Warum Mathematik (fast) alles ist (eBook)
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99827-7 (ISBN)
Kit Yates promovierte 2011 in Mathematik an der University of Oxford. Er unterrichtet am Department of Mathematical Sciences der University of Bath und ist Ko-Direktor des Centre for Mathematical Biology. Seine Artikel erschienen bereits im Guardian, in der Times und in der Daily Mail. Regelmäßig veröffentlicht Yates auf dem Wissenschaftsportal The Conversation - die populären Beiträge wurden mehr als eine Million Mal geklickt.
Kit Yates promovierte 2011 in Mathematik an der University of Oxford. Er unterrichtet am Department of Mathematical Sciences der University of Bath und ist Ko-Direktor des Centre for Mathematical Biology. Seine Artikel erschienen bereits im Guardian, in der Times und in der Daily Mail. Regelmäßig veröffentlicht Yates auf dem Wissenschaftsportal The Conversation - die populären Beiträge wurden mehr als eine Million Mal geklickt.
Einleitung: Fast alles
Mein vierjähriger Sohn spielt liebend gern draußen im Garten. Besonders gern wühlt er im Boden und inspiziert all das krabbelnde und kriechende Getier, das er dort findet, vor allem Schnecken. Wenn er lange genug geduldig wartet, kommen die Schnecken, nachdem sie ihren ersten Schock überwunden haben, aus ihrem natürlichen Lebensraum genommen worden zu sein, vorsichtig aus der Sicherheit ihres Gehäuses hervor und gleiten zögerlich über seine Hand, wobei sie eine zähe Schleimspur hinterlassen. Schließlich, wenn er ihrer müde geworden ist, entsorgt er sie ziemlich pietätlos auf dem Komposthaufen oder dem Holzstoß hinter dem Schuppen.
Spät im September letzten Jahres, nach einer besonders erfolgreichen Grabungstätigkeit, bei der er fünf oder sechs große Exemplare zutage gefördert hatte, kam er zu mir, als ich gerade beim Holzsägen war, und fragte: »Papa, wie viele Schnecken lebt (sic!) in unserem Garten?« Eine trügerisch einfache Frage, auf die ich keine gute Antwort hatte. Es hätten 100, aber genauso gut auch 1000 sein können. Um ganz ehrlich zu sein, er würde den Unterschied nicht verstanden haben. Dennoch weckte seine Frage meine Neugier. Wie konnten wir sie gemeinsam beantworten?
Wir entschlossen uns, ein Experiment zu machen. Am nächsten Samstagmorgen zogen wir aus, um Schnecken zu sammeln. Nach zehn Minuten hatten wir insgesamt 23 dieser Gastropoden gefunden. Ich nahm einen wasserfesten Edding aus meiner Gesäßtasche und markierte die Gehäuse der Schnecken mit einem schwarzen Kreuz. Nachdem sie alle derart gekennzeichnet worden waren, kippten wir den Eimer um und entließen die Schnecken wieder in den Garten.
Eine Woche später wiederholten wir das Spiel. Diesmal kamen wir bei unserer 10-Minuten-Suche nur auf 18 Exemplare. Bei genauerer Inspektion zeigte sich, dass drei von ihnen ein Kreuz auf dem Gehäuse trugen, während die anderen 15 unmarkiert waren. Das war alles an Information, was wir brauchten, um unsere Berechnung anzustellen.
Die Idee, die dahintersteckt, ist folgende: Die Anzahl der Schnecken, die wir beim ersten Mal fingen, 23, ist ein gegebener Anteil an der Gesamtpopulation im Garten, die wir schätzen möchten. Wenn wir diesen Anteil bestimmen können, dann können wir anhand der Anzahl der gefangenen Schnecken die Gesamtpopulation der Schnecken im Garten ausrechnen. Dazu benutzen wir eine zweite Stichprobe, und zwar diejenige vom darauffolgenden Samstag. Der Anteil der markierten Schnecken in dieser Stichprobe, 3/18, sollte für die Population der markierten Schnecken im Garten insgesamt repräsentativ sein. Wenn wir diesen Anteil kürzen, stellen wir fest, dass durchschnittlich eine von sechs Schnecken in der Gesamtpopulation markiert ist (siehe Abbildung 1). Daher multiplizieren wir die Zahl der markierten Individuen, die am ersten Tag gefangen wurden, 23, mit einem Faktor 6, um eine Schätzung für die Gesamtzahl der Schnecken im Garten zu erhalten, also 138.
Abbildung 1: Das Verhältnis (3:18) der Zahl der wiedergefangenen Schnecken (markiert mit einem Kreuz und Kreis) zur Gesamtzahl der am zweiten Tag gefangenen Schnecken (markiert mit einem Kreis) sollte genauso groß sein wie das Verhältnis (23:138) der Zahl der am ersten Tag gefangenen Schnecken (markiert mit einem Kreuz) zur Gesamtzahl der Schnecken im Garten (markierte und unmarkierte).
Nach Abschluss dieser Überschlagsrechnung wandte ich mich wieder meinem Sohn zu, der sich unterdessen um die gemeinsam gesammelten Schnecken »gekümmert« hatte. Wie reagierte er, als ich ihm mitteilte, dass ungefähr 138 Schnecken in unserem Garten lebten? »Daddy«, meinte er und sah auf die Schneckenhausreste hinab, die an seinen Fingern klebten. »Ich hab sie totgemacht.« Also nur 137.
Diese simple mathematische Methode, die als Capture-Recapture- oder auch als Rückfangmethode bezeichnet wird, stammt aus der Ökologie, wo sie eingesetzt wird, um die Größe tierischer Populationen zu schätzen. Man kann diese Technik selbst einsetzen, indem man zwei unabhängige Stichproben nimmt und ihre Überschneidung vergleicht. Vielleicht wollen Sie die Zahl der Lotterielose schätzen, die auf dem örtlichen Jahrmarkt verkauft wurden, oder Sie wollen wissen, wie viele Zuschauer ein Football-Spiel besucht haben, und dabei, statt mühsam Menschen zu zählen, Ticketabrisse benutzen.
Die Rückfangmethode wird auch in ernsthaften wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt. Sie kann zum Beispiel wichtige Informationen über die Fluktuation innerhalb einer gefährdeten Tierart geben. Indem sie eine Schätzung der Anzahl der Fische in einem See erlaubt,[1] kann sie Fischereibehörden Hinweise für Fangquoten liefern. Die Methode ist dermaßen effizient, dass sie über die Ökologie hinaus zur Abschätzung von allem und jedem verwendet wird, von der Zahl der Drogensüchtigen in der Bevölkerung[2] bis zur Zahl der Kriegstoten im Kosovo.[3] Das ist die pragmatische Kraft, die einfachen mathematischen Ideen innewohnen kann. Und das ist die Art von Konzepten, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen wollen und die ich routinemäßig in meinem Beruf als mathematischer Biologe anwende.
***
Wenn ich Leuten erzähle, dass ich mathematischer Biologe bin, erhalte ich in der Regel ein höfliches Kopfnicken, begleitet von einer ungemütlichen Stille, als würde ich gleich prüfen, ob sie sich noch an die Formel für den Satz des Pythagoras erinnern. Die Leute sind nicht nur regelrecht eingeschüchtert, sondern verstehen auch nicht so recht, dass ein Gebiet wie Mathematik, das sie als abstrakt, rein und geistig empfinden, irgendetwas mit Biologie zu tun haben kann, die gewöhnlich als praktisch, schmutzig und pragmatisch gilt. Dieser künstlichen Dichotomie begegnen die meisten Menschen erstmals in der Schule: Wenn man Naturwissenschaften mochte, Algebra hingegen weniger, dann konzentrierte man sich auf die Biowissenschaften. Wenn man wie ich Spaß an Naturwissenschaften hatte, aber kein Vergnügen daran fand, tote Tiere aufzuschneiden (einmal, zu Beginn einer Präparationsstunde, wurde ich ohnmächtig, als ich ins Labor kam und einen Fischkopf auf meinem Platz fand), wurde man zu den physikalischen Wissenschaften geführt. Niemals sollen die zwei zueinanderfinden.
So erging es mir. Ich wählte Biologie in der 6. Klasse ab und belegte Leistungskurse in Mathematik, höherer Mathematik, Physik und Chemie. Als es um die Universität ging, musste ich meine Themen noch stärker eingrenzen und war traurig, dass ich die Biologie für immer hinter mir lassen musste, ein Gebiet, das meiner Ansicht nach ein unglaublich großes Potenzial hat, unser Leben zu verbessern. Ich blickte mit großer Vorfreude auf die Gelegenheit, in die Welt der Mathematik einzutauchen, war aber auch besorgt, mir ein Thema ausgesucht zu haben, das offenbar wenig praktische Anwendungsmöglichkeiten besaß. Ich hätte mich nicht stärker irren können.
Während ich mich in die reine Mathematik vertiefte, die wir an der Universität lernten, und den Beweis des Zwischenwertsatzes oder die Definition eines Vektorraumes memorierte, begeisterten mich die Kurse über Angewandte Mathematik. Ich hörte Vorlesungen, in denen die Mathematik vorgestellt wurde, die Ingenieure benutzen, um zu verhindern, dass Brücken in Resonanz geraten und durch Windströmungen zusammenbrechen, oder um Tragflächen zu entwerfen, die sicherstellen, dass Flugzeuge nicht vom Himmel fallen. Ich lernte die Quantenmechanik kennen, die Physiker benutzen, um die seltsamen Geschehnisse auf subatomarer Ebene zu verstehen, und die Spezielle Relativitätstheorie, die die seltsamen Folgen erkundet, die sich aus der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ergeben. Ich belegte Kurse, in denen erklärt wurde, in welcher Weise Mathematik in der Chemie, in der Welt der Finanzen und in der Wirtschaft verwendet wird. Ich las darüber, wie Mathematik im Sport eingesetzt wird, um die Leistung von Spitzenathleten zu verbessern, und wie wir Mathematik im Film benutzen, um computergenerierte Bilder von Szenen zu schaffen, die es in der Realität nicht geben könnte. Kurz gesagt, ich lernte, dass Mathematik zur Beschreibung von fast allem dienen kann.
In meinem dritten Studienjahr konnte ich einen Kurs in mathematischer Biologie besuchen. Der Leiter war Philip Maini, ein engagierter nordirischer Professor in seinen Vierzigern. Er war nicht nur eine führende Persönlichkeit auf seinem Gebiet (später sollte er zum Fellow der Royal Society ernannt werden), sondern konnte sich auch offensichtlich für sein Thema begeistern, und sein Enthusiasmus übertrug sich auf die Studenten im Hörsaal.
Philip brachte mir nicht nur mathematische Biologie bei, er lehrte mich auch, dass Mathematiker menschliche Wesen mit Gefühlen sind, nicht die eindimensionalen Automaten, als die sie oft porträtiert werden. Ein Mathematiker sei mehr als »eine Maschine, die Kaffee in Theoreme umwandelt«, wie es der ungarische Wahrscheinlichkeitstheoretiker Alfréd Rényi einmal formulierte. Als ich in Philips Büro saß und auf ein Gespräch über eine Promotion wartete, sah ich, eingerahmt an der Wand hängend, die zahlreichen Ablehnungsbriefe, die er von den Premier-League-Clubs (höchste Spielklasse im englischen Fußball) erhalten hatte, bei denen er sich im Scherz um vakante Managerpositionen beworben hatte. Schließlich redeten wir mehr über Fußball als über Mathematik.
Entscheidend für mein akademisches Weiterkommen war, dass Philip mir half, mich wieder mit der Biologie vertraut zu machen. Während meiner Promotion arbeitete ich unter seiner Aufsicht an allem Möglichen, ob es darum ging, wie Heuschrecken schwärmen und wie man sie daran hindern kann, bis zur Vorhersage der komplexen Choreografie, der die Entwicklung des menschlichen...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2021 |
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Übersetzer | Bernd Schuh, Monika Niehaus |
Zusatzinfo | Mit 35 Schwarz-Weiß-Illustrationen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Mathematik / Informatik ► Mathematik | |
Schlagworte | Buch • Bücher • Geheimnisse • Mathe Alltag • Mathebuch • Mathematik • Mathematische Rätsel • Mysterien • Statistik • Statistik falsch • the conversation • Wahrscheinlichkeit |
ISBN-10 | 3-492-99827-5 / 3492998275 |
ISBN-13 | 978-3-492-99827-7 / 9783492998277 |
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