinsten Analyseeinheit und hin zu der Vorstellung, diese kleinste Analyseeinheit könnten in Wahrheit zwei Personen sein; und dieser Wandel wiederum könnte sich spürbar auf unsere Untersuchung und unser Verständnis der neuronalen Mechanismen mitmenschlicher Hilfe und Unterstützung auswirken: Wenn das menschliche Gehirn soziale Nähe als eine Grundbedingung versteht, dann müssen wir als Erstes neu über unser Verständnis von Emotionsregulierung als soziales Phänomen nachdenken. Die neuronalen Mechanismen der Selbstregulierung sind ja zunehmend besser dokumentiert und schließen bekanntlich ein hohes Maß an Aktivierung des präfrontalen Cortex ein. Im Gegensatz dazu sind die neuronalen Mechanismen der Regulierung sozialer Emotionen noch relativ unbekannt. Eines wissen wir in diesem Zusammenhang aber doch – nämlich dass die Regulierung sozialer Emotionen den präfrontalen Cortex mit ziemlicher Sicherheit nicht aktiviert. Das mag daran liegen, dass die Regulierung sozialer Emotionen nicht zur Blockierung einer aktiven emotionalen Reaktion führt, wie dies bei der Selbstregulierung der Fall ist (James Gross, persönliche Mitteilung, Februar 2011). Die sozial-emotionale Regulierung kann vielmehr eine Rückkehr zum oben konstatierten Ausgangszustand des Gehirns mit sich bringen, was bedeutet, dass emotionale Reaktionen nicht so sehr blockiert als vielmehr unnötig werden. Mit anderen Worten, die sozialen Ressourcen werden wohl kaum hemmende Schaltkreise beispielsweise im gesamten präfrontalen Cortex aktivieren, da sie ja eher dazu tendieren, die Wahrnehmung situativer Anforderungen zu verändern, so dass es nicht in erster Linie zur Aktivierung emotionaler Reaktionen kommt (vgl. Coan et al. 2006; Eisenberger et al. 2007). Ein isolierter Mensch findet sich in einer einmalig gefährlichen Lage, und das hat zur Folge, dass mehr neuronale Ressourcen auf Vigilität und andere überlebensrelevante Prozesse verwendet werden müssen. Das bedeutet wahrscheinlich, dass Menschen in der Isolation vergleichsweise rascher und intensiver auf bedrohliche Stimuli reagieren. All das spricht dafür, dass die regulierende Wirkung sozialer Nähe in den Wahrnehmungssystemen verwurzelt sein muss – insbesondere denjenigen, die unkonditioniert (außerhalb des Lernens) auf soziale Stichworte regieren. Menschen nehmen Intentionalität und biologische Bewegungen sehr rasch und wahrscheinlich unkonditioniert wahr. Diese perzeptuellen Fähigkeiten sind vermutlich an ganz bestimmte eigene Schaltkreise (z. B. an den Sulcus temporalis superior und das fusiforme »Gesichtsfeld«; Pelphrey & Morris 2006) gebunden und bewirken ein »Feedforward«, eine Vorwärtsmeldung, an die evaluativen und repräsentationalen Systeme wie die Amygdala, die Basalganglien, den insulären und den cingulären Cortex und den präfrontalen Cortex. Zu den möglichen Kandidaten für die Umwandlung sozialer Signale hin zur Alarmreduzierung zählen das Neuropeptid Oxytocin, die endogenen Opioide und die mit Belohnungen verbundene dopaminerge Aktivität (Coan 2008). Eine Fülle von Tier- und Humanstudien hat das Oxytocin als jenen Kitt identifiziert, der soziale Beziehungen festigt. Oxytocin wird durch soziale Kontakte oder durch das Potential für soziale Kontakte ausgeschüttet und fördert die Entstehung und Beibehaltung sozialer Bindungen (Insel & Fernald 2004; Taylor 2006). Wichtig ist: Oxytocin vermittelt – als Konsequenz des Vorhandenseins sozialer Kontakte – auch die Stressreaktion (Taylor & Master 2011). In einer Magnetresonanz-Studie zur BOLD2-Reaktion der Amygdala auf negative Reize zeigten diejenigen Teilnehmer, denen ein Oxytocin-Nasenspray verabreicht worden war, eine signifikant reduzierte Aktivierung, verglichen mit Teilnehmern, die ein Placebo-Spray erhalten hatten (Kirsch et al. 2005). Die Amygdala hat teil an der auf Bedrohungen ausgerichteten Vigilität, was es nahelegt, dass diejenigen Probanden, die unter dem Einfluss des Oxytocins standen, sich beim Betrachten unerfreulicher Bilder weniger bedroht fühlten. Das heißt also, eine Person, die enge Nähe zu ihren sozialen Ressourcen wahrt, wird ihre Oxytocinkonzentration wahrscheinlich erhöhen und in der Folge ihre Wahrnehmung von Bedrohungen in der Umgebung reduzieren. Endogene Opioide werden in Reaktion auf positive Interaktionen mit anderen ebenfalls unkonditioniert ausgeschüttet (Panksepp 1998; Panksepp et al. 1994) und könnten im Zusammenwirken mit Oxytocin eine Rolle bei der Abschwächung der Bedrohungsreaktion des Gehirns spielen. Der dorsale anteriore cinguläre Cortex (dACC) beherbergt bekanntlich eine große Dichte endogener Opioidrezeptoren und wird von Eisenberger und Kollegen als Indikator des Zusammen hangs zwischen sozialen Ressourcen und Bedrohungsreaktionen ins Spiel gebracht (Eisenberger et al. 2007): Ihrer Studie zufolge zeigten diejenigen Probanden, die nach ihren eigenen Worten täglich erhebliche mitmenschliche Unterstützung erfuhren, in Reaktion auf Bedrohungen entsprechend ein niedrigeres Aktivierungsniveau im dACC. Darüber hinaus ist gezeigt worden, dass der dACC nach wiederholter Exposition gegenüber solchen Opioiden unter Umständen weniger stark auf Bedrohungen reagiert (Eisenberger et al. 2007; Harris et al. 2007). Von anderer Seite ist der Gedanke vorgetragen worden, dass die mit Belohnungen verbundene dopaminerge Aktivität in Kombination mit der unkonditioniert verstärkenden Natur sozialer Kontakte bei »Vorhandensein« solcher Ressourcen, also anderer Menschen, negative Affekte blockieren kann (Depue & Morrone-Strupinsky 2005; Younger et al. 2010). Das klingt plausibel, vor allem weil Oxytocin die dopaminerge Aktivität in den Basalganglien zu verstärken vermag (Coan 2008). Allerdings sind weitere Forschungen nötig, um einschätzen zu können, ob die dopaminerge Aktivität wirklich als Mechanismus mitmenschlicher Unterstützung fungieren kann und nicht nur ein allgemeines Korrelat in diesem Zusammenhang darstellt. Fazit Das menschliche Gehirn ist offensichtlich fähig, die Wahrnehmung sozialer Nähe zu nutzen, um analog dem Bayes’schen Theorem darüber zu befinden, wie viel von seinen eigenen Ressourcen es für die Reaktion auf potentiell »herausfordernde« Umgebungen verwenden will. Zu den möglichen Mechanismen dieser Fähigkeit dürften die Aktivität von Neuropeptiden wie des Oxytocin und von Neurotransmittern wie des Dopamin sowie die Aktivität der endogenen Opioide zählen. Man kann sagen, dass die Menschen ihre Emotionen und ihre Bemühungen um die emotionale Regulierung durch diesen Prozess auf ihre sozialen Netzwerke »auslagern«. Unserer Ansicht nach haben diese Vorgänge damit zu tun, dass die primäre Adaptation des menschlichen Gehirns die Adaptation an andere Menschen ist, dass also andere Menschen die Grundsituation bzw. Grundannahme des menschlichen Gehirns darstellen. So gesehen ist es die Bewegung weg von dieser Grundannahme, die eine erhöhte Sensibilität und Reaktivität gegenüber wahrgenommenen Bedrohungen in der Umgebung zur Folge hat, und in ebendiesem Sinne führt soziale Nähe zur »emotionalen Regulierung«. Soziale Nähe wird also an erster Stelle einer notwendigen Aktivierung von Emotionen zuvorkommen, anstatt dem Individuum die Aktivierung eines regulierenden Schaltkreises (wie bei der Selbstregulierung) aufzunötigen. Wir sprechen im Zusammenhang mit dieser Sicht der Dinge vom »Social Baseline«-Modell, das seinerseits Teil der umfassenderen »Social Baseline«Theorie (Coan 2010) ist. Ein sozial, also auf die Mitmenschen orientiertes Gehirn ist nicht nur in energetischer Hinsicht von Vorteil; es hat zudem eine glückliche und dabei nicht etwa beabsichtigte Folge: Enge und befriedigende Beziehungen sind das Allerbeste im Leben; nichts betrachten die Menschen als für ihr mentales und physisches Wohlergehen wichtiger und maßgeblicher als ihre engen Beziehungen zu anderen Menschen (vgl. Berscheid & Reis 1998). Anmerkungen 1 Thomas Bayes, englischer Mathematiker (1702 – 61), entwickelte eine Formel für das Rechnen mit bedingten Wahrscheinlichkeiten, das sogenannte Bayes-Theorem. 2 BOLD steht für »blood oxygen level dependency«, d. h. für die in der Magnetresonanztomographie festgestellte Abhängigkeit des Bildsignals vom Sauerstoffgehalt in den roten Blutkörperchen. Literatur Baumeister, R. F., Sparks, E. A., Stillman, T. F. & Vohs, K. D. (2008): Free will in consumer behavior: Self-control, ego depletion, and choice. Journal of Consumer Psychology, 18, S. 4 – 13. Beauchaine, T. P., Gatzke-Kopp, L. & Mead, H. K. (2007): Polyvagal theory and developmental psychopathology: Emotion dysregulation and conduct problems from preschool to adolescence. Biological Psychology, 74, S. 174 – 84. Berreman, G. D. (1978): Scale and social relations. Current Anthropology, 19, S. 225 – 245. Berscheid, E. & Reis, H. T. (1998): Attraction and close relationships. In: D. T. Gilbert, S. T. Fiske & G. Lindzey (Hrsg.), The handbook of social psychology (4. Aufl.). New York (McGraw-Hill), S. 193 – 281. Buckner, J. C., Mezzacappa, E. & Beardslee, W. R. (2009): Self-regulation and its relations to adaptive functioning in low-income youths. American Journal of Orthopsychiatry, 79, S. 19 – 30. Coan, J. A. (2008): Toward a neuroscience of attachment. In: J. Cassidy & P. R. Shaver (Hrsg.), Handbook of attachment: Theory, research, and clinical applications (2. Aufl.). New York (Guilford Press), S. 241 – 265.

Das vorliegende Buch fasst verschiedene Beiträge aus den Bereichen Forschung, Klinik und Prävention zusammen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema Bindung – Paare, Sexualität und Kinder beschäftigen. Es werden sowohl Ergebnisse aus der Grundlagenforschung als auch solche aus der empirischen Forschung, die in Längsschnittstudien zur Prävention mit Paaren gewonnen wurden, dargestellt; zudem werden Erfahrungen aus der klinischen Arbeit beschrieben und anhand von Fallbeispielen veranschaulicht, um die therapeutischen Möglichkeiten und Voraussetzungen für die Arbeit mit Paaren wie auch mit Kindern, die Zeuge oder Opfer von Gewalt in Paarbeziehungen geworden sind, aufzuzeigen. Hans Jellouschek beschreibt sehr feinfühlig den Unterschied zwischen Partnerschaft und Partnerliebe und zeigt deutlich auf, welchen Einfluss die Liebe zwischen den Eltern speziell auf die langfristige Beziehungsfähigkeit von Paaren hat und wie hierdurch die Entwicklung und das Erleben der Kinder langfristig positiv beeinflusst werden. Karen Hasselmo, James A. Coan und Lane Beckes haben eine neue Theorie für die Regulierung von Emotionen in sozialen Beziehungen entwickelt, die für das Verständnis von Bindungserfahrungen zwischen Paaren von Bedeutung ist. Die Ergebnisse ihrer Grundlagenforschung zeigen sehr deutlich, dass Menschen wahrscheinlich von Grund auf soziale Nähe erwarten und diese auch zur Unterstützung in stressvollen Situationen erfolgreich nutzen, weil sie hierdurch die Möglichkeit haben, Stress, Schmerzen und Angst weniger intensiv zu erleben. Viele Paare wünschen sich eine langfristige Beziehung, aber nur wenigen gelingt dies. Julia Berkic und Julia Quehenberger berichten von ihrer Studie über bindungsspezifische Marker der Emotionsregulation, die sie bei Langzeit-Ehepaaren finden konnten. Ihre Untersuchungen helfen zu verstehen, was Paare über viele Jahre zusammenhält und wie diese sich wechselseitig emotional positiv beeinflussen. Kirsten von Sydow diskutiert Forschungsergebnisse über die verschiedenen Bindungsmuster, die sich bei Paaren finden, und den unterschiedlichen Einfluss dieser Bindungsmuster auf die Zufriedenheit und die Sexualität in Paarbeziehungen. An Fallbeispielen erläutert sie die Implikationen für die Paar- und Einzeltherapie. Kate White macht an mehreren Beispielen aus der Therapie sehr eindrücklich verständlich, wie sehr frühe Bindungserfahrungen sowie das Erleben von Sexualität und Partnerschaft miteinander verknüpft sind und wie im klinischen Bereich hiermit bindungsorientiert gearbeitet werden kann. Problematische Partnerschaften haben einen immensen Einfluss auf das elterliche Erziehungsverhalten, wie Antonia Bifulco in ihrem Beitrag zeigt. Aus dieser bindungstheoretischen Perspektive wird auch die Weitergabe von transgenerationalen Risiken und Traumatisierungen von Elternpaaren auf ihre Kinder verständlich. Bisher gab es kaum Präventionsprogramm, die gezielt die Paarebene unterstützt haben, um die Entwicklung, besonders auch die sichere Bindung von Kindern zu ihren Eltern, zu fördern. Phil und Carolyn Pape Cowan berichten aus ihrem langjährigen Interventionsprogramm mit Paaren. Sie konnten zeigen, dass die Bindungserfahrungen der Erwachsenen sehr deutlich die Qualität der Paarbeziehung bestimmen und hieraus auch Schlüsse für die Entwicklung des Kindes gezogen werden können. Ihr familiensystemisches Modell hat große Bedeu tung für die beziehungs- und bindungsorientierten Interventionen. Sie konnten durch eine präventive Verbesserung der Beziehungsqualität auf der Paarebene die Zufriedenheit der Eltern mit ihrer Partnerschaft verbessern. Dies hatte auch langfristig positive Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung der Kinder dieser Paare. Die Studie von Judith A. Crowell gibt Hinweise, wie frühe Schädigungen die Bindungsrepräsentationen der Erwachsenen und damit auch die Art und Weise der Gestaltung der späteren Partnerschaft beeinflussen können. Egon Garstick berichtet aus seiner klinischen Arbeit mit Eltern, insbesondere auch Vätern, die über die Elternschaft in Identitätskrisen geraten sind und hierbei psychotherapeutische Hilfestellungen in Anspruch nehmen. Garstick zeigt auf, wie durch frühe Interventionen auf der Paarebene schwere Störungen in der Eltern-Kind-Beziehung relativ rasch auf einen besseren, die Entwicklung fördernden Weg gebracht werden können. Der Verlust eines Kindes ist für die Paarbeziehung immer eine traumatische und höchst belastende Erfahrung, die die Paardynamik über viele Jahre beeinflussen kann. Roland Kachler hat ein neues Behandlungsmodell entwickelt, das sehr bindungsorientiert mit den Trauerprozessen der Eltern umgeht und diesen hilft, langfristig eine positive Repräsentation des verlorenen Kindes zu bewahren. Susan Golombok berichtet aus ihren Forschungen zu den vielen verschiedenen neuen Familienformen, die weit über die traditionelle Paarbeziehung hinausgehen. Auch diese Familienformen haben einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Neben den neuen Formen der Partnerschaft und des Zusammenlebens widmet sich Golombok besonders der Bedeutung von Adoptio nen. Spiralen der Gewalt in Paarbeziehungen, die über Jahre eskalieren, stellen in psychotherapeutischen Behandlungen eine große Problematik dar. Nicht selten kommt es zu destruktiv-aggressiven Verhaltensweisen zwischen den Partnern, wie häusliche Gewalt, die beide sowohl als Täter wie auch als Opfer erscheinen lassen. Jochen Peichl stellt ein Modell vor, wie destruktive Paarbeziehungen besser verstanden werden können, und zeigt, wie auf diesem Hintergrund therapeutische Prozesse besser gelingen können. Es ist immer wieder auffällig, welch starke Bindung zwischen Opfer und Täter besteht, so auch bei destruktiven Paarbeziehungen. Michaela Huber analysiert, wie diese pathologischen Bindungen entstehen, wie sie aufrechterhalten werden und welche Möglichkeiten es gibt, aus diesen destruktiven Bindungen auszusteigen und sie auch zu verarbeiten. Abschließend berichtet Karl Heinz Brisch an verschiedenen Beispielen, wie Gewalt in der Paarbeziehung Kinder traumatisiert, wenn sie Zeuge dieser Art des Streits zwischen den Eltern werden. Wenn Kinder eine solche Gewalt miterleben, hat dies großen Einfluss auf die Art ihrer psychotherapeutischen Behandlung. An verschiedenen Konstellationen wird verdeutlicht, wie die Voraussetzungen für eine Psychotherapie gestalten werden müssen und wie trotz der Verstrickungen zwischen den Paaren und ihren Kinder eine erfolgreiche Therapie – auf Basis dieser Voraussetzungen – möglich ist. Alle Beiträge vermitteln zusammen einen umfassenden Überblick darüber, welchen positiven Einfluss liebevolle elterliche Paarbeziehungen auf die Entwicklung von Kindern haben können und wie destruktive Gewalt in der Paarbeziehung sich langfristig auch auf die Entwicklung von Kindern negativ auswirken und frühe Störungen bedingen kann. Auf dem Boden der Grundlagenforschung wird verständlich, wie gesunde, aber auch destruktive Paarbeziehungen entstehen, wie sie sich langfristig entwickeln, welche Möglichkeiten zur Therapie für die Paare, aber auch für die Kinder bestehen und unter welchen Bedingungen erfolgreiche Behandlungen möglich sind. Auf dem Hintergrund dieser Erkenntnisse werden modellhaft neue Wege der psychotherapeutischen Behandlung, sowohl für Paare als auch für ihre Kinder, aber auch Möglichkeiten der frühen Intervention und Prävention aufgezeigt. HANS JELLOUSCHEK Die Bedeutung der Partner-Liebe für das Eltern-SeinWas ist und worin besteht Partner-Liebe? Partner-Liebe ist eine Beziehungsform, die sich von allen anderen Beziehungsformen unterscheidet: Sie unterscheidet sich von der Partner-schaft, denn diese gehorcht der Handlungslogik der Gerechtigkeit: Ich gebe dir – und bekomme dadurch einen Anspruch darauf, dass du mir ›wiedergibst‹, Gleichwertiges zurückgibst. Demgegenüber gehorcht die Partner-Liebe der Handlungslogik der Hingabe: Ich gebe dir, weil ich dich liebe! Der Liebende erwirbt durch seine Liebe keinen Anspruch darauf, dass der andere ihn ›wiederliebt‹. Liebe kann keine Schuldscheine ausstellen, Liebe ist ein Geschenk. Man kann darum die Liebe des anderen nicht »einklagen«. Freilich bleibt der Liebende – jedenfalls auf die Dauer – darauf angewiesen, dass der andere seine Liebe erwidert, sonst wird es eine unglückliche, unerfüllte Liebe, weil Partner-Liebe einseitig nicht wirklich möglich ist. Oder es wird eine Art Eltern-Liebe daraus, wie die Liebe der Mutter oder des Vaters zum Kind. Denn die Elternliebe ist vom Wesen her insofern eine einseitige Liebe, als das Kind von seiner Entwicklung her noch gar keine gleichwertige Liebe ›wieder-geben‹ kann. Die Liebe der Eltern zum Kind ist keine Liebe auf der gleichen Ebene wie die Liebe zwischen zwei erwachsenen Partnern. Diese lebt von der Hingabe der Frau an den Mann und des Mannes an die Frau, und sie lebt von der Verbundenheit und Intimität zwischen den beiden, die daraus erwächst: Sie sind gern zusammen, sie tauschen sich aus, sie können sich »riechen« – im übertragenen und durchaus auch im wörtlichen Sinn! Diese Liebe hat also auch eine typische körperliche Komponente: Die beiden sind sich gern auch körperlich nahe, haben darum auch Sexualität miteinander. In der Partner-Liebe sind Mann und Frau seelisch und körperlich miteinander verbunden. Das ist die typische Form der Intimität, welche die Partner-Liebe von jeder anderen Beziehungsform, sowohl von einer lediglich partnerschaftlichen wie der fürsorglichen der Eltern-Kind-Liebe als auch von einer nur freundschaftlichen Beziehung, unterscheidet. Natürlich sind in der PartnerLiebe von all diesen Formen auch Elemente enthalten, vor allem in einer auch auf Dauer angelegten Mann-Frau-Beziehung. Wenn z. B. ein Partner dauerhaft erkrankt und der andere sein Pfleger wird, wird – wie in jeder »Pflege-Beziehung« – auch die Partnerbeziehung zu einer Art Eltern-Kind-Beziehung. Und im gewöhnlichen Alltag, den es miteinander zu bewältigen gibt, spielt das Vorhandensein väterlicher/mütterlicher Elemente der Partner wie natürlich auch eine partnerschaftlich gerechte Aufgabenverteilung zwischen den beiden eine ganz wichtige Rolle. Aber der entscheidende Unterschied, der die Liebesbeziehung ausmacht, sollte dennoch nicht vergessen, sondern immer wieder auch zwischen Paaren gepflegt werden, damit sie lebendig bleibt. Dies geschieht in der Regel viel zu wenig. Ein wichtiger Grund dafür ist: Der Partner-Liebe wurde in früheren Generationen innerhalb einer Ehe wenig Bedeutung beigemessen. Wichtiger war die Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau damals für Nachwuchs und als Wirtschaftsgemeinschaft für das gemeinsame Überleben. Heute erleben wir eher das Gegenteil: Da wird der lebendigen Liebe höchste Bedeutung beigemessen, andere Faktoren spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Wenn die Liebe tot ist, ist eine Ehe akut gefährdet. Darum müssen wir sagen: Die Wahrscheinlichkeit, dass Ehen und damit auch Familien stabil bleiben, erhöht sich, wenn auch die Partner-Liebe stabil bleibt. Das kommt nicht nur den Erwachsenen zugute, sondern vor allem auch den gemeinsamen Kindern. Darauf gehe ich nun im zweiten und dritten Abschnitt dieses Beitrags ein. Welche Bedeutung hat die Partner-Liebe für Elternschaft und Kinder? Zur Bedeutung der Partner-Liebe für Elternschaft und Kinder möchte ich die folgenden sechs Thesen aufstellen und jeweils erläutern: These 1: Die Partner-Liebe fördert den Bestand der Ehe und gibt dadurch auch den Kindern Bindungssicherheit. In der heutigen gesellschaftlichen Situation, in der Paare sich zusammentun, wird immer deutlicher, dass die Partner-Liebe tatsächlich immer ausschließlicher das Einzige ist, das dem Zusammenbleiben von Partnern Bestand verleiht. In früheren Generationen haben viele andere mächtige Faktoren dafür gesorgt, dass Paare, die einander das Ja-Wort gegeben hatten, die einen gemeinsamen Haushalt aufbauten und gemeinsame Kinder aufzogen, beisammen geblieben sind: Im ländlichen Betrieb war dies eine Frage des wirtschaftlichen Überlebens, in adligen Familien war es wichtig für den Bestand des Geschlechts. Die kirchliche Ehe-Ideologie, vor allem die katholische, sprach ein Bannwort über die Scheidungs-Willigen, und dementsprechend war der Druck durch eigene Eltern, Verwandte und Gemeinden auf Paare, die sich trennen wollten, riesengroß, auch dann noch, als staatliche Gesetze die Möglichkeit zu rechtskräftigen Scheidungen eröffneten. Diese Einflüsse wirtschaftlicher, ideologischer und gesellschaftlicher Art gibt es natürlich auch heute noch in unterschiedlicher Stärke. Aber entscheidend sind sie immer weniger. Das Einzige, das auch heute noch eine Ehe – und damit auch eine Familie – zusammenhält, ist die lebendig erfahrene Liebe zwischen den beiden Partnern. Eine solche Stabilität aus Liebe ist aber eine sehr günstige Voraussetzung für die Erfahrung einer sicheren Bindung der Kinder an Mutter und Vater – vor allem, wenn die Kinder noch klein sind. Die Bedeutung dieser Erfahrung hat ja die Säuglingsforschung schon lange als zentral für ein gutes Aufwachsen der Kinder erkannt, und diese Erkenntnis wird heute auch von der Neurobiologie in vielfältiger Weise bestätigt. Die Trennung der Eltern bedeutet für die Kinder, jedenfalls zunächst, immer einen Bindungsverlust. Ein Elternteil ist plötzlich nicht mehr da. Auch dann, wenn es den Eltern gelingt, gut und fair mit dieser Trennung umzugehen, was ja sehr häufig nicht der Fall ist, werden Kinder in ihrer Bindungssicherheit irritiert, verunsichert, durcheinandergebracht. Und vor allem, wenn die getrennten Eltern einander weiterhin grollen, geraten die Kinder in Solidaritätskonflikte, verlieren die Bindung zu einem Elternteil, weil sie vom andern zum Bündnispartner gemacht und gegen den anderen aufgehetzt werden usw. Dabei möchte ich betonen, dass es einen großen Unterschied macht, ob Eltern, die zusammenbleiben, dies aus Pflichtgefühl, wegen der Kinder oder aufgrund der Liebe des einen zum anderen tun. Ich höre in der Therapie von Klien ten immer wieder, dass ein Zusammenbleiben ihrer Eltern »aus Pflichtgefühl« für sie als Kinder eine riesige Belastung war; denn sie spürten es ganz deutlich, auch wenn sie noch sehr klein waren, wenn nicht Liebe und Wohlwollen zueinander, sondern sie selbst der – womöglich einzige – Grund für das Zusammenbleiben waren. Das ist für Kinder nur belastend, eine Last, unter der sie manchmal ein ganzes Leben lang leiden. These 2: Die Partner-Liebe stärkt die Eltern in ihrer Eltern-Funktion. Wenn sie in Liebe verbunden sind, werden sie sich auch gegenseitig unterstützen. Dies fördert auch eine partnerschaftlich gerechte Aufgabenverteilung sowie ganz generell ihre Kooperationsbereitschaft, und dies besonders auch bei der Bewältigung von Stress-Situationen. Die Partner werden bereit, auch im emotionalen und zeitlichen Stress, den Kinder ja immer auch mit verursachen, einander wechselseitig zu entlasten, und so tragen sie zur gemeinsamen Stressreduktion bei. Dies schafft zudem Erfolgserlebnisse, und diese wiederum beleben die Achtung und Liebe der Partner füreinander (»Wir sind ein tüchtiges, ein starkes Paar!«). Damit ist auch gesagt: Die lebendige Liebe der Partner fördert die Präsenz des Mannes in der Familie. Er ist dann gern zu Hause, und das erhöht seine Ansprechbarkeit für die Kinder. Die Bedeutung, die diesem »Dritten« in der familiären Triade für das Kind zukommt, ist uns in den letzten Jahren ebenfalls sehr stark bewusst geworden: Der Vater bringt in der Regel gegenüber der Mutter andere wichtige Elemente in die Erziehung ein: das größere Interesse am Technischen, die stärkere Betonung des Wettkampfs und Wettbewerbs im Spiel und Ähnliches sind neben anderen Elementen, die im Durchschnitt stärker von den Müttern vertreten werden, ebenfalls wichtige »Steine« im »Mosaik« der ganzheitlichen kindlichen Reifung. Vor allem für die männlichen Kinder ist es von großer Bedeutung, dass sie im Vater eine präsente Identifikationsfigur ihres eigenen Geschlechts finden, die ihnen Orientierung gibt und den Rücken stärkt in ihrer oft vom Weiblichen überdominierten »Kinder-Welt«. Das Fehlen dieser Orientierung und »Rückenstärkung« durch präsente Väter wird von vielen Pädagogen auch als eine wichtige Ursache für das gegenüber den Mädchen viel häufigere schulische Versagen der Jungen gewertet, für die größere Zahl der Verhaltensauffälligkeiten und Kriminalitätsfälle bei ihnen wie auch die stärkere Gefährdung der männlichen Jugendlichen durch Drogen. Aber auch für die Identitätsfindung der Mädchen scheint die Präsenz des Vaters in der Familie von großer Bedeutung zu sein: In ihm erleben sie ja die erste wichtige Beziehung zu einem Mann und damit ihrerseits ihr Anders-Sein ihm gegenüber. Der Vater und Mann bleibt für sie nicht die ferne Sehnsuchtsfigur am Horizont, sondern wird erlebte Realität, was sich vor allem später in einer realistischen Beziehung zum Partner als sehr nützlich erweist. These 3: Die Partner-Liebe kompensiert Unterschiedlichkeiten und Meinungsdifferenzen der Eltern im Hinblick auf die Kinder. Eltern müssen im Umgang mit ihren Kindern nicht immer gleich und einer Meinung sein. Dies kann sich sogar als schädlich erweisen, vor allem dann, wenn sie sich auf der Paar-Ebene nicht lebendig lieben. Kinder erleben das als Doppelbödigkeit, und das verwirrt sie eher. Wenn eine grundlegende gegenseitige Akzeptanz der Eltern auf der PaarEbene vorhanden ist, können Unterschiede im Umgang mit den Kindern, sogar wenn diese in Anwesenheit der Kinder ausdiskutiert werden, sogar gut für die eigene Autonomie-Entwicklung der Kinder sein. Sie erfahren: Beim einen geht es so, beim andern eben anders. Man kann es so, man kann es aber auch anders machen. Also kann man auch für sich selber ausprobieren und entscheiden, was für einen besser ist! Damit will ich natürlich nicht verneinen, dass eine Übereinstimmung der Eltern in Grundsatzfragen der Erziehung wichtig ist. Aber Übereinstimmung muss nicht in allen Einzelfragen bestehen. Eine immer wieder erfahrene einheitliche »Eltern-Phalanx« in allem und jedem kann für Kinder sogar eine schlimme Erfahrung von Ohnmacht bedeuten. These 4: Eine lebendige Partner-Liebe der Eltern ist ein gutes Lernmodell für die Kinder im Hinblick auf spätere eigene Partnerbeziehungen. Wie Vater und Mutter miteinander umgehen, ist für Kinder das grundlegende Modell, wie ein Mann mit einer Frau und eine Frau mit einem Mann umgeht. Wenn dies in einer liebevollen Weise geschieht, machen sie die zentrale Erfahrung: »Liebe ist möglich« – auch über längere Zeit, auch »auf Dauer«. Dies wird auf diese Weise eine Art Grundüberzeugung, trotz aller Konflikte, die Kinder bei ihren Eltern vielleicht auch erlebt haben. Aber: Sie haben wieder den Weg zueinander gefunden! Meine Erfahrung als Paartherapeut ist hier: Kinder aus Familien, in denen die Liebe zwischen den Eltern tot war, sind, vor allem wenn noch eine Scheidung mit »Rosenkriegen« dazukam, in ihrem eigenen Erwachsenenleben oft überängstlich, eigene verbindliche Beziehungen einzugehen, oder aber sie versuchen, sich bei jedem Konflikt mit dem Partner ängstlich an diesen anzuklammern und erzeugen gerade damit ein Konfliktmuster, das den Bestand der Ehe gefährden kann. These 5: Die Partner-Liebe schützt die Kinder vor einer Überfürsorglichkeit der Eltern. Der Grund für diese These ist: Die Partner-Liebe fördert das Bedürfnis der Partner, öfter auch als Paar beieinander und miteinander zu sein, und stärkt darum ihren Willen, auch ab und zu etwas allein, ohne die Kinder, zu unternehmen oder auch einen Bereich in der gemeinsamen Wohnung zu schaffen, der für die Kinder, jedenfalls zu bestimmten Zeiten, »tabu« ist. Wenn dies nicht der Fall ist, konzentrieren sich Hauptinteresse und Energie der Eltern auf die Kinder – in Form von Überfürsorglichkeit. Dadurch aber werden diese zu wichtig. Oft werden sie dadurch zu echten »Familien-Tyrannen«, die die Eltern auch nach Strich und Faden manipulieren, oder sie werden nie erwachsen, bleiben ihr ganzes Leben Kinder, die dauernd Ansprüche an den anderen haben, und sind damit eine furchtbare Belastung für ihre Beziehungspartner. Oft begegne ich dieser Überfürsorglichkeit auch in einseitiger Form: Beispielsweise ›über-versorgt‹ die Mutter die Kinder, während der Vater immer mehr zum »Ausgeschlossenen« wird und sich auch selber immer mehr dazu macht, indem er zu Hause immer weniger präsent ist. Dadurch entsteht eine übermäßige Bindung der Kinder an die Mutter. Wenn diese sich zu einem anderen Zeitpunkt wieder mehr ihrem Mann zuwenden will, wittert eines der Kinder »diese Gefahr« und entwickelt womöglich irgendwelche Symptome, deretwegen die Mutter jetzt erst recht wieder »für das Kind da sein muss«. Dabei beklagt sie sich zudem dann oft darüber, dass sie so wenig Unterstützung von ihrem Mann bekommt. So entstehen beispielsweise die typischen »Muttersöhne« unter den Männern. Was ich sage, ist in dieser Form vielleicht etwas überpointiert. Es gibt natürlich Familiensituationen, in denen die Kinder (oder das Kind) mit Recht im Mittelpunkt stehen, z. B. in der späten Schwangerschaft und kurz nach der Geburt, wenn die Frau noch stillt. Dann stehen das Kind und dessen Bindung an die Mutter mit Recht im Vordergrund. Oder auch in Zeiten, in denen ein Kind schwerer erkrankt ist oder andere akute Probleme hat. Dann muss für einige Zeit die Elternebene gegenüber der Paar-Ebene Vorrang haben. Auch wenn einer der Partner eine übermäßige Stress-Situation im Beruf erlebt, kann es mit der Pflege der Paarbeziehung sehr schwierig werden. Paare müssen allerdings darauf achten, dass sich solche Zustände nicht »chronifizieren«, wie das in zahlreichen Familien zu beobachten ist. These 6: Die Partner-Liebe fördert eine gelingende Ablösung der Kinder von den Eltern. Mit dem Vorausgehenden ist dies implizit schon gesagt. Denn Eltern, die auch ein Liebespaar sind und bleiben, geben die Kinder frei für ihr eigenes beginnendes Erwachsenenleben. Das heißt natürlich nicht, dass pubertierende Jugendliche, junge oder auch schon lange »flügge gewordene« Erwachsene nicht noch öfter oder manchmal dringend ihre Eltern als Eltern »brauchten«. Aber das Entscheidende ist: Sie fühlen sich nicht als Kinder von den Eltern festgehalten oder ihnen gegenüber »verpflichtet«. Wenn das Gegenteil geschieht, wenn beide Eltern oder auch ein Elternteil sich zu viel um die Kinder kümmert, wird – wie Systemische Therapeuten sagen – die »Generationen-Grenze« zwischen Eltern und Kindern verwischt oder verletzt. Kinder, die nicht mit dem Wohlwollen der Eltern in ein eigenes Erwachsenen-Dasein entlassen werden, kommen im Familiensystem in eine »falsche Position«. Sie werden Eltern-Kinder, pendeln als überforderte Helfer oder auch »Manipulierer« zwischen den Eltern hin und her; oder sie werden durch Bindung an einen Elternteil Muttersöhne oder Vatertöchter, die ein Leben lang an Mutter oder Vater gebunden bleiben, was zur Störung oder sogar zum Scheitern eigener Paarbeziehungen führt, weil solche Erwachsenen nicht frei sind für eigene Beziehungen. Darum ist eine lebendige und immer wieder verlebendigte Liebe zwischen den Eltern als Paar auch für die Elternschaft von großer Bedeutung. Was dazu erforderlich ist, vor allem in Beziehungen, die auf Dauer angelegt, also darauf angelegt sind, diese Liebe immer wieder zu beleben, darauf kommen wir im folgenden, dritten Teil zu sprechen. Was braucht die Partner-Liebe, damit sie erhalten bleibt und sich sogar vertieft? Klar ist, dass im Leben eines Paares die Familienphase, die ja meist nicht nur mit der Kindererziehung, sondern auch mit Existenzaufbau, Bewährung im Beruf, Investitionen in Wohnungskauf oder Hausbau und dergleichen verbunden ist, eine Zeit mit sehr großem Stress darstellt. Und klar ist auch, dass man Liebe nicht »machen« kann. Wenn nie Liebe da war, kann ich auch keine »machen«. Aber man kann Bedingungen schaffen und erhalten, die für das Bestehenbleiben und die Verlebendigung der Liebe wichtig sind. Was bedeutet dies nun konkret? Es bedeutet z. B.: verbindlich geplante Zeiten und Orte für die Zweisamkeit, für das persönliche Gespräch, für die Pflege gemeinsamer Interessen, für Unternehmungen zu zweit. Diese Gelegenheiten ergeben sich nicht »von selbst«, sie müssen bewusst geschaffen, geplant, vereinbart, durchgeführt werden. So simpel dies klingt, es scheint mir eine der wesentlichen Bedingungen dafür zu sein, dass die Liebe im Stress oder auch in der Gewöhnung des Alltags nicht untergeht. Und es sind Energie und Initiative von beiden Partnern erforderlich, damit solche Zeiten zustande kommen. Sie ergeben sich, wie gesagt, nicht oder nur selten »von selbst«. Dies gilt – für manche sehr überraschend – auch für die Pflege gemeinsamer Sexualität. Je länger man mit dem Partner zusammen ist, desto weniger treibt es einen »von selber« zum anderen, um »Sex zu machen«. Das ist eine natürliche Entwicklung, und darum ist darauf zu achten, dass man weiterhin diesen Bereich der auch körperlichen Intimität bewusst pflegt und gestaltet. Und dazu gehören auch geschützte Zeiten und Orte, an denen und in denen die Wahrscheinlichkeit einer Störung von außen weitgehend reduziert ist. Der Schwung der Verliebtheit hat früher wie von selber dafür gesorgt, dass Verliebte solche Räume und Zeiten geschaffen haben. In der Dauerbeziehung sind der bewusste Entschluss dazu und die bewusste Sorge beider dafür nötig. Viele Paare unterliegen hier einer »Spontaneitäts-Ideologie« – sehr zum Schaden einer realistischen Liebesbeziehung! Damit für das Paar solche Räume für Gespräch, Unternehmungen, Pflege gemeinsamer Interessen und Sexualität immer wieder verwirklicht werden, müssen Paare unter Umständen für Hilfen von außen sorgen, vor allem, wenn sie noch kleinere Kinder und/oder anspruchsvolle Berufe haben. Natürlich sind die Möglichkeiten dazu in unserer deutschen Gesellschaft sehr vernachlässigt worden, und wir stehen hier, verglichen mit anderen Staaten, noch ganz am Anfang. Aber ich erlebe oft auch, dass sich Paare solche Unterstützung nicht verschaffen, obwohl es Möglichkeiten gäbe – aus den unterschiedlichsten Motiven heraus: Sie wollen den Kindern keine »Fremden« als Babysitter zumuten, sie wollen das Geld nicht dafür ausgeben, obwohl es hier vielleicht besser angelegt wäre als in einem Hausbau zu diesem Zeitpunkt, sie wollen ihre Eltern, auch wenn diese es gern täten, dafür nicht in Anspruch nehmen, sie wollen »keine Fremden« für die Erledigung des Haushalts in ihre Privatsphäre lassen oder sie können sich aus einem übertriebenen Pflichtgefühl heraus so etwas nicht erlauben. Meist ist ihnen nicht bewusst, dass sie dadurch aber die Liebe, das für den Erhalt ihrer Familie Wichtigste, gefährden. Eine weitere wichtige Bedingung für den Erhalt und die Pflege der Liebe ist schließlich auch die Wechselseitigkeit des Engagements beider Partner. Liebe ist zwar auch geduldig, sie verlangt kein Engagement beider zu exakt gleichen Teilen, wie das in einer »bloß« partnerschaftlichen Beziehung, die ja solche Gerechtigkeit verlangt, der Fall wäre. Liebe kann hier auch Zugeständnisse machen, großzügig sein. Aber eine Einseitigkeit des Engagements kann kein Dauerzustand sein. Auch die Liebe braucht Wechselseitigkeit. Gaben brauchen Gegengaben, sonst versiegt der Wille zum Geben und Schenken. Oft verlangt das vor allem ein Umdenken bei den Männern, die auch heute noch – wie ihre Väter und Großväter es getan haben – eher »lieben lassen«, als hier selber ihren Beitrag zu leisten. Dabei muss eines, das Gesagte ein wenig relativierend, hinzugefügt werden: Ohne Zweifel können Eltern auch gute Eltern sein und bleiben, wenn ihre Liebe zueinander als Paar gestorben und nicht mehr zum Leben zu erwecken ist – auch dann, oder sogar dann eher, wenn sie sich auch äußerlich getrennt haben. Dazu müssen sie sich aber klar bewusstmachen: Mit der Trennung endet die Beziehung auf der Paar-Ebene, aber nicht die auf der Eltern-Ebene. Häufig erleben wir allerdings, dass das viele überfordert. Der getrennt lebende Elternteil – häufig sind das die Väter – wird aus der Familie ausgeschlossen oder schließt sich selber aus, ja man verfolgt einander mit Hass- und Rachegefühlen, und man zieht die Kinder in einseitige Bundesgenossenschaften gegen den anderen hinein. Sicher haben Väter und Mütter in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten hier viel dazugelernt, wie man auch als getrennte Eltern die gemeinsame Elternfunktion einigermaßen kooperativ weiter ausüben kann. Aber das ist nicht einfach und verlangt den Erwachsenen viel ab. Sehr viel einfacher und für alle befriedigender ist es, wenn die Elternschaft auch von einer lebendigen Liebe der Partner zueinander getragen wird. Darum lohnt es sich in jeder Hinsicht, in die Erhaltung und Vertiefung der wechselseitigen Liebe zu investieren, auch wenn dies immer wieder bewusstes Engagement, hohe Achtsamkeit im Alltag und Toleranz verlangt. Literatur Jellouschek, H. (2011): Achtsamkeit in der Partnerschaft. Was dem Zusammenleben Tiefe gibt. Freiburg i. Br. (Kreuz-Verlag). Jellouschek, Hans (2010): Liebe auf Dauer. Was Partnerschaft lebendig hält. Freiburg i. Br. (Herder). Jellouschek, Hans (2008): Wenn Paare älter werden. Die Liebe neu entdecken. Freiburg i. Br. (Herder) (Taschenbuchausg. 2011).KAREN HASSELMO, JAMES A. COAN UND LANE BECKES Die »Social Baseline«-Theorie und die soziale Regulierung von Emotionen Jeder Organismus hat den evolutionären Auftrag, zu überleben und sich fortzupflanzen. Um dieses wichtigste aller Ziele zu erfüllen, sind Ressourcen und die entsprechende Energie erforderlich, durch welche diese Ressourcen gewonnen werden können. Die natürliche Selektion wird folglich Anpassungen begünstigen, die es den Organismen ermöglichen, weniger Energie zu verbrauchen als aufzunehmen und sich so viel Energie wie möglich zu bewahren. Dieser Zwang, bekannt als die Ökonomie des Handelns, ist ein biologisches Prinzip, dem die Organismen gehorchen müssen, um zu überleben und sich zu reproduzieren (Proffitt 2006). Es führt zu Anpassungen, die den wirtschaftlichen Umgang mit den aktuell vorhandenen Ressourcen regeln, damit künftige evolutionsrelevante Aufgaben wie Nahrungssuche und Paarung ausgeführt werden können. Ganz ähnlich wie nahrungssuchende Tiere, die ihren Energieverbrauch möglichst gering halten und nach Prioritäten ordnen – in einem Prozess, der als Theorie der optimalen Nahrungssuche beschrieben wird (MacArthur & Pianka 1966) –, müssen auch die Menschen mit ihren Energien haushalten und ihre Effizienz maximieren. Menschen besitzen allerdings hochkomplexe Gehirne, die ihre Verhaltensflexibilität ganz erheblich steigern – einschließlich der sehr ausgeprägten Fähigkeiten zur Hemmung und zur Selbstkontrolle. Dabei handelt es sich um Fähigkeiten, die im Rahmen exekutiver Prozesse wie der Zukunftsplanung, der Reaktionshemmung und der selektiven Aufmerksamkeit ins Spiel kommen, die ihrerseits von großer Bedeutung für die Selbstregulierung sind. Von diesen Fähigkeiten könnte speziell die Selbstregulierung, vor allem soweit es die Regulierung emotionaler Impulse betrifft, »im Visier« der potentiellen Energieerhaltung stehen – dies deshalb, weil die Menschen die zusätzliche Fähigkeit entwickelt haben, sich zum Zweck des schonenden Umgangs mit ihren Energien aufeinander zu verlassen, indem sie zusammenarbeiten, gemeinsame Ziele verfolgen und ihre Aufmerksamkeit teilen. Nach der »Social Baseline«-Theorie (Coan 2010) ist dieses Anliegen in der Stammesgeschichte des Menschen begründet und hat dazu geführt, dass das primäre Umfeld, an das der Mensch adaptiert ist, andere Menschen sind – dass also die »baseline expectation«, die Grundannahme des menschlichen Gehirns, dem Kontakt und der sozialen Nähe gilt. Tatsächlich ist die Fähigkeit, das aufwendige Geschäft der Selbstregulierung auf ein soziales Netzwerk nahestehender anderer auszulagern, eine adaptive Errungenschaft, die erkennen lässt, wie das menschliche Gehirn mit seinen Ressourcen wirtschaftet. Selbstregulierung und der präfrontale Cortex Die emotionale Selbstregulierung umfasst die Verstärkung oder Abschwächung von Reaktionen auf emotionale Reize, den Belohnungsaufschub, das Sich-hinweg-Setzen über Impulse, die Gedankenunterdrückung und andere Formen bemühter und damit aufwendiger Kontrolle (Gross & Thompson 2007). Selbstregulierung befähigt die Menschen unter anderem dazu, sich Täuschungen hinzugeben und geduldig auf Belohnungen zu warten (Gross & Thompson 2007). Sie hat insofern Konsequenzen für die menschliche Entwicklung, als Kinder, die eine vergleichsweise bessere Selbstregulierung zeigen, weniger in Gefahr sind, aggressive Tendenzen, Verhaltensstörungen und trotzig-oppositionelle Symptome zu entwickeln (z. B. Crowe & Bair 2008; Beauchaine et al. 2007; Hill et al. 2006; Rydell et al. 2003). Erwachsene, die sich auf die Selbstregulierung verstehen, erleben es, dass ihr allgemeiner Gesundheitszustand sich bessert und ihre Lebenszufriedenheit steigt (Haga et al. 2009; Smyth & Arigo 2009). Und sowohl Erwachsene als auch Kinder, die erfolgreich Taktiken der Selbstregulierung einsetzen, profitieren insofern von dieser kognitiven Kontrolle, als ihr Risiko, eine affektive Störung zu entwickeln, geringer wird (Buckner et al. 2009; Dennis et al. 2007). Es sind vor allem Roy F. Baumeister und sein Team, deren Interesse der Selbstregulierung und speziell dem Umstand gilt, dass die kognitive Konzentration auf eine solche Aufgabe sich darauf auswirken kann, wie nachfolgende derartige Aufgaben bewältigt werden (Gailliott & Baumeister 2007; Baumeister et al. 2008): Ihrer Ansicht nach zapft die Selbstregulierung nämlich eine begrenzte Ressource an, und langfristige derartige Anforderungen führen zu einem Phänomen, das sie als »Ich-Erschöpfung« bzw. »Ich-Entleerung« (»ego depletion«) bezeichnen. Ich-Erschöpfung erschwert die Selbstregulierung, und die betroffenen Menschen sind in diesem Zustand häufig nicht imstande, kognitiv anspruchsvolle Aufgaben auszuführen. Baumeister und Kollegen meinen, dass die Glukosekonzentration im Blut den Zusammenhang zwischen Ich-Erschöpfung und kognitiver Kontrolle erklären könnte. Sie tragen ferner die These vor, dass die Fähigkeit zur Selbstregulierung nur für kurze Zeitspannen als legitime Kontrollstrategie dienen könne, da sie das Gehirn – und zumal den präfrontalen Cortex – seiner Ressourcen beraube und damit das weitere Funktionieren der Selbstregulierung beeinträchtige (Gailliott & Baumeister 2007). Zahlreiche Studien stützen die Hypothese der Ich-Erschöpfung. So verbessert z. B. der Konsum eines glukosehaltigen Getränks vor der Ausführung einer kognitiven Aufgabe die entsprechende Leistung (Heatherton & Wagner 2011), und nach der Bewältigung einer solchen schwierigen Aufgabe steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der betreffende Mensch ein alkoholisches Getränk zu sich nimmt, bevor er ein Auto bedient (Muraven et al. 2002). Die Hypothese von der Glukosekonzentration im Blut ist dagegen schwieriger zu bestätigen. So weist Kurzban (2010) z. B. darauf hin, dass die Blutzuckerkonzentration im Gehirn von einer Region zur anderen und auch von einer Reizsituation zur anderen nicht hinreichend variiert, um einen exzessiven Anstieg des Energieverbrauchs als Folge der Aktivität des präfrontalen Cortex zu erklären. Im Gegenteil: Die verschiedenen Hirnregionen verbrauchen Ressourcen etwa im gleichen Verhältnis, und der Großteil der Stoffwechselkosten des Gehirns geht auf das Konto der endogenen Aktivität (d. h. der Aktivität des Gehirns im Ruhezustand) und wird nicht von einem Anstieg der funktionalen Hirntätigkeit infolge der Einführung eines akuten Reizes verantwortet. Neuere Hinweise sprechen zudem dafür, dass die primären und übrigens gut belegten Wirkungen der Ich-Erschöpfung nachlassen, wenn man den Betroffenen ganz einfach sagt, ihre Fähigkeit zur Selbstregulierung sei unbegrenzt (Job et al. 2010). Auch wenn etwas so Simples wie die Blutzuckerkonzentration wohl kaum allein für das Phänomen der Ich-Erschöpfung verantwortlich sein kann, machen Baumeister und Kollegen doch auf eine bedeutsame Tatsache aufmerksam: Kognitive Anstrengungen – zumal solche, die der Selbstregulierung dienen – führen häufig zur Erschöpfung. Und in der Tat besteht kaum ein Zweifel daran, dass zwischen der kognitiven Kontrolle, der Tätigkeit des präfrontalen Cortex und dem Management neuronaler Ressourcen gewichtige Zusammenhänge bestehen. Diese Zusammenhänge könnten sehr wohl etwas mit der Glukosekonzentration im Blutkreislauf zu tun haben. Das Gehirn ist ein einigermaßen unbewegliches metabolisches System, und das bedeutet, dass es auch bei Anspannung nicht dazu neigt, seine Blutversorgung zu erhöhen – tatsächlich kann es das gar nicht (Raichle & Mintum 2006). Wenn das Gehirn seine Aktivität in einer Region erheblich steigert, muss es sich Blut aus einer seiner anderen Regionen holen, d. h. sich intern versorgen. Erfordert eine Aufgabe lange Perioden der Selbstregulierung, dann kann dies folglich dazu führen, dass andere neuronale Systeme »unterernährt« bleiben. Das Ganze ist also eine Frage der Prioritäten, und auch wenn der präfrontale Cortex der menschlichen Spezies unendliche Vorteile eingebracht hat, ist er im Allgemeinen doch nicht so maßgeblich für unser Überleben wie andere Systeme. Die Blutzufuhr zum Gehirn in Zeiten hoher emotionaler Intensität oder physischer Aktivität bestätigt dies: In beiden Fällen ist der präfrontale Cortex deutlich weniger aktiv, und dies häufig deshalb, weil Blut von ihm weggeleitet und diesen anderen Systemen zugeführt wird (Coan et al. 2006; Dietrich & Sparling 2004). Der präfrontale Cortex ist eine jener Hirnregionen, die als Letzte, nämlich erst in der Adoleszenz, zur vollen Ausbildung und Funktion gelangen (Huttenlocher 1990). Zugleich ist er häufig das erste neuronale System, das bei anhaltender Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr (Anoxie), infolge von Mangelernährung oder aufgrund des Alterungsprozesses dahinschwindet, was wiederum darauf verweist, dass er im Vergleich zu anderen human-neuronalen Systemen ein relativ luxuriöses und zumindest insofern teures System ist. Sein Einsatz bei Problemen der Selbstregulierung, wie sie durch die Aktivierung negativer Emotionen ins Spiel kommen, kann überdies Opportunitätskosten mit sich bringen, denn der präfrontale Cortex kann seine Möglichkeiten der analytischen Verarbeitung und des Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnisses auch zur Bewältigung sehr vieler anderer Aufgaben einsetzen; dies reicht von der kreativen Problemlösung über die Sprachgenerierung bis hin zu dem Versuch, zukünftige Entwicklungen zu prognostizieren. In jeder dieser Hinsichten und noch darüber hinaus bietet der präfrontale Cortex sich also als Adresse für die Ressourcenschonung an, wo immer dies möglich ist. Der wirtschaftliche Umgang mit dem »Bayes’schen1 Gehirn« Um Energien zu bewahren und sein Ressourcenbudget zu optimieren, ist das Gehirn offensichtlich darauf angelegt, den präfrontalen Cortex auf vielfältige Weise zu handhaben. Es kann z. B. notwendig sein, den eher »routinisierten« oder rückkoppelnden Schaltkreisen, die für die Motorik und die Affektkontrolle zuständig sind, die metabolische Priorität einzuräumen oder sparsam mit der Selbstregulierung umzugehen, damit andere Funktionen des präfrontalen Cortex in Dienst genommen werden können. Das setzt voraus, dass das Gehirn fähig ist, ein ständiges Inventar seiner aktuellen Ressourcen und der aus dem Umfeld hereinkommenden Anforderungen anzulegen und bereit zu haben und diese Information in energetische Entscheidungen einzubringen, also in die Frage, wann Energie ausgegeben und wann Energie zurückgehalten werden muss. Das Gehirn agiert also als eine Art Bayes’sche Wettmaschine (bzw. Maschine zur Berechnung von Wahrscheinlichkeit), die mit Informationen über die laufende »Einspeisung« und mit der Überlegung arbeitet, wie viel Energie ein bestimmtes Verhalten in der gegebenen Situation vermutlich kosten wird. Stefanucci et al. (2005) präsentieren Nachweise dafür, dass und wie das Gehirn seine physischen Ressourcen einteilt, indem es die Wahrnehmung verändert: Ihre Probanden, von denen einige einen schweren Rucksack tragen mussten, sollten den Neigungswinkel und die Längenausdehnung eines Hügels beurteilen. Die Rucksackträger schätzten den Hügel erheblich steiler ein als die Teilnehmer, die kein zusätzliches Gewicht zu tragen hatten: Ihre Gehirne hatten die Steigung kalkuliert, nachdem sie überlegt hatten, welches Mehr an Energie es sie kosten würde, mit dem Rucksack aufzusteigen. Sie orientierten sich bei ihrer Beurteilung also an der Wahrnehmung der Aufgabe als vergleichsweise mühsam. Diejenigen Teilnehmer, die kein Fremdgewicht zu tragen hatten, schätzten die Steigung dagegen als sanfter ein und kamen folglich nicht auf ein solches zusätzliches Ungleichgewicht in ihrer Energieerhaltung. Die Funktionsweise eines derart mit Budgetfragen befassten Gehirns zeigt sich ferner in der unterschiedlichen regionalen Aktivierung in Reaktion auf distale (= rumpfabgewandte) und proximale (= rumpfzugewandte) Bedrohungen (Mobbs et al. 2007). Die Region, die – im Rahmen eines Experiments – angesichts eines potentiell schmerzhaften, aber relativ weit entfernten (= distalen) Reizes die stärkste Aktivierung erfuhr, war der präfrontale Cortex. Das könnte insofern, als ja noch Zeit war, dem Reiz auszuweichen, eine hochwirksame Strategie des Gehirns sein, denn der präfrontale Cortex kann kreative potentielle Lösungen planen und gestalten. War die Bedrohung bei diesem Experiment aber eher nahe (= proximal), dann »bewegte« sich die Aktivierung weg vom präfrontalen Cortex und hin zum periaquäduktalen Grau, einer Region des Mittelhirns, die für Fluchtreflexe zuständig ist. Auch das ist eine wirksame Strategie, denn wenn die Bedrohung unmittelbar »da« ist, bietet sich kaum noch Gelegenheit, das Problem durch Nachdenken zu lösen. Im Gegenteil: Im Fall einer akuten Bedrohung sind die stammesgeschichtlich bewährten ursprünglichen Strategien wahrscheinlich die beste Wahl. Dass der präfrontale Cortex seine Aktivität unter den Bedingungen einer proximalen Bedrohung reduziert, ist mit Sicherheit weise, aber das Gehirn muss auch im täglichen Gebrauch Wege finden, seine Ressourcen nach Möglichkeit zu schonen und entsprechend einzuteilen. Wie oben erwähnt, ist der präfrontale Cortex hochgradig aktiv, wenn distale Bedrohungen wahrgenommen werden. Das erklärt sich mit einer der Hauptaktivitäten des präfrontalen Cortex unter einer Vielzahl von Gegebenheiten, nämlich mit der Vigilität oder Wachsamkeit. Häufig handelt es sich dabei um eine Wachsamkeit sowohl in Bezug auf Belohnungen (auf Annäherung ausgerichtete Vigilität) als auch in Bezug auf Bestrafungen (auf Rückzug oder Vermeidung ausgerichtete Vigilität; vgl. Coan & Allen 2004). Interessanterweise kann Vigilität, insbesondere die auf Vermeidung ausgerichtete Hypervigilität, wie sie bei Angststörungen auftritt, recht »teuer« sein, weil sie ja ein erhebliches Maß an kognitivem Aufwand auf Seiten des präfrontalen Cortex erfordert. Ähnlich teuer – weil ähnliche Formen von Vigilität und kognitivem Aufwand im Spiel sind – ist die emotionale Selbstregulierung, eine Manifestation der Versuche des präfrontalen Cortex, die Kontrolle über die eher reflexhafte Affektverarbeitung zu wahren. Nach Coan (2008, 2010) gehören soziale Nähe und Interaktion zu den vorrangigen Strategien, die Menschen einsetzen, um die durch den präfrontalen Cortex vermittelte Vigilität und laufende Selbstregulierung zu reduzieren, die zur kognitiven Belastung, zur subjektiven Erschöpfung oder zu unerwünschten Opportunitätskosten führen können. Die soziale Regulierung von Emotionen Ein Beleg für diese letzte Behauptung findet sich in einem unlängst durchgeführten Experiment mit verheirateten Paaren, bei dem die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) eingesetzt wurde (Coan et al. 2006). Im Rahmen dieser Studie wurden die Ehefrauen in der Röhre (MRT) leichten Stromstößen, also einer »Bedrohung«, ausgesetzt, und zwar unter drei verschiedenen Gegebenheiten: Einmal hielten sie die Hand ihres Partners, ein weiteres Mal die Hand einer ihnen gänzlich fremden Person, ein drittes Mal lagen sie allein im Scanner. Die für die Wahrnehmung der Bedrohung zuständigen Schaltkreise im Gehirn dieser Frauen waren deutlich weniger aktiv, solange sie die Hand des Partners hielten – dies galt insbesondere für Frauen in besonders glücklichen Beziehungen. Wenn die Frauen die Hand einer fremden Person hielten, nahm die Responsivität des Gehirns zu, und zwar in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht: Es wurden mehr Areale aktiviert als im ersten Durchgang, und zugleich stieg die Aktivität derjenigen Areale an, die schon beim Handkontakt mit dem Partner aktiv gewesen waren. Seinen höchsten Pegel erreichte das Antwortverhalten im gesamten Gehirn, als die Frauen allein im Scanner lagen. Bemerkenswerterweise zählte der dorsolaterale präfrontale Cortex (dlPFC) – der intensiv an der emotionalen Selbstregulierung beteiligt ist – zu den Regionen, die deutlich auf die Anwesenheit bzw. Nichtanwesenheit des Partners reagierten. Am aktivsten war diese Region in der Zeit, in der die Frauen allein in der Röhre lagen, weniger aktiv in der Zeit, in der sie die Hand einer ihnen unbekannten Person hielten, und kaum aktiv in der Zeit, in der sie die Hand ihres Partners hielten. Das spricht stark dafür, dass die regulierende Wirkung sozialer Nähe nicht durch den präfrontalen Cortex vermittelt wird, im Gegensatz zu dem, was für die aufwendige Selbstregulierung gilt. Nach unserem Eindruck besagt dieses Ergebnismuster in der Tat, dass der präfrontale Cortex bei sozial vermittelten Formen der Emotionsregulierung eine wichtige »Adresse« für die Ressourcenschonung ist. Mit anderen Worten, das Gehirn macht sich soziale Ressourcen in der Weise zunutze, dass es viele seiner anstrengenderen Aufgaben nach außen verlagert bzw. sozusagen »per Vertrag auslagert«. Das wiederum reduziert sowohl den Energieaufwand, der auf solche Aufgaben verwendet werden muss, als auch die damit verbundenen Begleitkosten, denn die Statistik spricht dafür, dass die Nähe zu sozialen Ressourcen die Notwendigkeit der Wachsamkeit und des Problemlösens reduziert. Das »Social Baseline«-Modell Das »Social Baseline«-Modell verheißt Energievorteile dank sozialer Nähe, nämlich durch Risikostreuung und Lastenverteilung. Risikostreuung bedeutet in unserem Zusammenhang, dass die enge Nachbarschaft mit anderen Artgenossen es dem Individuum ermöglicht, das Risiko seines bloßen Daseins auf diese in seiner Nähe befindlichen Wesen zu verteilen. Tiere z. B. »streuen« dieses Risiko, indem sie in Herden beisammenstehen: Sie bewahren sich auf diese Weise ihre Körperwärme (Pinshow et al. 1976), minimieren denjenigen Anteil ihrer Körperoberfläche, der den Insekten und Parasiten ausgesetzt ist, und wehren Raubtierattacken ab (Krebs & Davies 1993). Wenn Artgenossen in enger Nachbarschaft leben, dann sind mehr Augen, Ohren und Nasen darauf fixiert, Räuber aufzuspüren. Wesentlich ist dabei, dass die Gehirne von Tieren, die sich diesen Zusammenhang zunutze machen, fähig sind, die Streuung des Risikos abzuschätzen und ihr Verhalten entsprechend auszurichten. Wie Gilbert Roberts (1996) schreibt, zählt »die Reduzierung der individuellen Vigilität bei zunehmender Gruppengröße zu den am häufigsten berichteten Zusammenhängen auf dem Gebiet des Tierverhaltens« (S. 1077). In seinem Beispiel ist es geselligen Tieren dank der Nähe zu ihren Artgenossen möglich, ihre Wachsamkeit in einem gewissen Umfang zu lockern; sie sparen damit Zeit, die andernfalls für das Aufspüren von »Räubern« verwendet werden müsste, und gewinnen Zeit für die Futtersuche. Wir Menschen profitieren mit großer Wahrscheinlichkeit von der Risikostreuung, und unsere Fähigkeit, Risiken vor dem Hintergrund der Nähe zu den Mitmenschen einzuschätzen, ist fraglos von Einfluss darauf, wieweit wir persönliche Ressourcen darauf verwenden, aufmerksam auf Bedrohungen zu achten. Das dürfte die regulierende Wirkung des Händehaltens mit einer gänzlich fremden Person erklären, von der oben die Rede war. Aber anders als viele oder sogar die meisten geselligen Tiere sind die Menschen fähig, sich noch eine weitere Ebene der Risikostreuung durch soziale Kontakte zunutze zu machen – nämlich das, was wir auch in unserem Zusammenhang als load sharing, Lastenverteilung, bezeichnen. Lastenverteilung erfordert das Vorhandensein von Artgenossen; sie fußt aber nicht ausschließlich auf Zahlen, sondern setzt Interdependenz, also wechselseitige Abhängigkeit oder Bezogenheit, und vertraute Bande voraus, etwa die genetische Beziehung der Partner, ihre Liebesbeziehung oder schlicht ihre Freundschaft zueinander. Lastenverteilung geschieht, wenn ein Mensch einem anderen beisteht, und zwar so, als wäre dieser andere er selbst. Dabei kann es sich um Wachsamkeit zugunsten dieses anderen, um die »Nahrungssuche« für diesen anderen oder um Fürsorge und Beistand in Bezug auf ihn handeln – ganz ähnlich der Fürsorge einer Mutter für ihr Kind. Derartige Aufmerksamkeit ist vorteilhaft für den Empfänger, mit Sicherheit aber kostspielig für den Geber, denn mit dem Grad der Interdependenz der Partner steigen die Kosten ebenso wie der Gewinn. Alles in allem aber macht die Fähigkeit zur wirksamen Lastenverteilung die Umgebung eines Menschen sehr viel weniger bedrohlich, und damit wird es auch weniger wahrscheinlich, dass sie neuronale Ressourcen beanspruchen wird. Soziale Nähe »spart« neuronale Aktiviät sowohl durch Risikostreuung als auch durch Lastenverteilung, wobei Lastenverteilung im Augenblick ihres Funktionierens zumeist sehr viel wirksamer, zugleich aber auch potentiell teurer ist. Soziale Ressourcen sind höchst nützlich für das Gehirn, wenn sie berechenbar sind. Je mehr Zeit ein Paar miteinander verbringt, desto berechenbarer werden die Partner füreinander und desto größer wird damit auch ihre wechselseitige Abhängigkeit, was das Bayes’sche Gehirn veranlasst, im Partner eine stabile soziale Ressource zu sehen. Und mit zunehmender Berechenbarkeit der sozialen Umgebung parallel zur abnehmenden Notwendigkeit von Wachsamkeit und aufwendiger Selbstregulierung kann das Gehirn verhaltensmäßig und psychologisch flexibler werden. Die (potentiellen) Mechanismen der sozialen Regulierung von Emotionen Soziale Isolation war im gesamten Verlauf der Evolution ein seltenes und gefährliches Phänomen. Tatsächlich kam es während des größten Teils der menschlichen Geschichte selten zu Begegnungen mit Fremden, und viele Menschen lebten ihr Leben, ohne jemals auf einen Fremden zu treffen (Berreman 1978). Dass unser Modell sich auf eine »baseline«, also auf eine »Grundlinie« oder einen Ausgangszustand bezieht, hat u. a. damit zu tun, dass soziale Nähe sehr wahrscheinlich die Grundannahme des menschlichen Gehirns ist. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um eine eher simple Vorstellung zu handeln, tatsächlich bewirkt sie aber einen grundsätzlichen Wandel in unserer Sicht der Menschen und der menschlichen Gehirne – weg von der Vorstellung der einzelnen Person als der kleinsten Analyseeinheit und hin zu der Vorstellung, diese kleinste Analyseeinheit könnten in Wahrheit zwei Personen sein; und dieser Wandel wiederum könnte sich spürbar auf unsere Untersuchung und unser Verständnis der neuronalen Mechanismen mitmenschlicher Hilfe und Unterstützung auswirken: Wenn das menschliche Gehirn soziale Nähe als eine Grundbedingung versteht, dann müssen wir als Erstes neu über unser Verständnis von Emotionsregulierung als soziales Phänomen nachdenken. Die neuronalen Mechanismen der Selbstregulierung sind ja zunehmend besser dokumentiert und schließen bekanntlich ein hohes Maß an Aktivierung des präfrontalen Cortex ein. Im Gegensatz dazu sind die neuronalen Mechanismen der Regulierung sozialer Emotionen noch relativ unbekannt. Eines wissen wir in diesem Zusammenhang aber doch – nämlich dass die Regulierung sozialer Emotionen den präfrontalen Cortex mit ziemlicher Sicherheit nicht aktiviert. Das mag daran liegen, dass die Regulierung sozialer Emotionen nicht zur Blockierung einer aktiven emotionalen Reaktion führt, wie dies bei der Selbstregulierung der Fall ist (James Gross, persönliche Mitteilung, Februar 2011). Die sozial-emotionale Regulierung kann vielmehr eine Rückkehr zum oben konstatierten Ausgangszustand des Gehirns mit sich bringen, was bedeutet, dass emotionale Reaktionen nicht so sehr blockiert als vielmehr unnötig werden. Mit anderen Worten, die sozialen Ressourcen werden wohl kaum hemmende Schaltkreise beispielsweise im gesamten präfrontalen Cortex aktivieren, da sie ja eher dazu tendieren, die Wahrnehmung situativer Anforderungen zu verändern, so dass es nicht in erster Linie zur Aktivierung emotionaler Reaktionen kommt (vgl. Coan et al. 2006; Eisenberger et al. 2007). Ein isolierter Mensch findet sich in einer einmalig gefährlichen Lage, und das hat zur Folge, dass mehr neuronale Ressourcen auf Vigilität und andere überlebensrelevante Prozesse verwendet werden müssen. Das bedeutet wahrscheinlich, dass Menschen in der Isolation vergleichsweise rascher und intensiver auf bedrohliche Stimuli reagieren. All das spricht dafür, dass die regulierende Wirkung sozialer Nähe in den Wahrnehmungssystemen verwurzelt sein muss – insbesondere denjenigen, die unkonditioniert (außerhalb des Lernens) auf soziale Stichworte regieren. Menschen nehmen Intentionalität und biologische Bewegungen sehr rasch und wahrscheinlich unkonditioniert wahr. Diese perzeptuellen Fähigkeiten sind vermutlich an ganz bestimmte eigene Schaltkreise (z. B. an den Sulcus temporalis superior und das fusiforme »Gesichtsfeld«; Pelphrey & Morris 2006) gebunden und bewirken ein »Feedforward«, eine Vorwärtsmeldung, an die evaluativen und repräsentationalen Systeme wie die Amygdala, die Basalganglien, den insulären und den cingulären Cortex und den präfrontalen Cortex. Zu den möglichen Kandidaten für die Umwandlung sozialer Signale hin zur Alarmreduzierung zählen das Neuropeptid Oxytocin, die endogenen Opioide und die mit Belohnungen verbundene dopaminerge Aktivität (Coan 2008). Eine Fülle von Tier- und Humanstudien hat das Oxytocin als jenen Kitt identifiziert, der soziale Beziehungen festigt. Oxytocin wird durch soziale Kontakte oder durch das Potential für soziale Kontakte ausgeschüttet und fördert die Entstehung und Beibehaltung sozialer Bindungen (Insel & Fernald 2004; Taylor 2006). Wichtig ist: Oxytocin vermittelt – als Konsequenz des Vorhandenseins sozialer Kontakte – auch die Stressreaktion (Taylor & Master 2011). In einer Magnetresonanz-Studie zur BOLD2-Reaktion der Amygdala auf negative Reize zeigten diejenigen Teilnehmer, denen ein Oxytocin-Nasenspray verabreicht worden war, eine signifikant reduzierte Aktivierung, verglichen mit Teilnehmern, die ein Placebo-Spray erhalten hatten (Kirsch et al. 2005). Die Amygdala hat teil an der auf Bedrohungen ausgerichteten Vigilität, was es nahelegt, dass diejenigen Probanden, die unter dem Einfluss des Oxytocins standen, sich beim Betrachten unerfreulicher Bilder weniger bedroht fühlten. Das heißt also, eine Person, die enge Nähe zu ihren sozialen Ressourcen wahrt, wird ihre Oxytocinkonzentration wahrscheinlich erhöhen und in der Folge ihre Wahrnehmung von Bedrohungen in der Umgebung reduzieren. Endogene Opioide werden in Reaktion auf positive Interaktionen mit anderen ebenfalls unkonditioniert ausgeschüttet (Panksepp 1998; Panksepp et al. 1994) und könnten im Zusammenwirken mit Oxytocin eine Rolle bei der Abschwächung der Bedrohungsreaktion des Gehirns spielen. Der dorsale anteriore cinguläre Cortex (dACC) beherbergt bekanntlich eine große Dichte endogener Opioidrezeptoren und wird von Eisenberger und Kollegen als Indikator des Zusammen hangs zwischen sozialen Ressourcen und Bedrohungsreaktionen ins Spiel gebracht (Eisenberger et al. 2007): Ihrer Studie zufolge zeigten diejenigen Probanden, die nach ihren eigenen Worten täglich erhebliche mitmenschliche Unterstützung erfuhren, in Reaktion auf Bedrohungen entsprechend ein niedrigeres Aktivierungsniveau im dACC. Darüber hinaus ist gezeigt worden, dass der dACC nach wiederholter Exposition gegenüber solchen Opioiden unter Umständen weniger stark auf Bedrohungen reagiert (Eisenberger et al. 2007; Harris et al. 2007). Von anderer Seite ist der Gedanke vorgetragen worden, dass die mit Belohnungen verbundene dopaminerge Aktivität in Kombination mit der unkonditioniert verstärkenden Natur sozialer Kontakte bei »Vorhandensein« solcher Ressourcen, also anderer Menschen, negative Affekte blockieren kann (Depue & Morrone-Strupinsky 2005; Younger et al. 2010). Das klingt plausibel, vor allem weil Oxytocin die dopaminerge Aktivität in den Basalganglien zu verstärken vermag (Coan 2008). Allerdings sind weitere Forschungen nötig, um einschätzen zu können, ob die dopaminerge Aktivität wirklich als Mechanismus mitmenschlicher Unterstützung fungieren kann und nicht nur ein allgemeines Korrelat in diesem Zusammenhang darstellt. Fazit Das menschliche Gehirn ist offensichtlich fähig, die Wahrnehmung sozialer Nähe zu nutzen, um analog dem Bayes’schen Theorem darüber zu befinden, wie viel von seinen eigenen Ressourcen es für die Reaktion auf potentiell »herausfordernde« Umgebungen verwenden will. Zu den möglichen Mechanismen dieser Fähigkeit dürften die Aktivität von Neuropeptiden wie des Oxytocin und von Neurotransmittern wie des Dopamin sowie die Aktivität der endogenen Opioide zählen. Man kann sagen, dass die Menschen ihre Emotionen und ihre Bemühungen um die emotionale Regulierung durch diesen Prozess auf ihre sozialen Netzwerke »auslagern«. Unserer Ansicht nach haben diese Vorgänge damit zu tun, dass die primäre Adaptation des menschlichen Gehirns die Adaptation an andere Menschen ist, dass also andere Menschen die Grundsituation bzw. Grundannahme des menschlichen Gehirns darstellen. So gesehen ist es die Bewegung weg von dieser Grundannahme, die eine erhöhte Sensibilität und Reaktivität gegenüber wahrgenommenen Bedrohungen in der Umgebung zur Folge hat, und in ebendiesem Sinne führt soziale Nähe zur »emotionalen Regulierung«. Soziale Nähe wird also an erster Stelle einer notwendigen Aktivierung von Emotionen zuvorkommen, anstatt dem Individuum die Aktivierung eines regulierenden Schaltkreises (wie bei der Selbstregulierung) aufzunötigen. Wir sprechen im Zusammenhang mit dieser Sicht der Dinge vom »Social Baseline«-Modell, das seinerseits Teil der umfassenderen »Social Baseline«Theorie (Coan 2010) ist. Ein sozial, also auf die Mitmenschen orientiertes Gehirn ist nicht nur in energetischer Hinsicht von Vorteil; es hat zudem eine glückliche und dabei nicht etwa beabsichtigte Folge: Enge und befriedigende Beziehungen sind das Allerbeste im Leben; nichts betrachten die Menschen als für ihr mentales und physisches Wohlergehen wichtiger und maßgeblicher als ihre engen Beziehungen zu anderen Menschen (vgl. Berscheid & Reis 1998). Anmerkungen 1 Thomas Bayes, englischer Mathematiker (1702 – 61), entwickelte eine Formel für das Rechnen mit bedingten Wahrscheinlichkeiten, das sogenannte Bayes-Theorem. 2 BOLD steht für »blood oxygen level dependency«, d. h. für die in der Magnetresonanztomographie festgestellte Abhängigkeit des Bildsignals vom Sauerstoffgehalt in den roten Blutkörperchen. Literatur Baumeister, R. F., Sparks, E. A., Stillman, T. F. & Vohs, K. D. (2008): Free will in consumer behavior: Self-control, ego depletion, and choice. Journal of Consumer Psychology, 18, S. 4 – 13. Beauchaine, T. P., Gatzke-Kopp, L. & Mead, H. K. (2007): Polyvagal theory and developmental psychopathology: Emotion dysregulation and conduct problems from preschool to adolescence. Biological Psychology, 74, S. 174 – 84. Berreman, G. D. (1978): Scale and social relations. Current Anthropology, 19, S. 225 – 245. Berscheid, E. & Reis, H. T. (1998): Attraction and close relationships. In: D. T. Gilbert, S. T. Fiske & G. Lindzey (Hrsg.), The handbook of social psychology (4. Aufl.). New York (McGraw-Hill), S. 193 – 281. Buckner, J. C., Mezzacappa, E. & Beardslee, W. R. (2009): Self-regulation and its relations to adaptive functioning in low-income youths. American Journal of Orthopsychiatry, 79, S. 19 – 30. Coan, J. A. (2008): Toward a neuroscience of attachment. In: J. Cassidy & P. R. Shaver (Hrsg.), Handbook of attachment: Theory, research, and clinical applications (2. Aufl.). New York (Guilford Press), S. 241 – 265.

Erscheint lt. Verlag 25.10.2011
Reihe/Serie Fachbuch
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Maße 153 x 228 mm
Gewicht 675 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Familien- / Systemische Therapie
Geisteswissenschaften Psychologie Sexualität / Partnerschaft
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Bindung • Bindungsforschung • Bindungstheorie • Entwicklungspsychologie • Erzieher • Erziehung • Gewalt • Hebamme • Kinder- und Jugendlichen-Pychotherapie • Kinder- und Jugendpsychiatrie • Kindliche Entwicklung • Kleinkind • Kleinkindforschung • Krankenschwester • Liebesbeziehung • Paar • Paarbeziehung • Pädiatrie • Partnerschaft • Prävention • Psychologie • Psychologische Beratung • Psychosozial • Psychotherapie • Säugling • Säuglingsforschung • Sex • Sexualität • Sozialarbeit • Trauma
ISBN-10 3-608-94717-5 / 3608947175
ISBN-13 978-3-608-94717-5 / 9783608947175
Zustand Neuware
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